Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Auf hoher See.

Morgen früh sollte die »Tacoma« Yokohama erreichen; der dröhnende Gongschlag hatte die Passagiere zum Abschiedsmahle in den festlich mit bunten Fähnchen und Laternen geschmückten Speisesaal gerufen.

Betäubendes Stimmengeschwirr erfüllte den prächtigen Raum, in dem, trotz der sich rastlos drehenden Luftschrauben, eine bedrückende Temperatur zu herrschen begann. Da die See völlig ruhig war, blieb an den Tischen kaum ein Platz unbesetzt. Über der Unterhaltung lag etwas wie Abschiedsstimmung, man saß zum letzten Mal zusammen und morgen zerstob die ganze fröhliche Gesellschaft, die hier der Zufall auf zwei Wochen zusammengeführt hatte, wieder in alle Winde. Naturgemäß wandte sich die Unterhaltung dem Lande zu, dessen so oft gepriesene Wunder man morgen sehen sollte. Die alten Globetrotter und mehrere Kaufherren, die in Ostasien ansässig waren, wurden von verschiedenen Seiten mit teilweise recht naiven Fragen über Japan und seine Bewohner bestürmt und um Ratschläge gebeten, wie man sich als Fremder dort einzurichten habe. Mit ruhiger Überlegenheit kramten sie ihr Wissen aus, und eifrige Damen notierten sich auf der Rückseite der Menukarte gewissenhaft jedes ihnen benannte Hotel und jeden Tempel und jeden Berg, dessen Besuch ihnen empfohlen wurde. In einzelnen Gruppen wurden Verabredungen für gemeinsame Unternehmungen im Inselreich des Tenno getroffen, anderswo wurden Finanz- und Handelsfragen erörtert, wobei jeder dem anderen durch besondere Kenntnisse zu imponieren suchte.

Hie und da wurde auch das Thema der Politik angeschlagen, und besonders die Gattin eines Handelsherrn aus Baltimore setzte dem ihr gegenübersitzenden Legationssekretär einer kleinen europäischen Gesandtschaft, der auf seinen Posten nach Peking reiste, stürmisch zu und suchte mit Gewalt hinter die Geheimnisse der hohen Politik zu kommen. Der Legationssekretär, der keine große Weisheit zu verraten hatte, half sich mit den Gemeinplätzen der Tagespolitik und entwarf seinem Gegenüber das bekannte Schema einer Kriegsgefahr zwischen Amerika und Japan. »Selbstverständlich,« erläuterte er von der Höhe seiner diplomatischen Erfahrung herab, »würden die Japaner in einem solchen Falle sich zunächst auf Manila stürzen und dort nach einem überraschenden Angriff einen Landungsversuch machen, der die größte Aussicht auf Erfolg hat. Zwar ist Manila durch gute Befestigungen gegen einen Handstreich geschützt, und die japanischen Kanoniere würden harte Arbeit bekommen im Kampfe mit den amerikanischen Strandbatterien. Und wenn Manila auch nicht verspricht, ein zweites Port Arthur zu werden, so dürften sich die Amerikaner dort doch wohl mindestens ein halbes Jahr gegen jeden japanischen Angriff halten können; inzwischen kann Amerika unter dem Schutze seiner Flotte Verstärkungen nach Manila entsenden und höchst wahrscheinlich wird es dann im malayischen Archipel zu einer entscheidenden Seeschlacht zwischen der japanischen und amerikanischen Flotte kommen, deren Ausgang …«

»Ich denke,« mischte sich eine junge Dame aus der Finanzwelt von Chicago naiv in das Gespräch ein, »ich denke, wir haben doch selber Schiffe auf den Philippinen.« Der Legationssekretär machte eine abwehrende Handbewegung und quittierte über diesen Einwurf mit einem nachsichtigen diplomatischen Lächeln. Er beherrschte doch das Feld, er mußte doch am besten der Zukunft das Horoskop stellen können. Und er behielt hier auch das Feld.

Sein Gegenüber war aber noch nicht zufrieden; mit der eben erhaschten Weisheit eröffnete sie einen neuen Angriff auf den neben ihr sitzenden deutschen Major, der über San Franzisko nach Kiautschou reiste. Der hatte dem Gespräche nur obenhin zugehört und das, was ihm hier entgegengebracht wurde, war ja auch so auf den Durchschnitt landläufiger Anschauungen abgestimmt, daß er sofort im Bilde war, als seine Nachbarin von ihm wissen wollte, wie er sich den Ausgang eines solchen Krieges vorstelle.

Die Frage war immerhin peinlich, und der Deutsche ließ sich aus Rücksicht auf seine Umgebung an Bord des amerikanischen Dampfers auch nicht aus seiner Reserve herausbringen. Er gab nur die Frage zurück, woher man die Garantie habe, daß Japan sich im Falle eines Konfliktes ausschließlich mit den Philippinen beschäftigen werde.

Der Legationssekretär hatte sich aus der Dunstwolke diplomatischer Selbstbewunderung allmählich wieder auf das Niveau gewöhnlicher Sterblicher zurückgefunden, und als er durch das Stimmengewirr und das Klappern der Teller die Gegenfrage des deutschen Offiziers vernahm, schüttelte er mißbilligend den Kopf und fragte über den Tisch hinüber: »Herr Major, liegt es nicht auf der Hand, daß Japan sich zunächst des Streitobjektes bemächtigen muß, nach dem es seit dem Pariser Frieden mit allen Mitteln strebt?«

»Ich kenne so wenig wie alle, die außerhalb der diplomatischen Kreise stehen, die Absichten und Hoffnungen der japanischen Regierung, glaube aber, daß wir in absehbarer Zeit mit dem Ausbruch dieses Konfliktes nicht zu rechnen haben. Es hat darum auch wohl wenig Zweck, sich die Kriegsmöglichkeiten im einzelnen auszumalen,« gab der Deutsche kühl zurück.

»Es gibt nur zwei Möglichkeiten,« sagte der neben dem Kapitän sitzende englische Großkaufmann aus Schanghai, ein Hauptaktionär dieser Ozeanlinie. »Nach meinen Erfahrungen …«, hier machte er eine kleine Pause, um diesen Erfahrungen die nötige Andacht und Aufmerksamkeit im Gespräche zu sichern, »… nach meinen Erfahrungen,« wiederholte er, »gibt es nur zwei Möglichkeiten. Japan ist übervölkert und muß den Überschuß seiner Bevölkerung nach außen abschieben. Das mandschurische Experiment ist verfehlt gewesen, dort inmitten der zahlreichen chinesischen Bevölkerung kann Japan nicht viel mehr Kleinhändler und Ansiedler ansetzen, als dort vor dem russischen Kriege bereits waren. Zu größeren Unternehmungen fehlte außerdem das Kapital. Japan braucht für seine Auswanderer feste Gebiete, wo es wie in Hawai,« hier warf er dem Kapitän einen ermunternden Blick zu, »seine Leute wirtschaftlich und politisch zusammenhalten kann. Die Auswanderung nach der Union ist ja seit Jahren durch Gesetze sehr stark beschränkt.«

»Und über die mexikanische Grenze laufen uns die Kerle in hellen Haufen ins Land,« brummte der neben dem Kapitän sitzende amerikanische Konsul, der auf seinen Posten nach Singapore zurückkehrte, dazwischen.

»Bleiben,« fuhr der Schanghaier unbeirrt fort, »die Inseln des Pacific, die Philippinen und eventuell Australien. Bei solchen Bestrebungen hat Japan es freilich sofort mit der Union und England zu tun. Die andere Möglichkeit, der überschießenden Bevölkerung im eigenen Lande Nahrung und Verdienst zu schaffen, ist die, eine japanische Großindustrie ins Leben zu rufen. Vielversprechende Anfänge sind hierzu gemacht worden, bei den Unsummen, die Japans Heer und Marine verschlingen, scheint es aber doch an dem nötigen Kapital zu fehlen.«

»Ich denke,« mischte sich jetzt der Kapitän ein, »es gibt auch noch eine dritte Möglichkeit, nämlich den Boden Japans mehr als bisher der Bebauung zu erschließen. Es ist doch bekannt, daß höchstens ein Drittel der Bodenfläche in Japan unter dem Pfluge steht, ein Drittel kommt wegen der Steinwüsten im Gebirge nicht in Betracht, aber das letzte heute völlig brach liegende Drittel würde, planmäßig bebaut, Millionen von japanischen Bauern eine neue Existenz schaffen. Aber hier haben wir es mit einem merkwürdigen japanischen Eigensinn zu tun, sie kaprizieren sich auf den Anbau von Reis, und wo in den höher gelegenen Distrikten kein Reis wächst, bauen sie überhaupt nichts an und lassen das Land ungenützt. Wenn hier Weizen, Mais und Futterkräuter angebaut würden, so würde das nicht nur Japan hinsichtlich seiner Lebensmittelzufuhr vom Auslande unabhängig machen, sondern auch, wie gesagt, die Ansetzung von Millionen japanischen Bauern ermöglichen; außerdem bekämen wir dann in Japan wenigstens ein menschenwürdiges Brot zu essen.«

Dem Legationssekretär schien diese Auffassung der japanischen Frage einen neuen Horizont zu eröffnen. Er lauschte gespannt den Worten des Kapitäns und warf fragende Blicke nach dem Schanghaier Kaufmann. Der war aber vollständig von der Bewältigung eines Fisches in Anspruch genommen, der mit seinem schier unglaublichen Reichtum an Gräten immer neue anatomische Rätsel aufgab. Statt des Schanghaiers spann der unwahrscheinlich dünne Dr. Morris aus Brighton, der tagelang kein Wort sprach und von dem die Sage ging, er besitze japanische Bronzen von geradezu märchenhaftem Werte und sei jetzt wieder zur Vervollständigung seiner Sammlung nach Hokkaido unterwegs, den Faden weiter. »Sie müssen nicht glauben,« sagte er, »was in der Zeitung steht. Wenn die Japaner nur bessere Landwirte wären, so würde kein Mensch in Japan zu hungern brauchen. Von einer Übervölkerung ist keine Rede. Und die Auswanderung ist nichts weiter wie ein Fieber, eine Krankheit, eine Mode, die von der Regierung in Tokio freilich politisch sehr geschickt ausgenutzt wird. Wer aber ernstlich von einer Übervölkerung Japans spricht, kopiert nur Leitartikel und kennt die Zustände des Landes nicht.«

So viel hatte Dr. Morris kaum in zwei Wochen an Bord der »Tacoma« gesprochen. Er freilich hatte Japan durch jahrelange Inlandreisen auf der Suche nach alten Bronzen gründlich kennen gelernt und wußte Bescheid. Seine Auffassung jedoch ging gegen den Strich der Tagespolitik, und wenn man seinen Worten auch achtungsvoll zugehört hatte, so verhallten sie doch wirkungslos.

Die Unterhaltung blieb bei dem Thema und wandte sich dann von neuem der Möglichkeit eines Konfliktes zu. Dadurch wurde der deutsche Offizier wieder der einzige, an den man sich mit militärischen Fragen wenden konnte; er hatte Mühe, diesen Wissensdurst zu befriedigen und wiederholte immer nur, daß der Krieg eine so unendliche Fülle von Möglichkeiten des Angriffs und der Verteidigung biete, daß es ausgeschlossen sei, von vornherein den Gang der Ereignisse vorauszubestimmen. Der Schanghaier unterhielt sich leise mit dem Kapitän über die japanische Spionage in Amerika und gab einiges darüber aus seinen Erfahrungen in China zum besten.

»Aber man kann,« unterbrach ihn der dem Schanghaier gegenübersitzende Sohn eines New Yorker Milliardärs, »einen Japaner doch auf den ersten Blick von einem Chinesen unterscheiden, ich verstehe nicht, wie man die japanischen Spione so überschätzen kann.«

»Wenn Sie es können, haben Sie viel vor gewöhnlichen Sterblichen voraus,« bemerkte der Engländer trocken, »ich kann es nicht, werde mir aber das Vergnügen machen, wenn Sie mich in Schanghai aufsuchen wollen, mit Ihnen einmal eine Probe anzustellen. Ich werde Ihnen gelegentlich die Aufgabe stellen, in einer Gesellschaft von lauter Chinesen, die ich einladen werde, mir einen japanischen Marineoffizier zu bezeichnen, der sich seit anderthalb Jahren in Schanghai mit einer geheimen, d. h. ganz offenen Mission aufhält.«

»Sie werden die Wette verlieren,« sagte der Kapitän zu dem New Yorker, »denn ich habe dieselbe Wette bereits unter denselben Umständen glänzend verloren.«

»Aber die Japaner tragen doch keine Zöpfe,« wandte der New Yorker etwas unsicher ein.

» Die Japaner tragen Zöpfe,« grinste ihn der Engländer an.

»Was ist denn das?« sagte der Kapitän und schaute unwillkürlich nach der Tür des Speisesaales. »Was ist denn das? Wir fahren ja halbe Kraft.«

Der dumpfe Pulsschlag der Maschine hatte in der Tat ausgesetzt und aus den stärker werdenden Schwingungen des Schiffes konnte, wer darauf achtete, fühlen, daß die Schraube nur ganz wenige Umdrehungen machte.

Der Kapitän stand unauffällig auf, um nach oben zu gehen, begegnete aber bereits in dem Gang zwischen den langen Stuhlreihen einem Manne der Besatzung, der ihm leise mitteilte, der erste Offizier bäte den Kapitän, auf die Brücke zu kommen.

»Wir fahren ja gar nicht mehr,« sagte jemand mitten am Tisch, »wir können doch nicht schon angekommen sein.«

»Vielleicht haben wir ein havariertes Schiff getroffen,« sagte eine junge Französin, »das wäre furchtbar interessant.«

Der Kapitän blieb verschwunden und das Diner nahm seinen Fortgang. Plötzlich dröhnte in das laute Stimmengewirr der dumpfe, heulende Ton der Dampfpfeife hinein und ließ die Unterhaltung ein paar Sekunden verstummen. Dann brummte die Dampfpfeife noch zweimal, und jetzt glaubte ein alter Globetrotter den Grund des Aufenthaltes entdeckt zu haben, indem er mit Bestimmtheit erklärte: »Das ist nun schon das dritte Mal, daß es mir auf der Fahrt nach Japan passiert, daß wir kurz vor dem Hafen noch in Nebel geraten, das letzte Mal hatten wir dadurch anderthalb Tage Verspätung. Ich kann Ihnen sagen, das war eine fürchterliche Quälerei, in dem grauen Dunst zu sitzen und stumpfsinnig das Ende des Nebels abwarten zu müssen, damals …« und nun gab er ein Paar Anekdoten von jener Fahrt zum besten, die der Unterhaltung an diesem Tische sofort das Thema Nebel vorwarf, das von ihr begierig aufgegriffen wurde. Man kam auf den Londoner und andere Nebel zu sprechen und beachtete es nicht, daß das Schiff jetzt überhaupt keine Fahrt mehr machte und allmählich schwerfällig auf und ab zu stampfen begann, was bei verschiedenen Damen schon den Erfolg hatte, daß sie aufhörten, sich an der Unterhaltung zu beteiligen und nervös mit den Dessertlöffeln spielten, da das graue Gespenst der Seekrankheit sich mit den stärker werdenden Schiffsbewegungen wieder in Erinnerung brachte.

Einige Herren waren aufgestanden und waren an Deck gegangen. Ein Kaufmann aus San Franzisko kam jetzt wieder herunter und erzählte seiner Frau, unfern der »Tacoma« liege ein fremdes Schiff, das die »Tacoma« mit dem Scheinwerfer beleuchte. Weshalb, wisse man nicht, da die Offiziere anscheinend ebensowenig sich den Vorgang erklären könnten wie die Passagiere.

Jetzt erschien der vierte Offizier, der am Kopfende einer der langen Tafeln seinen Platz hatte, im Speisesaal und von allen Seiten mit neugierigen Fragen bestürmt übermittelte er den Passagieren mit lauter Stimme vom Kapitän die Mitteilung, daß kein Grund zur Beunruhigung vorhanden sei. Ein fremdes Schiff beleuchte die »Tacoma« mit seinem Scheinwerfer, woraus zu schließen sei, daß es sich um ein Kriegsschiff handle, das wahrscheinlich irgendwelche Mitteilungen zu machen habe. Der Kapitän bitte die Passagiere, sich bei ihrem Diner nicht stören zu lassen. Sofort wurde ein neuer Gang serviert und man vergaß schnell den Grund der Störung, die Unterhaltung nahm wieder ihren gewohnten Gang.

»Aber wir fahren doch immer noch nicht,« sagte nach zehn Minuten eine junge Dame, die mit ihrem Gatten eine Tour um die Welt, ihre Hochzeitsreise, machte, »wir fahren doch immer noch nicht.« Der vierte Offizier gab eine ausweichende Antwort und vertröstete seine Nachbarin, aber das Schiff fuhr tatsächlich noch nicht. Hingegen kam wieder ein Mann der Besatzung herunter und flüsterte dem Offizier etwas zu, worauf dieser sofort wieder an Deck eilte.

Es war ihm eine förmliche Erleichterung, aus den von Essensdünsten gefüllten Speisesaal mit seinem lärmenden Stimmendurcheinander an die frische Luft zu kommen. Es war eine ganz andere Welt hier oben. Vom schweigenden Firmament herunter funkelten die Sterne und die milde Nachtluft wirkte belebend auf die von der Tageshitze erschöpften Nerven. Der vierte Offizier erklomm geschwinde die Kommandobrücke und meldete sich beim Kapitän.

Dieser erklärte ihm kurz und knapp: »Mr. Warren, ich verpflichte Sie, dafür zu sorgen, daß sich die Passagiere keine unnötigen Sorgen machen, lassen Sie die Musik ein paar Stücke spielen und das Diner nimmt ruhig seinen Fortgang. Sie werden an meiner Stelle eine kleine Ansprache an die Passagiere halten und in der üblichen Weise an das vergnügte Beisammensein während dieser Fahrt erinnern und ihnen in meinem Auftrage ein paar Abschiedsworte sagen. Wir sind,« fuhr er fort, »von einem japanischen Kriegsschiff angerufen und aufgefordert worden zu stoppen und ein Boot von dem Japaner zu erwarten. Was die Leute wollen, ist mir vollkommen unverständlich, aber wir müssen dem Befehl gehorchen. Die Sache wird sich ja sicher in ein paar Minuten, wenn das Boot hier ist, erledigen.

Der Offizier verschwand und der Kapitän erwartete, in der Backbordnock der Kommandobrücke stehend, mit gespannter Aufmerksamkeit die in voller Fahrt heransausende Dampfpinasse. Das Fallreep war bereits heruntergelassen. Eine scharfe Kurve beschreibend legte die Pinasse unten an, und sofort sprangen zwei Marinesoldaten mit übergehängten Gewehren unten auf die Plattform des Fallreeps.

»Nanu,« sagte der Kapitän, »ein Doppelposten! Was soll denn das!« Der japanische Offizier stieg aus der Pinasse und das Fallreep empor, gefolgt von vier weiteren Soldaten, von denen zwei oben den Eingang zum Fallreep besetzten. Die beiden anderen folgten dem Offizier auf die Kommandobrücke. Ein siebenter Mann entstieg der Pinasse und trug einen viereckigen Kasten auf die Kommandobrücke. Und schließlich schleppten zwei Soldaten einen schweren länglichen Gegenstand das Fallreep empor und setzten ihn an der Wand der Hinterdeckskajüte nieder.

Der japanische Offizier ließ die beiden Marinesoldaten an der Treppe zur Kommandobrücke Posten fassen und verwies den dritten mit dem viereckigen Kasten durch eine Handbewegung an die Backbordbrüstung. Der Offizier rief ihm gleichzeitig ein paar japanische Worte zu, worauf man sofort an dem Klappern des Mechanismus hörte, daß es eine Signallaterne sei, die dem Kriegsschiffe eine Meldung übermittelte.

»Das geht denn doch zu weit. Was soll diese Komödie?« rief der Kapitän der »Tacoma« und wollte den Mann mit der Laterne von der Reeling zurückreißen. Der japanische Offizier legte ihm aber die Hand fest auf seinen rechten Arm und sagte kurz und bestimmt: »Herr Kapitän, im Auftrage der japanischen Regierung erkläre ich den amerikanischen Dampfer »Tacoma« für eine gute Prise und seine gesamte Besatzung für Kriegsgefangene.«

Der Kapitän machte sich von der Berührung des Japaners los, trat einen Schritt zurück und rief dem Japaner zu: »Sie sind wohl verrückt, wir haben mit den Manövern der japanischen Marine absolut nichts zu tun und ich verlange, daß Sie Ihre Manöverscherze nicht zu weit treiben. Wenn Sie Flottenmanöver abhalten wollen, so tun Sie das gefälligst mit Ihren japanischen Handelsdampfern und lassen neutrale Schiffe unbehelligt.«

Der Japaner griff an seine Mütze und sagte: »Ich bedaure, Herr Kapitän, Ihre Auffassung, als ob es sich um einen Manöverscherz handle, berichtigen zu müssen. Japan befindet sich im Kriege mit den Vereinigten Staaten und jedes Handelsschiff unter der amerikanischen Flagge ist von jetzt ab gute Prise.«

Der Kapitän, ein Riese von Gestalt, wollte sich auf den kleinen Japaner stürzen, ergriff ihn und drängte ihn auf die Reeling zu, offenbar in der Absicht, den unverschämten Kerl einfach über Bord zu werfen. In diesem Moment sah er aber zwei japanische Gewehre auf sich gerichtet. Mit einem Fluche ließ er die Arme sinken und starrte die beiden japanischen Posten völlig frappiert an. Hinter ihm klapperte unaufhörlich die Signallaterne und jetzt wurde das bläulich-weiße Licht des Scheinwerfers vom Kriegsschiffe auf die Kommandobrücke der »Tacoma« gerichtet und übergoß die seltsame Szene wie mit fahlem Mondlicht. Gleichzeitig dröhnte ein Kanonenschuß über die ruhige Wasserfläche. Es schien wirklich ernst zu sein.

Von drunten aus den geöffneten Skylights des Speisesaales drangen die lauten cheer-Rufe, die nach der Rede des vierten Offiziers den Dank der Passagiere für den Kapitän der »Tacoma« zum Ausdruck brachten und sofort fiel die Musik mit den rauschenden Klängen des star spangled banner ein. Im Speisesaal war also anscheinend alles wieder Freude und Lustigkeit und man hatte vergessen, daß die »Tacoma« ja nicht mehr fuhr, daß sie aber gleich weiterfahren wollte.

Und während von unten die mächtige, begeisternde Weise zu Ehren des sternenbesäten Banners in die Nacht hinaustönte, erstiegen zwanzig japanische Marinesoldaten aus einer zweiten Pinasse das Fallreep der »Tacoma« und besetzten alle Eingänge, alle Türen an Deck, die nach unten führten; vor jeder ein Doppelposten mit geladenen Gewehren.

»Ich fordere Sie also auf,« sagte der japanische Offizier zum Kapitän, »die Führung des Schiffes unter meiner Aufsicht weiter zu behalten, Sie werden die »Tacoma« ihrem Fahrplane gemäß, in den Hafen von Yokohama führen, dort werden die Passagiere ohne jede Behelligung das Schiff verlassen und Sie und die Mannschaft werden Gefangene der japanischen Regierung sein. Was mit der Ladung geschieht, darüber entscheidet das Prisengericht. Daß das Privateigentum der Passagiere, des Kapitäns und der Mannschaft ihnen verbleibt, ist selbstverständlich. Sie haben jetzt eine Besatzung von zwanzig Mann an Bord der »Tacoma«, ich mache Sie jedoch darauf aufmerksam, wenn Sie etwa glauben, daß zwanzig japanische Matrosen nicht imstande seien, die »Tacoma« ausreichend zu sichern, und für den Fall, daß von Ihrer Seite oder von seiten der Mannschaft ein Widerstand versucht werden sollte, daß sich seit zehn Minuten auf dem Achterdeck der »Tacoma« eine starke Sprengmine befindet, deren Leitungskontakt von zwei Mann beobachtet wird, die den Befehl haben, bei dem ersten Zeichen einer ernsten Auflehnung den Kontakt zu schließen und die »Tacoma« durch Entzünden der Mine zu sprengen. Es liegt nur im Interesse der Ihrer Führung anvertrauten Passagiere, wenn Sie sich unseren Anordnungen ohne weiteres fügen und jede Widersetzlichkeit vermeiden, à la guerre comme à la guerre.«

Der Japaner griff salutierend an die Mütze und fuhr fort: »Sie bleiben auf der Kommandobrücke und behalten für die nächsten vier Stunden die Führung, worauf Sie durch den ersten Offizier abgelöst werden. Inzwischen kann dieser den Passagieren von der veränderten Sachlage Mitteilung machen.« Und mit einer Handbewegung zu dem ersten Offizier hin, der in stiller Wut dem Vorgang gefolgt war, fügte er kurz hinzu: »Bitte, mein Herr!«

Der sah fragend zum Kapitän hinüber. Dieser zauderte und sagte dann mit unterdrückter Erregung: »Hardy, gehen Sie hinunter und sagen Sie den Passagieren, daß die »Tacoma« durch einen unerhörten, heimtückischen Überfall in die Gewalt eines japanischen Kreuzers geraten ist, daß die Passagiere aber, da wir uns aus Rücksicht auf sie der Übermacht fügen müssen, unbehelligt bleiben werden und morgen früh in Yokohama mit ihrem Eigentum an Land gehen können.«

Hardys Sohlen schienen förmlich an den Stufen zu kleben, als er die Treppe hinunterstieg, und wie betäubt prallte er vor dem warmen Dunst am Eingang zum Speisesaale, wo ihn ausgelassener Lärm und eine lebhafte Unterhaltung entgegenschallte, zurück.

»Nun, wann geht's denn weiter?« rief man ihm von allen Seiten entgegen.

Mr. Hardy schüttelte stumm den Kopf und begab sich zum Platze des Kapitäns.

»Wir müssen mit Ihnen anstoßen,« rief man und hielt ihm die gefüllten Gläser entgegen, »wo bleibt der Kapitän?«

Hardy schwieg, blieb aber stehen und würgte an den Worten.

»Ruhe! Zuhören! Mr. Hardy will reden! …«

»… Ist auch höchste Zeit, daß der Kapitän etwas von sich hören läßt,« rief ein dicker deutscher Brauereibesitzer aus Milwaukee über die Versammlung hin.

» Three cheers for Mr. Hardy!« kam es aus einer Ecke, » Three cheers for Mr. Hardy!« echote es von einer anderen Seite zurück und dröhnend fiel der Chorus ein: » for he is a jolly good fellow …«

»Lassen Sie Mr. Hardy doch reden,« wandte sich der Legationssekretär mißbilligend um.

»Ruhe!« kam es von der anderen Seite zurück.

Das Stimmengeschwirr flaute ab und es trat Stille ein.

»Schenken Sie Mr. Hardy erst mal ein!« tönte irgendwoher eine Stimme. Jemand lachte ganz laut in das Schweigen hinein.

Hardy wischte sich den Schweiß von der Stirne und zwar mit der Serviette des Kapitäns, die dieser auf seinem Teller hatte liegen lassen.

» Shoking,« sagte ganz laut eine englische Dame, »unsere Seeleute wissen doch gar nicht, was sich gehört.«

Hardy stand immer noch wortlos da, dann begann er mit leiser stockender Stimme: »Der Kapitän läßt Ihnen mitteilen, daß die »Tacoma« soeben von einem japanischen Kreuzer gekapert worden ist. Die Vereinigten Staaten von Amerika sollen sich angeblich im Kriege mit Japan befinden. Eine japanische Besatzung ist bereits an Bord der »Tacoma« und hat die Kajüteneingänge besetzt. Der Kapitän bittet die Passagiere, sich der höheren Gewalt zu fügen und keinen Akt des Widerstandes zu begehen. Die Passagiere werden morgen früh in Yokohama mit ihrem Eigentum an Land gehen und …« Hardy suchte nach weiteren Worten, fand aber keine und setzte sich stumm aus seinen Stuhl.

» Three cheers for the Captain!« schollen jetzt vom letzten Tische dröhnende Rufe, die vereinzelt im Speisesaal aufgenommen wurden. Der deutsche Brauereibesitzer schüttelte sich vor Lachen und brüllte durch den Speisesaal: »Das ist ein ganz famoser Witz vom Kapitän, dafür verdient er einen Orden.«

»Lassen Sie doch den Unsinn,« wurde dem Brauer zugerufen. »Ja, aber ist das nicht ein ganz famoser Witz, so habe ich mich noch nie amüsiert auf der Fahrt.«

»Aber Mensch, halten Sie doch den Mund, das ist doch ernst.«

»Ho ho! Sie fallen auch darauf rein!« gab der Brauer wieder mit donnerndem Lachen zurück.

Ein amerikanischer Herr sprang auf und rief: »Ich hole meinen Revolver, mit den Kerls werden wir noch fertig,« und ihm schlossen sich andere an. »Ja, wir wollen die Revolver holen, die gelben Affen schmeißen wir über Bord!«

Jetzt sprang der deutsche Major von seinem Platze auf und rief mit scharfer Kommandostimme in die aufgeregte Tischgesellschaft hinein: »Aber bitte, meine Herren, die Sache ist ernst, es handelt sich um keinen Scherz, wie einzelne Herren zu vermuten scheinen, es handelt sich um keinen Scherz, verlassen Sie sich darauf.«

Hardy saß noch immer stumm auf seinem Stuhle. Der Engländer aus Schanghai überschüttete ihn mit Fragen und selbst der Legationssekretär trat aus seiner diplomatischen Reserve hervor.

Jetzt kamen die sechs Herren, die ihre Revolver hatten holen wollen, erheblich ernüchtert wieder in den Speisesaal und einer rief: »Es ist kein Scherz, oben stehen die Japaner mit geladenen Gewehren.«

Mehrere Damen schrien hysterisch auf und verlangten von ganz fremden Menschen, daß man sie in ihre Kajüte brächte. Alle waren von ihren Stühlen aufgesprungen, hier und da war man um einige Damen beschäftigt, die den bequemsten Teil gewählt hatten und sich der allgemeinen Aufregung durch einen Ohnmachtsanfall entzogen.

Hardy war wieder seiner selbst Herr geworden, wie auf einer Kommandobrücke stand er jetzt in voller Beherrschung der Situation hinter seinem Stuhle und erklärte kurz und bestimmt: »Ich bitte die Passagiere im Auftrage des Kapitäns, keinerlei Widerstand zu versuchen. Für Ihr Leben und Ihre Sicherheit bürgt Ihnen das Wort des Kapitäns und die Haltung der Mannschaft, die sich dem Unvermeidlichen fügt und der höheren Gewalt weicht. Ich bitte die Passagiere, hier versammelt zu bleiben und auf weitere Anordnungen von seiten des Kapitäns zu warten. Eine Gefahr liegt nicht vor, solange kein Akt der Widersetzlichkeit versucht wird. Wir befinden uns in der Gewalt der japanischen Marine und müssen den veränderten Umständen Rechnung tragen.«

Erst spät nach Mitternacht fand man an Bord der »Tacoma« Ruhe, die Passagiere waren in den Kabinen mit dem Packen ihrer Koffer beschäftigt und spät erst erlosch der Lichtschein in den langen Reihen der Bullaugen an beiden Bordseiten der »Tacoma«, die ruhig und majestätisch ihre Fahrt in der Richtung auf Yokohama fortsetzte. Das Deck, wo sonst in später Abendstunde noch ein fröhliches Leben und Treiben herrschte, war leer, und nur die leisen Schritte der japanischen Marinesoldaten hallten durch die stille Nacht.

Zweimal wurde die »Tacoma« noch mit Scheinwerfern angeblitzt, ein klappernder Lichtspruch mit der Signallaterne von der Kommandobrücke gab aber immer sofort Aufschluß darüber, daß hier bereits das Werk vollbracht sei, worauf dann die strahlenden Lichtkegel der Scheinwerfer lautlos wieder verschwanden und nichts auf der dunkeln Wasserfläche mehr davon Kunde gab, daß unsichtbare Augen überall nach jedem Schiff, dessen Kiel die Wogen durchfurchte, ausschauten. Am anderen Morgen traf die »Tacoma« in Yokohama ein, die Passagiere wurden an Land gebracht, und der Dampfer selbst wurde als Hilfskreuzer in die japanische Flotte eingereiht.


 << zurück weiter >>