Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kapitel 5.
Eine Frage des Muts

Stella wandte sich mit gerunzelter Stirne an Vine. »Habe ich dich richtig verstanden, daß du deine Macht über diese Leute nicht gebrauchen und sie frei ausgehen lassen willst?«

»Das will ich nicht tun, wenn es irgendwie möglich ist. Aber so einfach liegt der Fall nicht. Ich muß sehr viele Dinge dabei berücksichtigen und will vor allem nach Deanes Rat handeln.«

»Es ist doch merkwürdig. Dein Leben lang hast du nach Geld und Macht gestrebt. Nun kannst du dir beides verschaffen, und du zögerst. Ich sollte meinen –«

Sie hielt ein, aber er zuckte nur die Schultern.

»Sprich doch ruhig weiter!«

»Ich sollte meinen, daß du zu feige dazu bist«, erklärte sie ruhig. »Ich riskierte alles, und du fürchtest dich jetzt, zu handeln.«

»Es ist keine Frage des Muts«, widersprach er ihr.

»Doch. Du schreckst davor zurück, das auszuführen, was du im Innersten für richtig hältst, weil es für ein oder zwei, vielleicht auch für zehn Jahre einen furchtbaren Aufruhr geben wird. Aber zum Schlusse kann es gar nicht anders als gut enden, und du trägst den Sieg davon. Davon bin ich vollkommen überzeugt.«

»Wenn Deane und ich zu derselben Überzeugung kommen, dann werde ich handeln. Du brauchst dir darüber keine Sorgen zu machen.«

»Deane und du!« wiederholte sie verächtlich. »Wer bin ich denn? Kannst du die Sache nicht auch mit mir besprechen und beraten? Ich bin scheinbar nur eine Schachfigur in deinen Augen. Ich habe die Gefahr auf mich genommen und dir das Dokument gebracht. Wenn du aber jetzt den Feigling spielst, dann sind wir für immer geschiedene Leute, Norris.«

Er mußte sie fast gegen seinen Willen bewundern. Stella war mit der Frau des Gesandten aufs Dach gekommen, als er es gerade mit Deane verlassen wollte. Ein telefonischer Anruf hatte Deane dann gezwungen, nach unten zu gehen, und seine Frau hatte ihn begleitet, da es ihr oben zu kühl war.

Stella stand hochaufgerichtet und mit zurückgeworfenem Kopf neben ihm. Sie trug ein prachtvolles Abendkleid von heller Seide, hob sich scharf gegen den dunklen Himmel ab und sah in ihrer Erregung noch schöner aus. Die Härte ihres Gesichtsausdrucks wurde durch das zerstreute Licht gemildert, das von dem Platz heraufdrang. Vine, der sonst wenig zugänglich war, fühlte sich plötzlich stark zu ihr hingezogen. Es war ihm, als befänden sie sich allein auf einer einsamen Insel mitten im brandenden Meere. Er schauderte, als er sah, wie nahe sie am Geländer stand, und reichte ihr die Hand. Sie nahm sie, und ihre Züge wurden weicher. »Mein lieber Norris, verzeih mir, wenn ich hart zu dir gesprochen habe. Aber es kostete mich soviel, dieses Papier zu beschaffen, und ich knüpfte so große Hoffnungen für uns beide daran.«

Sie hatte mit stockender Stimme gesprochen. Er wollte ihr jetzt alles sagen und die Frage stellen, auf die sie schon solange gewartet hatte, aber er zögerte noch. Er war ein Mann, der seine Freiheit liebte. Nicht im gewöhnlichen Sinne des Wortes, aber er fühlte einen fast leidenschaftlichen Widerwillen dagegen, einem anderen Menschen ein dauerndes Recht auf sich einzuräumen und ihn an seinen Kämpfen teilnehmen zu lassen. Er verdankte Stella alles, das wußte er ganz genau. Sie neigte sich etwas zu ihm. Vielleicht wußte auch sie, daß sie diesen Augenblick nicht vorübergehen lassen durfte.

»Norris, höre nicht auf Deane oder einen dieser Leute. Führe den Schlag mit aller Härte und Erbarmungslosigkeit. Deine Zeitung wird dadurch berühmt, und du hast einen großen Erfolg. Jeder noch so einfältige Mensch könnte deine Kenntnis in ein ungeheures Vermögen umsetzen. Ich will dir auch offen sagen, daß ich diese Finanzleute, gegen die du den Schlag führst, aus tiefster Seele hasse. Selbst wenn mein Vater dadurch ruiniert wird, ist mir das gleich. Ich habe von ihm sehr wenig, und ich habe genug von dem Luxus. Glaube mir, ich wäre in einer einfachen Hütte in Italien, in der Schweiz oder in England glücklicher, als in den großen Marmorpalästen meiner Heimat. Ich wünschte nur, ich könnte dich zu diesem Glauben bekehren.«

Er zuckte die Schultern.

»Ein Mann muß immer mitten im Leben stehen. Ich könnte mich niemals mit vollständiger Untätigkeit abfinden. Aber wir müssen jetzt nach unten gehen. Mrs. Deane sagte, wir sollten in zehn Minuten nachkommen, und die sind längst vorüber. Der Wagen wartet schon, der euch zur Oper bringen soll.«

Sie wandte sich zögernd zum Gehen.

»Komm doch mit«, bat sie, »oder lade uns später zum Abendessen ein. Mrs. Deane würde es sicher sehr gerne sehen.«

»Gut, ich werde dich später treffen. Ich möchte heute abend keine Musik hören.«

»Wenn Mrs. Deane nach dem Theater nicht mehr speisen will, dann kannst du mich nach Hause bringen. Wenn wir einmal miteinander sprechen, kommt immer eine Unterbrechung, und ich hätte dir doch soviel zu sagen.« –

In der Halle des Metropol-Theaters traf Vine später auf Littleson, der stehen geblieben war, um sich eine Zigarette anzustecken, und ihn nun liebenswürdig begrüßte.

»Ich habe heute den ganzen Nachmittag schon versucht, Sie aufzufinden. Wollen Sie nicht mit mir in meinen Klub gehen, damit wir uns ein wenig unterhalten können?«

»Es tut mir leid. Ich bin hier, um eine Bekannte abzuholen, die gleich herauskommen wird.«

»Wollen Sie dann morgen mittag mit mir speisen?«

»Nein! Es könnte mich nichts dazu veranlassen, eine Einladung von Ihnen anzunehmen.«

»Sie sind also zu einem Entschluß gekommen?« fragte Littleson langsam. »Sie sind ein seltsamer Mann, Vine. Ein Sonderling und Eigenbrötler, aber im Grunde genommen kein schlechter Mensch. Es täte mir wirklich leid, wenn Sie den einen großen Fehler Ihres Lebens begingen. Glauben Sie, daß Weiß und die anderen diesen angedrohten Angriff ruhig hinnehmen? Sie haben bereits ihre Vorkehrungsmaßregeln getroffen. Nehmen Sie meinen Rat, und lassen Sie die Hände davon. Kommen Sie in mein Hotel, wir wollen noch einmal über die Sache verhandeln. Sie sollen ein schönes Stück Geld dabei verdienen, und ich kann Ihnen versprechen, daß Sie nicht mehr nach Amerika zurückgehen brauchen, um Dollars zu verdienen.«

»Das Leben ist aber nicht nur eine Frage des Geldes,« entgegnete Vine verächtlich, »es gibt auch andere Dinge, die wertvoll genug sind, um sie sich zu erobern. Wenn ich den Schlag gegen Sie und Ihre Freunde führe, so tue ich es nicht um des Geldes oder des Ruhmes willen, sondern weil ich ein verderbtes System treffen will, und weil ich weiß, daß Weiß und die anderen das Beste tun, um unser Land zu ruinieren.«

»Nun gut, ich habe Sie gewarnt. Sie fordern das Schicksal heraus, und Sie werden ins Unglück geraten. Sollten Sie aber doch noch in letzter Minute Ihre Meinung ändern, dann kommen Sie zu mir. Ich wohne im Hotel Clarc.«

Littleson ging weg, und im nächsten Augenblick wurde Vine von Mrs. Deane und Stella begrüßt. Stella war noch sehr angeregt von der Musik und legte ihre Hand leicht in die seine.

»Wohin wollen wir gehen?« fragte sie.

»Vielleicht ins Skalden-Hotel? Ich werde rasch einen Wagen besorgen.«

Mrs. Deane hob einen Finger. Ein Diener berührte die Mütze mit der Hand und eilte fort.

»James hat uns gesehen, das Auto fährt gleich vor«, sagte die ältere Dame. »Ich muß noch ein paar Worte mit Lady Engelton sprechen. Wollen Sie sich eine Sekunde um Stella bemühen, Mr. Vine?«

Die Gesandtin grüßte eine kleine Gruppe, die in der Nähe der Eingänge stand. Stella und Vine traten zur Seite, um das Gedränge zu vermeiden.

»Sieh schnell zu dem Wagen hinüber!« rief sie plötzlich und packte seinen Arm.

Vine erkannte Littleson und neben diesem einen Mann in gewöhnlichem Straßenanzug und steifem Filzhut. Das Gesicht glaubte er schon einmal gesehen zu haben.

»Wenn du das Dokument überhaupt veröffentlichen willst, dann mußt du es jetzt tun. Hast du Littleson eben gesehen?«

»Ja, ich habe kurz vorher noch mit ihm gesprochen.«

»Weißt du, wer der Mann war, mit dem er sich unterhielt? Das war Dan Prince, du weißt, wer das ist. Der größte Verbrecher, der noch nicht gehängt ist. Ich möchte nur wissen, was Littleson von ihm will.«

Vine lächelte verbissen, als er vortrat und Mrs. Deane beim Einsteigen half.

»Ich kann es mir denken«, erwiderte er leise.


 << zurück weiter >>