Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kapitel 2.
Überlegung

Littleson bemerkte, daß Virginia den Wunsch hatte, seine Gesellschaft möglichst zu meiden. Da er sehr gut aussah, sein Examen an der Harvard-Universität gemacht hatte und auch sonst in der Gesellschaft angesehen war, glaubte er nicht, daß diese Reserve etwas mit seiner Person zu tun hätte. Er kam vielmehr zu dem Schluß, daß sie entweder seine Beziehungen zu Stella entdeckt hatte, oder daß sie den Zweck ihrer Reise nach Europa verheimlichen wollte. Am Nachmittag des nächsten Tages zog er aber seinen Deckstuhl absichtlich neben den ihren. »Ich werde Sie nicht viel belästigen, Miß Longworth, aber ich möchte eine Frage an Sie richten. Hat Ihre Reise mit einem gewissen Vorgang in der Bibliothek Ihres Onkels zu tun?«

»Sie wissen es also auch?« erwiderte sie ruhig.

»Ja, ich weiß, daß von Ihrer Kusine ein Schriftstück gestohlen wurde. Sie gab es einem Mann, dessen Namen sie nicht nennen will, und der sich jetzt in Europa befindet. Und ich wollte Ihnen wenigstens soviel über den Zweck meiner Reise mitteilen, daß ich nach England gehe, um mit diesem Herrn in Fühlung zu bleiben. Es ist doch zu merkwürdig, daß Sie, die Sie mit derselben Sache zu tun haben, auch mit demselben Dampfer nach England reisen.«

»Der Zweck meiner Reise geht nur mich allein an«, entgegnete Virginia und schaute starr auf das Meer hinaus.

Der junge Mann nickte.

»Ich erwartete keine andere Antwort«, bemerkte er etwas kühl, »Wenn ich Ihnen aber in London irgendeinen Dienst erweisen kann, so verfügen Sie bitte über mich, Ihr Onkel würde es mir niemals verzeihen, wenn ich nicht alles für Sie täte, was in meiner Macht steht.«

Virginia lächelte ein wenig bitter.

»Mein Onkel macht sich meinetwegen keine großen Sorgen. Er braucht mich in Zukunft nicht mehr. Wenn ich nach Amerika zurückkehre, so gehe ich zu meinen eigenen Verwandten.«

Littleson wurde plötzlich traurig, denn er fühlte, daß er bis zu einem gewissen Grade an dem Kummer dieses Mädchens schuld war.

»Ja, das sieht Duge wieder ähnlich. Er ist hart wie Eisen und hat nicht die mindeste Überlegung. Ich kann überhaupt nicht verstehen, wie Sie den Diebstahl hätten verhindern können, Sie haben doch nichts freiwillig aufgegeben und niemand etwas gesagt?«

»Mein Onkel urteilt nur nach dem Erfolg. Es mußte ja schließlich so kommen. Ich werde jetzt ein wenig lesen. Vom Sprechen bekomme ich zu leicht Kopfschmerzen.«

Er stand auf und verneigte sich. Eine Stunde oder länger ging er an Deck auf und ab und dachte nach. Es war doch einfach unmöglich, daß dieses Kind die Reise über den Atlantik machte, nur um Norris Vine vielleicht das Schriftstück abzunehmen! Er wußte sehr gut, daß Phineas Duge weder Verwandte noch Freunde in England hatte. Noch vor ein paar Wochen hatte Virginia ihm bei Tisch erzählt, daß sie keine Aussicht hätte, jetzt Europa zu besuchen. Später schickte er ein drahtloses Telegramm nach New York. Vielleicht konnte Weiß Aufklärung über Virginias Absichten geben.

* * *

»So haben Sie wenigstens einen Freund an Bord gefunden«, bemerkte Mildmay, als er vor Virginias Deckstuhl stehen blieb.

»Es ist kein Freund von mir, und ich mag ihn auch nicht. Ich sagte ihm sogar eben, daß ich von dem vielen Sprechen Kopfschmerzen bekäme.«

»Dann nehme ich an, daß auch meine Gesellschaft –«

»Nehmen Sie lieber gar nichts an, sondern setzen Sie sich zu mir. Erzählen Sie mir bitte noch ein wenig von London, oder was Ihnen sonst gefällt. Ich bin heute etwas abgespannt und deprimiert. Ich kann nicht lesen, und es kommen mir nur unangenehme Gedanken.«

»Sie sind doch aber noch zu jung, um so zu sprechen«, erwiderte er freundlich.

»Ich bin neunzehn, aber manchmal glaube ich fast, daß ich neununddreißig bin.«

»Neunzehn Jahre«, wiederholte er. »Und Sie gehen in ein wildfremdes Land. Den amerikanischen Unternehmungsgeist muß man wirklich bewundern.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Das hat mit amerikanischem Geist nichts zu tun. Die Reise ist einfach notwendig. Ich glaube, daß jedes Mädchen, ob sie Engländerin oder Amerikanerin ist, es vorzieht, daß jemand für sie sorgt, als daß sie allein eine solche Reise machen muß.«

»Man fühlt sich veranlaßt –« begann er, neigte sich näher zu ihr und sah ihr in die Augen.

»Also dann ist es doch besser, daß ich wieder lese«, unterbrach sie ihn.

»Bitte tun Sie das nicht. Ich verspreche Ihnen, daß ich mich jetzt wirklich ernst mit Ihnen unterhalten werde! Sie dürfen nicht böse sein, wenn ich mich einen Augenblick vergaß. Sie sahen mich mit Ihren Augen an, und wir sind in England nicht an so große, schöne Augen gewöhnt.«

»Entweder sind Sie nicht ganz bei Verstand, oder Sie sind sehr unverschämt. Ich glaube, ich schicke Sie am besten fort.«

»Aber es ist doch niemand da, der Sie unterhalten könnte. Und ich will wirklich mein Bestes tun.«

»Dann reichen Sie mir bitte die Pralinen herüber und erzählen Sie mir ein wenig von dem Landleben in England.«

Wieder hielt er ihr einen kleinen Vortrag, und sie lauschte seiner klaren, männlichen Stimme mit größtem Interesse, bis der Gong zum Essen schlug. Nach der Mahlzeit zögerte sie einen Augenblick und ging dann mit einem leichten Seufzer in ihre Kabine. Sie ließ sich auf dem Sofa nieder, erhob sich aber bald wieder und schaute durch die runde Luke hinaus auf die See. War sie so töricht, daß sie alles vergessen hatte? Ihre Gedanken wanderten zu dem kleinen Farmhaus ihrer Eltern zurück, und sie dachte an das veränderte Leben, das dort nun alle führten. Ihr Vater war jetzt frei von Sorge, ihr Bruder studierte auf der Universität, und ihre Mutter brauchte sich nicht mehr abzuquälen, wie sie jeden Morgen die kleinen Rechnungen der Kaufleute zahlen sollte. Der Gedanke, daß die alten Zeiten wiederkehren sollten, erschien ihr wie ein furchtbares Schreckgespenst. Sie wollte alles tun und alles wagen, um ihre Stellung bei ihrem Onkel wiederzuerobern. Beim Abschied hatte sie nur ein paar Worte mit ihm gewechselt und ihn gebeten, ihren Verwandten daheim nichts zu schreiben. Die sollten glauben, daß sie eine Reise für ihn machte. »Laß Ihnen die glückliche Vorstellung, daß ich noch einige Monate bei dir bin«, hatte sie ihn gebeten. »Wenn ich Erfolg habe, wird ja alles wieder in Ordnung sein. Und im anderen Falle können sie wenigstens noch eine kurze Zeit länger ihr Glück genießen.«

Er hatte sie in keiner Weise ermutigt oder ihr Hoffnungen gemacht.

»Deine Stellung bleibt dir offen. Wenn du das Dokument zurückbringst, wird es wieder so sein, als ob es nie abhanden gekommen wäre«, hatte er nur gesagt.

Aber wie schwer war doch ihre Aufgabe! Wie unmöglich erschien sie ihr jetzt! Wie konnte sie auf Erfolg hoffen? Selbst Stella würde über sie lachen. Vine hatte sie nur ein einziges Mal gesehen, aber sie konnte sich schon vorsteilen, mit welch bedauerndem Lächeln er sie empfangen würde, wenn sie zu ihm käme und ihn bäte, ihr das Dokument zu geben. Sie schüttelte den Kopf bei dem Gedanken. Drohen konnte sie Vine nicht, dazu hatte sie keine Macht. Sie mußte andere Waffen gegen ihn gebrauchen. Durch Gewalt und Schlauheit hatte man sie beraubt, und mit denselben Mitteln mußte sie nun vorgehen. Nur war es nötig, noch klüger und schlauer als diese Leute zu sein. Ihr Kopf sank ein wenig tiefer, und ihre Hand stahl sich zu den Augen. Wie leichtfertig war es doch von ihr, sich mit fremden Leuten hier an Bord einzulassen! Kurz entschlossen drehte sie den Schlüssel ihrer Kabine um, legte sich zur Ruhe und weinte sich in Schlaf.


 << zurück weiter >>