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Kapitel 21.
Die gelernte Lektion

Der amerikanische Gesandte gab sein drittes großes Essen während der Saison. Im letzten Augenblick hatte er Phineas Duge doch noch überreden können, seine Einladung anzunehmen. Littleson befand sich auch unter den Gästen.

Die Damen hatten die Tafel schon verlassen, und Littleson setzte sich zu Mr. Duge.

»Haben Sie Neuigkeiten?« fragte er leise.

»Nein.«

Mr. Deane lehnte sich etwas in seinem Stuhle vor.

»Vermutlich haben Sie schon gehört, daß heute nachmittag ein Verhaftungsbefehl gegen Ihre Freunde Higgins und Weiß erlassen wurde?«

»Das ist nur eine Formsache«, entgegnete Duge.

»Eine vorübergehende Unannehmlichkeit, wenn das Gesetz gegen die Trusts im Senat durchgeht. Ich begreife nicht recht, warum unser Präsident plötzlich eine so große Antipathie gegen das Kapital gefaßt hat.«

»Ich weiß nicht,« erwiderte Deane, »ob sein Standpunkt logisch begründet ist. Kapital muß immer das Rückgrat der Wirtschaft eines großen Landes sein. Und die Gesetze des Handels und der Wirtschaft führen logisch dazu, daß es sich in einigen Händen konzentriert. Persönlich bin ich davon überzeugt, daß die ganze Sache bald vorübergehen wird.«

»Wenn nicht –«, sagte Littleson leise und heiser.

»Ja, wenn nicht irgendein größerer Skandal eintritt,« fuhr Deane fort, »in den Ihre beiden Freunde verwickelt sind.«

»Man kann niemals wissen«, sagte Phineas Duge langsam. »Solch ein Skandal ist möglich. Der Weg, der zu großem Reichtum führt, ist gefährlich und voll Fußangeln, und es gibt da manche Dinge, die der Kenntnis der großen Masse besser vorenthalten bleiben.«

Littleson sah blaß und nervös aus. Er holte tief Atem und fächelte sich mit seinem Taschentuch.

»Sie lieben es, in Rätseln zu sprechen. Warum sagen Sie nicht offen, daß Sie solange sicher sind, als Norris Vine nichts unternimmt?«

Ein Diener trat an den Gesandten heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

»Eine junge Dame besteht darauf, Sie zu sprechen. Sie sagte, daß ihre Angelegenheit von allergrößter Wichtigkeit sei. Ich habe alles getan, um sie zu überzeugen, daß Sie im Augenblick nicht kommen können, aber sie ist keinen Vernunftgründen zugänglich. Es ist eine junge Amerikanerin, und sie scheint sehr erregt zu sein.«

Phineas Duge lehnte sich vor und sah den Diener scharf an, sagte aber nichts.

»Eine junge Amerikanerin«, wiederholte Mr. Deane.

»Haben Sie die Dame früher schon einmal gesehen?«

»Ich glaube, es ist dieselbe, die vor einigen Wochen nach Mr. Norris Vine fragte.«

Phineas Duge erhob sich schnell. Nur mit Mühe hatte er einen Ausruf unterdrückt. Mr. Deane sah sich an der Tafel um. Seine anderen Gäste waren in eine allgemeine Unterhaltung vertieft. Littleson, der keine Ahnung hatte, was vorging, sah etwas verwirrt aus. Der Gesandte wandte sich an einen Herrn, der am anderen Ende des Tisches saß.

»Sinclair, würden Sie mich bitte für kurze Zeit vertreten? Ich werde eben in einer wichtigen geschäftlichen Angelegenheit abgerufen, aber ich bleibe nicht lange fort.«

Der Angeredete nickte und nahm Mr. Deanes Platz ein. Phineas Duge und der Gesandte verließen dann den Saal zusammen, Littleson folgte ihnen dicht auf dem Fuße. Im Speisesaal hatte sich Duge vollkommen beherrscht, aber sobald er in der Halle stand, zeigten sich seine Ungeduld und Erregung. Die Türe zum Wartezimmer stand halb offen, und er trat schnell ein. Er stieß einen Ruf aus. Virginia stand vor ihm. Sie hatte die Hände über der Brust gekreuzt, als ob sie ein Geheimnis darin hüten müßte. Als sie aber ihren Onkel sah, ließ sie die Hände sinken und starrte ihn an.

»Was, du bist hier – hier in London?!«

Er sah ihren Zügen an, daß sie viel Kummer und Sorgen durchlebt hatte, streckte beide Hände aus; und trat auf sie zu.

»Ich wollte Mr. Deane bitten, mir das Geld für ein Kabelgramm an dich zu geben. Du solltest mir das Reisegeld zur Rückfahrt nach Amerika schicken. Ich habe es!« rief sie plötzlich laut. »Ich habe es!« wiederholte sie noch einmal unter Tränen. »Sieh, hier ist es!«

Sie zog eine Rolle aus ihrem Kleide, dann schwankte sie. Phineas Duge führte und trug sie halb zu einem Stuhl. Littleson brachte rasch ein Glas Wasser. Die Rolle ruhte auf ihrem Schoße, aber ihre Finger hielten sie krampfhaft fest. Ihre Wangen glühten, und ihr fieberhafter Blick lag auf ihrem Onkel.

»Nimm es«, bat sie. »Lies es durch und sage mir, daß jetzt alles wieder gut ist, und daß du dein Versprechen halten willst.«

Er entfaltete das Schriftstück. Ein einziger Blick genügte – es war das langgesuchte Dokument.

»Du bist ein wunderbares Mädchen, Virginia«, sagte er ruhig. »Es ist das Schriftstück, das Stella mir gestohlen hat. Ich habe dich für den Verlust zu schwer getadelt, aber ich will es dir nie vergessen, daß du es wiederbeschafft hast.«

Sie atmete erleichtert auf und lehnte sich in den Stuhl zurück. Sie war noch sehr blaß, aber die Spannung und die Aufregung wichen allmählich aus ihren Zügen.

»Ich habe es an mich gerissen«, sagte sie leise, »und bin dann fortgelaufen. Sicher sind sie hinter mir her. Und Vine – der Mann wird ihn sicher umbringen. Er drückte ihm die Kehle zu, als ich fortlief.«

»Hast du denn das Dokument direkt aus Vines Wohnung geholt?« fragte Duge.

Sie hatte keine Zeit, zu antworten, denn die Türe wurde aufgeschleudert. Norris Vine stand auf der Schwelle. Als er sah, was vorgefallen war, zuckte er die Schultern.

»Ich bin also zu spät gekommen«, sagte er langsam.

Phineas Duge nahm das Schriftstück und hielt es in die Flammen des Kamins. Einen Augenblick schien es so, als ob Vine vorwärtsspringen würde, aber Littleson und der Gesandte traten dazwischen.

»Lassen Sie das Papier verbrennen«, rief Duge.

»Wenn Sie wirklich der großzügige, selbstlose Mann sind, Mr. Vine, der zu sein Sie immer behaupten, dann brauchen Sie die Vernichtung dieses Dokumentes nicht zu beklagen. Wir ändern unsere Taktik. Wenn das Gesetz gegen die Trusts durchgehen sollte, so müssen wir uns damit abfinden, welche Folgen das auch immer haben mag. Es wird keine Bestechung geben und keine Hinterhältigkeit. Wenn das amerikanische Volk uns angreift, werden wir unseren Kampf zu kämpfen wissen.«

Norris Vine seufzte.

»Ohne diesen Zwischenfall wäre mein Telegramm in einer halben Stunde abgesandt worden, und morgen wäre es in New York zu einem großen Aufruhr gekommen.«

Phineas Duge wandte sich an ihn.

»Sie gehören zu den unpraktischen Leuten, die sich an große Dinge heranwagen, dabei aber doch nicht über die Vorurteile und Skrupel eines romantischen Dilettanten hinauskommen. Sie haben die Gesetze des Geldes nicht erkannt. Große Kräfte lassen sich nicht von müßigen Zuschauern leiten.«

Norris Vine zuckte die Schultern und wandte sich zum Gehen.

»Nun, ich will jetzt nicht mit Ihnen streiten. Vielleicht ist es besser, daß dieses Dokument vernichtet ist. – Sie haben jedenfalls auch etwas dabei gelernt,« wandte er sich an Littleson, »desgleichen Ihre Freunde. Die Schatten des Gefängnisses drohten Ihnen.«


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