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Das Echo in New York.

Walla Walla, den 7. Mai.

Heute morgen um 10 Uhr wurde die Station Swallowtown an der Oregonbahn von Banditen überfallen. Sie besetzten die Station, um den Expreßzug nach Umatilla anzuhalten und auszurauben. Der Stationsbeamte vereitelte durch seine Entschlossenheit diesen Plan, da er auf den vorüberfahrenden Zug sprang und die Passagiere warnte. Leider gelang es den Banditen zu entkommen. Die Polizei aus Umatilla hat ihre Verfolgung aufgenommen. Es heißt, daß die Mehrzahl der gut bewaffneten Bahnräuber Japaner gewesen seien.

In dieser Form übermittelte der Draht den Überfall der Station Swallowtown nach New York, und als John Halifax um Mitternacht das Redaktionsbureau des »New-York Daily Telegraph« aufsuchte, um das während des Sonntags eingelaufene Depeschenmaterial für die Morgenausgabe des Blattes zu bearbeiten, machte ihn sein Chef ganz besonders auf die Schlußbemerkung in der Meldung aufmerksam und wünschte im Anschluß daran einige Betrachtungen über die Gefahr der japanischen Einwanderung, die anscheinend wieder ungehindert über die mexikanische und kanadische Grenze hereinflute. John Halifax hätte lieber einige Betrachtungen über die Notwendigkeit der Nachtruhe für Zeitungsmenschen angestellt, machte sich aber dann mit einer stillen Wut über diese Strauchdiebe, die das doppelte Verbrechen der Sonntagsentheiligung und des Bahnraubes begangen hatten, an die Arbeit.

Aber kaum hatte er unter der Überschrift »Japanische Banditen – eine Gefahr nicht mehr an der Grenze, sondern im Herzen des Landes« mit seinem Artikel begonnen und war gerade daran, von dem düsteren Hintergrunde des Treibens dieser Räuberbande Toms wackere Tat sich umso heller abheben zu lassen, als ihm ein Pack weiterer Depeschen auf den Tisch gelegt wurde. Mürrisch wollte er ihn mit dem Arm beiseite schieben, als sein Blick auf das obenauf liegende Telegramm fiel, welches mit den Worten begann: »Heute morgen um 10 Uhr wurde das Stationsgebäude in Connel (Wash.) von Räubern überfallen, die …« »Donnerwetter,« sagte John Halifax, »das scheint einen Zusammenhang zu haben, denn in Connel hat man es anscheinend auch auf den Expreß abgesehen gehabt.« Er blätterte weiter, die nächste Meldung begann wieder: »Heute morgen um 11 Uhr …« dann folgten zwei weitere: »Heute Mittag um 12 Uhr …« und überall handelte es sich um das meist erfolgreiche Aufhalten von Eisenbahnzügen. John Halifax stand auf und ging mit dem ganzen Bündel Depeschen an die an der Wand hängende Karte und markierte mit Bleistift die Stellen, wo die verschiedenen Überfälle stattgefunden hatten. Das ergab eine unregelmäßig im Staate Washington von Norden nach Süden verlaufende Linie, auf der diese anscheinend doch zusammenarbeitenden Banden von Eisenbahnräubern gleichzeitig ihr Werk begonnen hatten. Nirgends war man der Räuber habhaft geworden.

John Halifax versenkte seinen angefangenen Artikel wieder in den Papierkorb. Er begann dann von neuem unter der Überschrift: »Eine Bande von Eisenbahnräubern in Washington an der Arbeit« und zählte zunächst die Orte auf, wo diese Korporation von Bahnräubern die Züge angefallen hatte. Es wurde ein schwungvoller Artikel daraus, der mit der Mahnung an die Polizeibehörden in Washington und Oregon schloß, schleunigst dem Unwesen, nötigenfalls unter Mitwirkung der Militärposten, ein Ende zu machen und den Banditen nachdrücklichst das Handwerk zu legen. Während John Halifax schrieb, teilte draußen der elektrische Projektionsapparat in Flammenschrift diese Meldungen den Einwohnern New Yorks mit, die noch in später Nachtstunde die Straßen durcheilten.

John Halifax überlas noch einmal das Ganze und war zufrieden, zufrieden damit, daß der »New York Daily Telegraph« seinen Lesern Montag früh mit einer faustdicken Sensationsmeldung aufwarten konnte. Als John Halifax zu Ende war, fiel es ihm auf, daß alle diese Überfälle sich gegen Eisenbahnzüge gerichtet hatten, die von Westen nach Osten fuhren, und daß nur in Swallowtown ein Zug in der Richtung von Osten nach Westen angefallen war. Er wollte zum Schlusse noch eine tiefsinnige Bemerkung über diese Tatsache machen, vergaß es aber wieder, gähnte, warf seinen Artikel in den Kasten neben seinem Schreibtisch, tippte auf einen Kopf, worauf der kleine Lift lautlos das Halifaxsche Geistesprodukt in sich einschlürfte; dann gähnte der Verfasser noch einmal, ging noch hinüber zu seinem Chef, sagte ihm, daß er fertig sei, knurrte einen unwirschen »Guten Morgen« und ging dann heim.

Als er das Redaktionsgebäude verließ, sah er dort dasselbe Schauspiel, welches er seit Jahren Nacht für Nacht erlebt hatte: drüben auf der anderen Seite der Straße ein Haufen Menschen, die den Kopf im Nacken zu der weißen Glasscheibe hinaufstarrten, auf der gerade von neuem in Riesenschrift die Nachricht erschien, wie Tom durch seinen kühnen Sprung den Zug gerettet hatte. Die Schlußbemerkung, daß es sich um japanische Räuber gehandelt habe, löste kräftige Verwünschungen gegen die » damned japs« aus.

Lautlos und unermüdlich zeichnete hoch oben in der Luft der Projektionsapparat in schwarzen Lettern eine Meldung nach der anderen auf die riesige weiße Fläche, einen Eisenbahnüberfall nach dem anderen. Von der lebendigen Maschine aber, die im fernen Westen langsam ein Kettenglied an das andere fügte, die mit der Genauigkeit eines Uhrwerkes arbeitend, um diese Stunde schon drei Staaten der Union durch eine undurchdringliche Scheidewand abgetrennt hatte und das Licht dreier Sterne aus dem blauen Felde der Unionsflagge auslöschte, von dieser unheimlichen Maschine hatte weder John Halifax eine Ahnung noch die späten Wanderer auf der Straße, die gegenüber der Stelle, wo sich die schwarzen Umrisse des Zeitungsgebäudes gegen den von huschenden Wolken überschatteten hellen Nachthimmel abzeichneten, noch eine letzte Sensation mit auf den Heimweg nehmen wollten. Erst am nächsten Morgen sollte man erfahren, was diese ersten flammenden Wetterzeichen zu bedeuten gehabt hatten.

*

Um 10 Uhr rasselte und lärmte der Telephonapparat neben John Halifax' Bett. Er ergriff den Hörer und brummte einen Fluch, als er die unwillkommene Nachricht vernahm, wichtige Depeschen machten seine Anwesenheit auf der Redaktion erforderlich. »Nun, die Eisenbahnräuber könnte eigentlich Harry Springley weiter verarbeiten, dazu braucht man mich doch nicht. Aber der Mensch weiß sich wahrscheinlich wieder nicht zu helfen.« Als John Halifax eine Stunde später wieder die Redaktion des »New-York Daily Telegraph« betrat, fand er seine Kollegen in hellster Aufregung. An dem lauten Wortwechsel im Konferenzzimmer erkannte er sofort, daß etwas Außergewöhnliches vorliegen müsse. Sein Chef klärte ihn schnell darüber auf, daß vor einer Stunde die inzwischen durch Extrablatt verbreitete Nachricht eingetroffen sei, daß nicht nur alle Meldungen von der Westküste, insbesondere von San Franzisco fehlten, sondern daß auch der kanadische Telegraph die merkwürdige Nachricht übermittelt habe, daß am gestrigen Sonntag in Port Townsend ein fremdes Kriegsgeschwader beobachtet worden sei, welches durch den Puget Sound seine Fahrt auf Seattle fortgesetzt habe. Außerdem war von Walla-Walla aus gemeldet worden, die Drahtverbindung mit Seattle, Tacoma und Portland sei seit Sonntag Mittag unterbrochen. Eine Anfrage über den kanadischen Telegraphen nach Seattle und Tacoma sei ebenfalls vergeblich gewesen, andererseits meldete Ogden, daß von Westen, aus der Richtung von San Franzisco, seit Sonntag Mittag alle Züge ausgeblieben seien und daß der Mittagsexpreß diesseits Reno von Banditen überfallen worden sei, unter denen man wiederum Japaner bemerkt haben wollte.

John Halifax dachte an gestern Abend, wo schon in der ersten Meldung über Toms Abenteuer von Japanern die Rede gewesen war und blitzschnell fügte sich in seinen Gedanken eine Nachricht an die andere, und nachdem er auf dem Extrablatt die einzelnen Meldungen rasch überflogen hatte, sagte er nach kurzem Zaudern mit einer ihm selber seltsam hart erscheinenden Stimme leise und bestimmt zu seinem Chef: »Ich denke, das ist der Krieg.« Der schlug in seiner burschikosen Weise John Halifax mit der Faust zwischen die Schulterblätter und rief ihm dröhnend zu: »John Halifax, wir führen doch keinen Krieg gegen die Japaner.« »Aber sie gegen uns,« versetzte John Halifax.

»Glauben Sie an einen japanischen Überfall?« fragte der Chef, John Halifax mit großen Augen anstarrend.

»Glauben, oder nicht glauben,« sagte dieser, »darauf kommt es nicht an.«

»Ja, die japanische Flotte liegt vor unserer Westküste, daran ist wohl kein Zweifel möglich,« mischte sich ein anderer Kollege ein.

Halifax blickte auf. »Und steht mitten in unserm Lande.«

»Die Flotte?« witzelte Harry Springley.

»Nein, der Feind,« antwortete Halifax kühl, »die sogenannten Banditen,« ergänzte er dann ironisch.

»Aber wenn Sie wirklich meinen? …« fing der Chef wieder an, »dann ist es ja ein Riesenplan. Wenn Sie glauben, daß die Banditen, die Japaner …« verbesserte er sich.

»Die japanischen Vorpostenlinien,« warf Halifax dazwischen.

»Nun ja, die japanischen Vorpostenlinien, wenn die bereits alle Eisenbahnverbindungen nach dem Westen unterbrochen haben, dann steht der Feind ja nicht mehr an der Küste, sondern …«

Wieder eine neue Meldung, ein Stenograph stürmte mit ihr ins Zimmer. Der Chef überflog sie und gab sie Halifax, der nahm das Papier in beide Hände und während alles um ihn verstummte, las er laut folgende Depesche aus Denver vor:

 

»Nach vorläufig unbestimmten Meldungen handelt es sich bei dem Überfall auf Eisenbahnzüge am Sonntag nicht um zufällige Taten von Räuberbanden sondern um das plötzliche und ganz unerklärliche Auftauchen geschlossener japanischer Truppenkörper im Lande. An der Union Pacific sollen nicht nur einzelne Stationsgebäude, sondern bereits ganze Städte von feindlichen Abteilungen besetzt worden sein, wobei die Einwohner völlig überrascht wurden, so daß an keinen Widerstand mehr gedacht werden konnte. Ein Gerücht will wissen, daß es in San Franzisco zu einem Kampfe zwischen japanischen Schiffen und den Küstenwerken gekommen sei. Das gemeinsame Zusammenarbeiten aller einzelnen Abteilungen an den Bahnlinien dürfte den Westen der Union zurzeit völlig vom Telegraphenverkehr abgeschnitten und außerdem sämtliche Eisenbahnlinien unterbrochen haben.«

 

In John Halifax' Händen zitterte das Papier der Depesche, er strich sich durch die Haare und sah dann seinen Chef an. Der wiederholte nur tonlos Halifax' Worte von vorhin: »Meine Herren, das ist wirklich der Krieg.«

John Halifax raffte die Depeschen zusammen und ging schweigend in sein Zimmer, wo er sich schwerfällig an seinem Schreibtisch niederließ und den Kopf voll wirbelnder Gedanken stumm in die Hände stützte, schweigend vor sich hinblickend. »Das ist der Krieg,« wiederholte er leise. Dann griff er mechanisch zur Feder und wollte schreiben, aber nichts, kein Wort, keine Zeile entstand unter dem Eindruck dieser tobenden Empfindungen. Unfähig, einen Satz zu konstruieren, malte er Kreise und sinnlose Figuren auf die weiße Papierfläche, sah gleichgültige Worte entstehen, strich sie wieder aus und sagte nur immer wieder: Das ist der Krieg.

Draußen auf den Korridoren hasteten Leute vorbei, jemand faßte an den Türgriff seines Zimmers, er stand auf und schloß ab. Er setzte sich wieder hin. Durch die weit geöffneten Fenster wehte die frische, sanfte Luft herein und das dumpfe Brausen der Volksmenge, die sich bereits in unabsehbaren Massen auf der Straße staute, scholl minutenlang anschwellend und dann wieder nachlassend herauf. In Gedanken sah John Halifax überall fern im Westen die emsigen, betriebsamen Asiaten den Boden seines Vaterlandes wie mit einer gelben Flutwelle überschwemmen. Er sah die grauen Schiffe Togos mit dem Sonnenbanner Nippons die Fluten des Pacific durchfurchen und er sah das riesengroße, farbenfrohe Bild des gewaltigen Völkerringens, er sah auf den Steppenweiten der Prärie die Kriegsgeschwader gegeneinander prallen, er sah in der Sonne flimmernde Bajonette und sah blinkende Reitermassen über das kahle Blachfeld dahinrasen. Er sah hoch oben in der Luft über den Riesenharsten beider Heere, die knirschend gegeneinanderfuhren, die weißen Rauchwirbel platzender Geschosse, er sah das gigantische Drama des Völkerkrieges heraufziehen, unter dem die Erde in ihren Fugen bebte, und in glühender Begeisterung griff er jetzt zur Feder, jetzt hatte er sich wiedergefunden.

Da versank das alles in Staub, es war, als ob die Sonne verlösche, ein dunkler, kalter Schatten fiel über das leuchtende Phantasiebild, in aschgrauer Dämmerung verblaßten die Farben, und schwer fiel es John Halifax auf die Seele, daß es ja nicht ein Krieg, irgend ein Krieg, nein, daß es sein Krieg, der Krieg seines Volkes sei, ein bitteres Ringen, in das man schlecht gerüstet hineingehen mußte. Da fröstelte es John Halifax und der sturmerprobte Mann legte den Kopf auf beide Arme und weinte bitterlich. Die seelische Erschütterung war zu groß gewesen, und vergeblich rüttelte man an seiner verschlossenen Zimmertür. Es dauerte eine ganze Weile bis John Halifax seine Fassung wiedergewann. Dann hob er stolz und tapfer das Haupt und ging festen Schrittes zur Tür und traf draußen mit der Ruhe eines schlachtgewohnten Feldherrn seine Anordnungen für den Redaktionsbetrieb.


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