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Alte Schulden.

Am andern Morgen fuhr Horace schon sehr früh nach Aarburg und bat Schweinsberg, ihm das Geld zu leihen. Dieser war denn auch sogleich dazu erbötig und schickte es ihm noch am Nachmittage zu. Er hatte es sich auf die einfachste Weise verschafft, indem er nach Behrslappen hinüber geritten war und es sich von Lehmhof geholt hatte, Horace aber glaubte, daß Schweinsberg sich seinetwegen große Mühe gegeben habe, und war ihm daher für den geleisteten Dienst unendlich dankbar. Er verschwieg seine Erlebnisse so sorgfältig, daß weder die Mutter, noch Markhausen, noch auch selbst Madeleine Etwas von ihnen erfuhren; aber er sprach von Schweinsberg fortan immer nur sehr warm und mit großer Hochachtung.

Als Heinz nach etwa acht Tagen aus Deutschland zurückkehrte, wurde, wie er das gewünscht hatte, seiner Reise mit keiner Silbe gedacht und er selbst beobachtete über dieselbe auch dem Freunde gegenüber vollständiges Schweigen. Er schien nur von dem Gedanken beherrscht zu sein, sich um jeden Preis Arbeit zu verschaffen, und als Horace ihm von der Absicht Lehmhofs in Bezug auf die eventuelle Abtretung Endhofs erzählte, war er sichtlich erfreut und fuhr noch an demselben Tage mit Horace nach Behrslappen. Wenn er weniger von dem einen Gedanken, in einer anstrengenden Thätigkeit Vergessen der Vergangenheit zu finden, beseelt gewesen wäre, so würde er sich von der Persönlichkeit Lehmhofs sicherlich zurückgestoßen gefühlt haben und er hätte sich wohl gefragt, wie es zugegangen sei, daß er bei Lebzeiten seines Vaters und nachher nie Etwas von der intimen Freundschaft zwischen diesem und Lehmhof gehört hatte; so aber hielt er sich nur an Endhof. Man fuhr sofort nach Endhof. Es lag zwischen Bachhof und Aarburg am Fluß und sah so baumlos und freudlos aus, wie nur irgend eines unserer Kronsgüter, auf welchem seit vielen Generationen keine Standesperson gewohnt hat. Als sie nach Behrslappen zurückgekehrt waren, vertieften sie sich dann in die Wirthschaftsbücher, welche Lehmhof mit seinem fetten Lächeln vor ihnen ausbreitete.

Die Bücher wiesen aus, daß die von ihm geforderte Abtragssumme allerdings eine sehr mäßige war, denn Endhof war nach ihnen ohne Zweifel das relativ einträglichste Gut am ganzen Flusse. Es war kein Wunder, daß Horace sich ganz erstaunt fragte, wie es denn zugehe, daß sein schönes Parkhof verhältnißmäßig so geringe Erträge abwerfe und sich in der Meinung bestärkte, daß Markhausen ein Luxuslandwirth sei.

»Sie werden sich,« sagte Lehmhof erläuternd, »vielleicht wundern, daß eine Wirthschaft, welche so wenig verspricht, so große Erträge abwirft, allein Sie haben es hier mit Ursache und Wirkung zu thun. Eben weil ich nicht auf das Aeußere Gewicht lege, sondern auf die Sache, eben weil ich mich nicht an den Schein, sondern an das Wesen halte, komme ich vorwärts, und Sie werden gut thun, meine Herren, meinem Beispiele zu folgen. Es liegt jetzt in der Luft, sogenannte Meliorationen einzuführen, und man glaubt Großes erreicht zu haben, wenn die Felder reiche Ernten abwerfen und das Vieh sich stattlich ausnimmt. Was ist aber damit erreicht, wenn mir die Düngung und die Bearbeitung der Felder mehr kostet, als sie mir einbringen und ich bei jeder Kuh und jedem Kalbe zusetzen muß? Solch eine Wirthschaft weist große Einnahmen auf, aber wo bleiben sie? Sie gehen wieder in die Wirthschaft zurück. Solche Wirthschaften verstoßen gegen die Nationalökonomie und, ich bitte Sie, meine Herren, wer vermag etwas gegen die Nationalökonomie?«

Lehmhof saß, während er diese Worte redete, vor seinem Schreibtische. Heinz und Horace nahmen jeder einen Stuhl zur Seite ein, blickten in die Bücher und hörten dem Lehmhofschen Redeflusse, der immer stärker strömte, zu. Lebrecht wärmte seine hageren Glieder am Ofen, während ein großer, schwarz und weiß gefleckter Hühnerhund, der in einer Ecke auf einem Strohsacke lag, von Zeit zu Zeit aufstand, laut gähnte und sich dann wieder hinstreckte.

»Man behauptet,« fuhr Lehmhof fort, »daß der Boden einen um so größeren Ertrag abwerfen müsse, als er stärker gedüngt und tiefer gepflügt werde. Das ist ein Unsinn, sag' ich, und eitel Unverstand, sag' ich und ein Kind kann das einsehen, sag' ich. Wenn ich eine Lofstelle Land stark dünge und z Fuß tief aufpflüge, so wirft sie mir x Lof Getreide ab. Ich sage x Lof, weil man solche Dinge immer aus dem Gebiete des täglichen Lebens in das der Mathematik, der Algebra, erheben muß, sag' ich. Dadurch bekommen sie erst einen allgemeinen Werth. Also, sag' ich, von der Lofstelle ernte ich, bei einer Düngung, die wir y nennen wollen (um der Algebra willen, meine Herren) und bei einer Pflugtiefe von z, x Lof Getreide. Wenn ich nun y verhundertfache und z verhundertfache, würde ich dann wohl auch 100 x ernten? Oder wenn ich statt hundert – tausend setze, würde sich x wohl vertausendfachen? Sie sehen, die Meliorationen sind gegen die Gesetze der Nationalökonomie und halten vor der Algebra nicht Stich.«

»Nun ja, übertrieben dürfen sie freilich nicht werden,« sagte Heinz und sah von seinem Buch auf.

»Das ist es eben,« rief Lehmhof. »Sie haben ganz Recht, aber man übertreibt sie ganz allgemein. Der Bachhöf'sche übertreibt sie, die meisten Herren übertreiben sie und Markhausen übertreibt sie ganz ungeheuer.«

Das, was Lehmhof sagte, erschien den jungen Leuten ganz plausibel, zumal Heinz, der sich entsann, daß im Hause des Pastors seinerzeit oft davon die Rede gewesen war, wie der Adel der Gegend nach dieser Richtung hin zu weit gehe. Der Behrslappen'sche hatte freilich damals, wie Heinz sich allmählig entsann, im Pastorat immer eine überaus ungünstige Beurtheilung erfahren, aber Heinz war nicht in der Stimmung, darauf großes Gewicht zu legen. Dazu kam, daß der Gedanke, ein verwahrlostes Heimwesen zu übernehmen, für ihn kaum etwas Abschreckendes hatte, denn es verlangte ihn ja nach Hindernissen, die zu überwinden waren, nach Verhältnissen, die seine ganze Kraft in Anspruch nehmen mußten. So fuhr er denn mit dem Entschlusse, Endhof jedenfalls zu übernehmen, nach Hause.

Obgleich er sich nun mit dem besten Rathgeber, den er in diesem Falle haben konnte, mit dem Parkhöf'schen Pastor nämlich, überworfen hatte, so blieb er doch nicht ganz ungewarnt. Onkel Konrad, der von der Landwirthschaft freilich nichts verstand, warnte ihn vor dem Manne, mit dem er es zu thun bekam, aber sein Urtheil erschien Heinz, als das eines Laien, nicht competent; Markhausen spielte Horace gegenüber darauf an, daß die Abtragsumme, welche Lehmhof verlangte, eine ganz unerhört hohe sei, aber seine Meinung schien durch persönliche Feindschaft gegen Lehmhof und vielleicht auch durch Eifersucht wegen der einträglicheren Wirthschaftsmethode des Behrslappen'schen beeinflußt; Frau Irene schrieb, daß ihr Bruder Nichts von dem Unternehmen wissen wolle, aber beide kannten ja nicht die Details und konnten daher nicht als Sachverständige gelten. Der Aarburg'sche, der vielleicht Heinz über den Behrslappen'schen die Augen geöffnet hätte (vielleicht, je nach Stimmung) war eben damals nicht zu Hause, sondern jagte irgendwo im Oberlande und so griff denn Heinz zu.

Als der erste Schnee gefallen war, fuhr Heinz eines Tages mit dem Behrslappen'schen, der es fast noch eiliger hatte als er, zur Stadt und schloß mit ihm einen Contract ab, nach welchem Herr von Lehmhof dem Herrn Eichenstamm das Kronsgut Endhof vom Georgitage des folgenden Jahres ab bis zum Ablauf der Arrendejahre in Afterpacht übergab, wofür er seinerseits die Summe von so und soviel Rubeln erhielt. Zugleich kaufte Heinz das lebende und todte Inventar und somit war denn der Rubicon überschritten und es gab für ihn kein Zurück mehr.

An dem Tage, der auf den Abschluß des Contractes folgte, beschloß Frau von Balteville, die gute Schlittenbahn und den Vollmond zu benutzen und in Bachhof, wo sie bisher nur eine Visite gemacht hatte, einen Abendbesuch abzustatten. Heinz schloß sich den Baltevilles an und so fuhr denn die ganze Gesellschaft hinüber.

In Bachhof hatte man mittlerweile unruhige Tage verbracht, denn der Baron und die Baronin hatten Schulsorgen und die jungen Mädchen waren nicht ruhiger als sie.

Eines Tages hatte die Baronin ihren Gemahl in ihrer ruhigen, bestimmten Weise darauf aufmerksam gemacht, daß es die höchste Zeit sei, mit dem Unterricht in der Volksschule zu beginnen, da aber keine Aussicht sei, daß das Schulhaus noch im Herbste fertig werde, so müsse man sich nach einer andern Räumlichkeit umsehen. »Da uns nun,« fuhr sie fort, »kein anderes Local zur Verfügung steht, so werden wir den Unterricht im Saale ertheilen lassen müssen, und ich habe daher den Befehl gegeben, Alles in demselben so herzurichten, daß Herr Jurkiewitsch gleich morgen mit dem Unterrichte beginnen kann. Der Wagger hat den Auftrag erhalten, die Wirthe davon in Kenntniß zu setzen, damit die Kinder morgen hier sind.«

Nun war der Baron ein so wohlwollender und um das Wohl seiner Bauern so sehr besorgter Herr, wie nur irgend ein Gutsbesitzer im Lande und die Schule war speciell sein Lieblingskind, wie denn unsere Heimath überhaupt die ebenso seltene als erfreuliche Erscheinung zeigt, daß ihr gesammtes Volksschulwesen, ohne allen äußeren Zwang, bloß durch die Initiative seiner Geistlichkeit und durch den humanen und opferwilligen Sinn seiner Gutsbesitzer entstanden ist. Trotzdem erschrak er bei dem Gedanken, seinen Saal den ganzen Winter über der Schuljugend einzuräumen.

»Liebe Eleonore,« sagte er, »sollte das nicht etwas zu rasch gehandelt sein? Sollten wir nicht ein Mittel ausfindig machen können, die Schule beginnen zu lassen, ohne ihr gerade unseren Saal einzuräumen?«

»Schön! Welches?« fragte Frau Eleonore und sah ihren Gemahl so unbefangen an, als ob sie wirklich erwartete, daß derselbe mit einem positiven Vorschlage hervorrücken werde.

Der Baron schüttelte mißmuthig den Kopf und rollte in großer Verlegenheit die Enden seines langen, weißen Schnurrbartes um seinen Zeigefinger.

»Könnte man ihnen nicht die Herberge einräumen, mein Täubchen?« fragte er endlich.

»Schön! Welches Zimmer?«

»Wie? Welches Zimmer? Nun, das läßt sich in der That so rasch nicht sagen, aber ich denke, es müßte sich doch Raum schaffen lassen. Wie wäre es mit dem Brauhaus?«

Die Baronin schüttelte den Kopf. »Ich habe an alle diese Möglichkeiten bereits gedacht,« sagte sie, »aber es geht nicht anders, als daß wir den Saal hergeben.«

»Aber unsere Kinder könnten doch einmal tanzen wollen?«

»Schön! So mögen sie im Speisesaale tanzen. Die Schule darf durch solche Bedenken nicht verzögert werden, Gustav. Jurkiewitsch ist engagirt, die Leute haben sich einmal darauf gefaßt gemacht, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Wir haben ihnen die Schule versprochen und wir müssen unser Versprechen halten.«

Der Baron blickte ärgerlich zum Fenster hinaus, dann sah er auf seine Gemahlin. Ihr Körper sah so voll und fest aus und ihre Haltung war so gerade, daß die Hoffnung, sie würde sich durch Bitten von ihrem Entschluß abbringen lassen, dem Baron wie reine Tollheit vorkam. Er küßte ihr daher die schneeweiße, volle Hand und sagte: »Wie Du willst, meine Liebe.«

Er hatte ihr gegenüber ein sehr schuldbewußtes Gefühl und er war ihr unendlich dankbar, daß sie nicht auf die verspielten 500 Rubel hindeutete.

»Sie ist prächtig energisch,« murmelte er nachher, während er einen Gang zur Riege machte, »und sie ist tadellos nobel. Ich kann nicht stolz genug auf sie sein.«

Trotzdem konnte er sich mit dem neuen Arrangement durchaus nicht befreunden, denn die Schule im Saal erschien ihm als eine gar zu arge Neuerung.

Nun wußte er, daß es noch ein Mittel gab, um bei der Baronin einen Aufschub zu bewirken, aber dieses Mittel bestand in der schleunigen Beschaffung von 500 Rubeln. Ihm ging der Gedanke durch den Kopf, Horace um das Geld zu bitten, aber er verwarf ihn sogleich, weil er wußte, daß Horace sich zu der Bitte nicht unbefangen verhalten konnte, da er ihm Dank schuldig war.

Am folgenden Morgen zogen wirklich Herr Jurkiewitsch und seine Schüler in den Saal ein und der Baron mußte gute Miene zum bösen Spiele machen. Erst als die Eltern der Schüler, welche ihre Kinder am ersten Schultage begleitet hatten, nicht müde wurden, sich bei ihm für das große Opfer, das er ihnen bringe, zu bedanken, fand er einige Entschädigung für den Verdruß, obgleich es ihm andererseits unendlich peinlich war, den Leuten den wahren Grund für die Verzögerung des Baues nicht nennen zu können und zu allerlei Vorwänden seine Zuflucht nehmen zu müssen.

Der Werth des Geldes, jenes Metalles, das er nach Art des Schweinsberg'schen Geschlechts so gründlich verachtete und das er doch so sehr entbehrte, wenn er es nicht besaß, wurde ihm wieder einmal so recht klar, und er nahm sich wieder einmal fest vor, von jetzt an keine Karte mehr zu berühren. In Folge dieses Entschlusses vermied er es denn auch, mit Lehmhof zusammenzukommen.

Die Baronin ihrerseits war mit der Schuleinrichtung ganz zufrieden, denn dieselbe erschien ihr einmal als eine stete angenehme Erinnerung daran, daß Eleonore Schweinsberg jede Sache, die sie in Angriff genommen, auch zu Ende führte, andererseits aber auch als ein äußerer, sehr passender Ausdruck ihrer vorurtheilsfreien Anschauung. Trotz dieses Pflasters blutete die Wunde, welche der rückwärtsgehende Wohlstand in der Seele der stolzen Frau stets von Neuem aufriß und erweiterte, nur immer heftiger und in ihrem Herzen schrie, ohne daß sie sich dessen bewußt wurde, eine Stimme nach Geld, Geld und abermals Geld!

Wenn der Baron und seine Frau innerlich voll Unruhe und Mißmuth waren, so hatten die jungen Mädchen nicht weniger Kummer und Sorge. Während Duding immer wieder von Neuem den schweren Kampf mit ihrem Herzen kämpfte, welches den rohen und doch so heiß geliebten Vetter nicht lassen wollte, verlebte auch Adelheid die Tage wie auf der Folter. Was hatte es zu bedeuten, daß Heinz sie so vollständig ignorirte? Hatte Otto Schweinsberg richtig vermuthet und war Heinz wirklich mit Madeleine verlobt oder liebte er sie wenigstens?

So wie sie Heinz und ihr früheres Verhältniß zu ihm ansah, konnte sie es nicht für möglich halten, daß er sie wirklich vergessen habe und noch weniger, daß er es in diesem Fall nicht für nöthig hielt, sie von der Aenderung seiner Gefühle in Kenntniß zu setzen. Und doch mußte dies der Fall sein, denn warum kam er nicht? Wenn er nicht kommen wollte, warum schrieb er nicht? Sie kannte sein leidenschaftliches, ungezügeltes Wesen nur zu gut, – war es doch ihr eigenes – um sich nicht zu sagen, daß er es nicht so lange in ihrer Nähe ausgehalten hätte, ohne sie zu sehen, wenn er sie noch liebte.

Seit sie wußte, daß er wieder im Lande sei, hatte sie keine ruhige Stunde gehabt. Eine unerträgliche Unruhe trieb sie umher, die sie vergeblich durch angestrengte Arbeit zu bewältigen suchte. In Gegenwart der Anderen war sie noch vorlauter als sonst, lachte sie noch mehr als sonst, aber ihr überwachtes Aussehen und ihr unstetes Wesen verriethen dem scharfen Auge der Baronin ihren Zustand und erregten deren mitleidige Theilnahme.

Adelheid war im Pastorate und in der Stadt gewesen und hatte dort davon gehört, daß Heinz Landwirth werden wolle; daß er ganz plötzlich in's Ausland gereist sei; dann, daß er Endhof zu pachten beabsichtige. Was hatte das Alles zu bedeuten? Wo wollte das Alles hinaus?

Wenn der endlos lange Tag endlich zu Ende war und Adelheid immer vergeblich durchs Fenster geschaut hatte und wenn dann auch der Abend dahin geschlichen war, dann setzte sie sich an ihren Tisch und schrieb einen Brief nach dem andern an Heinz, um die in der Nacht geschriebenen Briefe am Morgen wieder zu zerreißen. Sehnte sie sich doch zu ihm mit unwiderstehlicher Gewalt und haßte sie ihn doch zugleich so bitterlich!

So saß sie auch jetzt wieder einsam in ihrem Zimmer und blickte hinaus auf den Garten, in welchem der Vollmond sich durch die blätterlosen Aeste stahl und den Schnee bläulich färbte. Dann, wenn das Blut sich ihr gar zu heftig zum Herzen drängte, sprang sie wohl auf, durchschritt mit schnellem Schritte das halbdunkle Zimmer, nagte an ihrer Unterlippe und rang verzweifelnd die Hände.

Jetzt ertönten in der Allee fremde Glocken. Adelheid eilte an's Fenster und lauschte. Sie hörte, wie die Schlitten vor der Hausthür hielten und nur noch von Zeit zu Zeit eine Glocke leise nachklang, wenn das Pferd, das sie trug, sich schüttelte; sie hörte unten die Thüren auf- und zuschlagen, wie es zu geschehen pflegte, wenn Besuch eintraf und die Diener in's Vorhaus eilten; sie hörte dann, wie die Schlitten nach einiger Zeit langsam zum Stalle fuhren. Adelheid kannte, wie das so auf dem Lande zu sein pflegt, die Glocken aller Nachbarn, und da diese fremde waren und doch keine Postglocken, so konnten sie nur von einem Parkhöf'schen Gespann geführt werden. Ach, was konnte Adelheid daran liegen? Hatte sie doch schon einmal diese Glocken gehört und das Herz hatte ihr still gestanden vor Erwartung. Dann hatte sie gehört, daß die Baltevilles da seien, aber ohne ihn. Sie war in ihrem Zimmer geblieben und war gar nicht in die Gesellschaft gekommen; was gingen sie die Baltevilles an.

Nein, an diesen Glocken konnte Adelheid nichts liegen und so begann sie denn ihren Gang von Neuem, wandelte wieder unruhig auf und nieder und rang wieder verzweifelnd die Hände.

Der kleine Adolf hatte sich leise hinaufgeschlichen, um Fräulein Eichenstamm mit der Nachricht zu überraschen, daß zugleich mit den Baltevilles auch ihr Vetter angekommen sei und hatte die Thür so leise geöffnet, daß Fräulein Eichenstamm es nicht bemerkte. Er hatte erst ein wenig hineingeblickt, um zu sehen, wo sie war und hatte dann vorspringen und sie ein wenig erschrecken wollen, aber er blieb wie festgebannt stehen, als er Adelheid sich so seltsam geberden sah. Ihre große, hohe Gestalt umschloß ein ganz schwarzes Gewand von schwerem Zeuge und nur an der Brust schimmerte ein weißes Mieder durch; das Haar hing ihr verwildert um das bleiche Gesicht. Sie ging mit raschem, aber kaum hörbarem Schritte durch's Zimmer; wenn sie sich umwendete, beschien sie der Mond und der lauschende Knabe sah dann mit Schrecken, wie ihre schwarzen, leuchtenden Augen unheimlich rollten und wie ihre weißen Zähne zwischen den zurückgezogenen Lippen erglänzten. Als sie ihm wieder einmal den Rücken zuwandte, zog er sich leise zurück und eilte ängstlich davon.

Heinz seinerseits hatte zwar erfahren, daß Adelheid in Bachhof Gouvernante sei und daß man sich das Motiv, welches sie zu diesem Schritte bewogen hatte, in der Familie nicht zu erklären wußte, aber er hatte die Kunde vernommen, wie andere Familiennachrichten auch. Wenn er ihrer gedachte, so geschah es als einer Jugendgefährtin, die ihm seinerzeit erträglich angenehm gewesen war, die ihm aber jetzt in der Erinnerung recht unliebenswürdig erschien. Er hatte einmal Anna von ihr erzählt und dabei über das Mißverständniß, in welches das Cousinchen verfallen war, nachträglich recht herzlich gelacht. Als ihn heute Frau von Balteville aufgefordert hatte, mit nach Bachhof zu fahren, hatte er gar nicht einmal an Adelheid gedacht und sie war ihm erst eingefallen, als Madeleine ihn daran erinnerte, daß sich in Bachhof eine Cousine von ihm aufhalte. »Ach ja,« hatte er geantwortet, »der Behrslappensche hat mir neulich von ihr erzählt. Der alte Herr schien ganz verliebt in sie zu sein.«

Was lag ihm an Adelheid, gegen die er eigentlich immer eine gewisse Abneigung empfunden hatte. Sein Zusammenleben mit ihr war in seinem Leben eine flüchtige Episode, – dem ihrigen hatte es den Inhalt gegeben.

Wenn er die Aufforderung, nach Bachhof zu fahren, annahm, so geschah es, weil er dort auf Zerstreuung, auf Vergessen hoffte. War er doch so unruhig wie Adelheid und so zerrissen wie Adelheid. Centnerschwer lag das Bewußtsein der ungeheuren Schuld, die er auf sich geladen hatte, auf seiner Seele und lähmte jeden Aufschwung derselben.

Aber wenn er auf Zerstreuung hoffte, so hatte er sich getäuscht. Kaum war die erste Begrüßung vorüber, so verfiel er wieder in jenes dumpfe Sinnen, das seine Parkhöfschen Freunde so sehr beunruhigte und während das Gespräch munter hin und her schwirrte, starrte er finster in den Kamin. Was kümmerten ihn die verwunderten Blicke der Hausgenossen und die besorgten seiner Freunde – während sein Leib in Bachhof im Kaminzimmer saß, mitten unter vielen Leuten, weilte sein Geist an einem frischen Grabe, das dort weit, weit, mitten in Deutschland auf dem stillen Kirchhofe lag und das Herz deckte, das ihm so ganz gehört und das er zum Lohne für all' die Liebe – gebrochen hatte.

Er fuhr erst aus seinem Sinnen auf, als Adelheid in die Gesellschaft trat.

Duding war zu ihr hinaufgegangen und hatte ihr gesagt, daß Heinz da sei. Nach einiger Zeit kam sie denn auch herunter und sah den Mann nun leibhaftig vor sich stehen, dessen Gestalt ihre Phantasie seit so vielen Jahren beherrscht hatte. Mit gespannter Aufmerksamkeit sahen die Baronin und Duding auf die Beiden, als sie sich begrüßten. Sie hatten große Aehnlichkeit mit einander: Der ungewöhnlich hohe und doch breitschulterige und muskulöse Wuchs; die hohe Stirn, die scharf und kühn gebogene Nase, die großen dunkeln, glänzenden Augen; die feinen, festgeschlossenen Lippen bezeichneten die nahe Verwandtschaft und die tiefe Blässe, die auf beiden Gesichtern lag, ließ die Aehnlichkeit nur noch mehr hervortreten. Es waren schöne Menschen, die sich da gegenüber standen, aber sie sahen trotz ihrer Jugend so kalt, so hochmüthig und so verschlossen aus, als ob ein langes Leben voll Sorge und Enttäuschungen ihnen seinen harten Stempel aufgedrückt hätte.

»Guten Abend, Heinz,« sagte Adelheid und reichte ihm die Hand. Man hörte ihren Worten die Aufregung an, in der sie hervorgebracht wurden.

»Guten Abend, Adelheid,« erwiderte Heinz, indem er die dargebotene Hand schüttelte. Dann setzte er sich wieder.

Adelheid wurde nun mit den Baltevilles bekannt gemacht und nahm dann neben Madeleine und Duding Platz. Sie machte ein paar Bemerkungen, die lustig sein sollten aber sehr frostig ausfielen und ließ dann ihren Blick so fest auf Madeleine ruhen, daß diese über und über erröthete.

Adelheid war jetzt fest entschlossen, ihr Verhältniß zu Heinz in's Klare zu bringen. Nachdem sie eine Weile schweigend zugehört hatte, wie Frau von Balteville sich durch Aufzählung der vornehmen Bekanntschaften, welche sie im Auslande gemacht hatte, in ein lächerliches Licht stellte, stand sie plötzlich auf, trat zu Heinz und sagte: »Heinrich, ich möchte Dich gern auf ein paar Augenblicke unter vier Augen sprechen.«

Heinz blickte sie verwundert an, erhob sich aber sogleich und folgte ihr, während Aller Augen ihnen nachschauten.

Als sie fort waren, konnte der Baron nicht umhin, seine Verwunderung über das seltsame Gebahren seines Gastes auszusprechen. Horace vertheidigte den Freund, so gut er konnte. »Eichenstamm sei,« sagte er, »von einem schweren Unfalle heimgesucht worden, indem er vor einigen Wochen seinen liebsten Freund verloren habe.« Frau Amanda und Madeleine bestätigten das und rühmten Heinzens Liebenswürdigkeit. Der Baron ließ denn auch das Gespräch fallen, aber er konnte nicht umhin, in seinem Innern der Meinung zu sein, daß der junge Mann besser gethan hätte, in solcher Stimmung zu Hause zu bleiben.

Unterdessen war Adelheid vorausgeschritten und Heinz folgte ihr. Im Speisesaale schwankte sie einen Augenblick darüber, wohin sie ihn führen sollte, dann aber ergriff sie ein Licht, das auf dem Tische stand und ging in den Saal, in welchem am Tage Schule gehalten wurde.

Jetzt beschien der Vollmond nur die leeren Schultische und Bänke. Adelheid schritt bis an das letzte Fenster vor, löschte das Licht aus und wandte sich dann zu Heinz, der immer erstaunter zusah.

»Hast Du mir nichts zu sagen, Heinz?« fragte sie mit bebender Stimme.

»Nein, nichts,« erwiderte er. Was wollte sie nur?

»Heinz,« rief sie, »treibe keinen Spott mit mir, Du tödtest mich!«

Ihre Sprache klang so rauh, ihre Züge waren so verzerrt und sie blickte ihn so wild an, daß ihm der Gedanke durch den Kopf ging, sie müsse krank sein.

»Was ist Dir, Adelheid,« fragte er besorgt, »Du mußt unwohl sein.«

Adelheid blickte ihn starr an. War der Mann da vor ihr, der sie so freundlich aber auch so unbefangen und gleichgültig anblickte, wirklich ihr Vetter Heinz? Jener herrliche, hochstrebende und stolze, aber wahre und beständige Jüngling, den sie so heiß liebte, der sie so heiß liebte? War diese Scene nicht einer jener tollen, unsinnigen und so unsäglich wüsten Träume, wie sie sie jetzt so oft träumte?

Sie trat, ohne einen Augenblick das Auge von ihm zu lassen, ein paar Schritte zurück und setzte sich auf das hervorragende Ende einer Bank.

Heinz trat auf sie zu. »Du bist krank, liebe Adelheid,« sagte er freundlich, »ich werde Jemand herbeirufen, der Dich zu Bett bringt.«

Er wollte sich entfernen, aber sie sprang auf und ergriff mit beiden Händen seinen Arm.

»Heinz,« keuchte sie, »Heinz, was soll diese Komödie? Sind wir nicht verlobt?«

Das Wort traf ihn und ließ ihn Alles verstehen, wie der jähe Blitz die dunkele Nacht plötzlich erhellt und dem verirrten Wanderer in hellem Lichte den Abgrund zeigt, an dessen Rand er gerathen. Er verstand jetzt Alles, aber er war auch entschlossen, dem Irrthume sogleich ein Ende zu machen.

»Ich verstehe Dich jetzt,« sagte er mit leiser, trauriger Stimme, während ihre Augen in athemloser Spannung an seinen Lippen hingen, »ich verstehe Dich jetzt und ich sehe mit Schrecken, daß ich noch mehr Unheil angerichtet habe, als ich wußte und glaubte. Nein, Adelheid, wir sind nicht verlobt und wir sind es auch nie gewesen. Es war ein Mißverständniß, wenn Du damals glaubtest, wir seien verlobt, aber da ich schon damals davon erfuhr, daß Du mich so mißverstanden hattest, so hätte ich allerdings dafür sorgen müssen, daß Du darüber aufgeklärt würdest. Ich habe Dich auch nie geliebt, Adelheid, niemals. Als wir zusammen waren, liebte ich Lelia, ach und nachher – eine Andere. Danke Gott, Mädchen, daß wir nicht zu einander gehören, denn ich bin wie der Böse; wohin ich komme, säe ich Elend aus und Thränen. Wenn Du Abends Dein Vaterunser sprichst und Du kommst an das: ›Erlöse uns vom Uebel,‹ so denke an mich und sprich: ›Ich danke Dir, daß Du mich vom Uebel erlöset hast!‹ So viel ich mich Deiner entsinne, warst Du so hochmüthig, wie ich und so eitel, wie ich und so selbstsüchtig, wie ich, siehe zu, Adelheid, daß Du es nicht machst, wie ich und im eigenen Fall ein anderes Menschenleben zerstörst.«

Heinz sagte das Alles sehr ruhig, man könnte fast sagen sanft, wenn das Wort irgend zu ihm gepaßt hätte. Als er geendet hatte, wollte er wieder gehen, aber Adelheid hielt ihn fest.

»Heinz!« rief sie

Der Ruf schnitt ihm durch die Seele. So hatte Anna gerufen, damals, als er zum letzten Mal von ihr ging. Er blieb geduldig stehen.

»Heinz,« keuchte Adelheid, »ist das, was Du mir eben sagst, wirklich wahr?«

»Es ist wahr!«

Adelheid zog ihre Hände, die bisher seinen Arm umklammert hatten, zurück und ließ ihn frei.

»Geh!« rief sie.

Er ging. Wer hätte ihm, als er so sichern Schrittes und erhobenen Hauptes durch den engen Gang, zwischen den Bänken dahinschritt und dann ebenso in die Gesellschaft eintrat, angesehen, daß er innerlich zerknirscht war und zerbrochen, voll Reue und Demuth.

So schimmert die Granitsäule, wenn auch der Frost nachließ und weiches Thauwetter eintrat, in nur noch hellerem Weiß.

Adelheid folgte ihm nicht. Sie hatte sich in ihr Zimmer eingeschlossen und tobte dort in ihrer wilden Weise den ersten Schmerz aus – über die verfehlte Jugend.


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