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Kapitel 8.
Schießerei

Mitten in der Nacht wurde Virginia durch einen Revolverschuß geweckt. Sie griff hastig nach ihrem Morgenrock und eilte die Treppe hinunter. Das ganze Haus war schon erleuchtet, die elektrischen Alarmglocken läuteten, und die Diener eilten zur Bibliothek. Leverson saß in einem Lehnstuhl mit einer häßlichen Wunde an der Schläfe, und einer seiner Assistenten hatte einen Revolverschuß in die Schulter bekommen. Einer der beiden Einbrecher, den sie überrascht hatten, war gefangen genommen worden. Er sah bleich und düster aus, trug sein Schicksal aber mit philosophischer Ruhe. Gerade als Virginia ankam, wurde er von uniformierten Polizisten aus dem Zimmer abgeführt.

»Ist etwas gestohlen worden?« fragte sie Leverson.

»Nein, nicht das Geringste. Es waren im ganzen drei Einbrecher, zwei sind entkommen. Der Führer war Bill Dane, davon bin ich überzeugt. Wir können ihn jeden Augenblick verhaften lassen. Diesen hier kenne ich nicht. Sie hatten tatsächlich Dynamit bei sich und hätten das ganze Haus in die Luft sprengen können.«

»Waren es Berufseinbrecher?«

»Ja, ich glaube. Sie haben derartig glänzende Werkzeuge, wie ich sie noch niemals gesehen habe. Rings um das Haus hatten sie Aufpasser gestellt, die Schmiere stehen und ihnen bei der Flucht helfen mußten. Auch dieser wäre entkommen, wenn ich ihn nicht persönlich erwischt hätte.«

»Verdammt!« brummte der Gefesselte.

Virginia sah ihn an und schauderte.

»Ich bin froh, daß Sie wenigstens einen gefaßt haben. Ich will sofort zu meinem Onkel gehen und es ihm mitteilen,«

Aber Phineas Duge war bereits über alles informiert und lächelte nur, als Virginia ihm die Nachricht brachte.

»Sie müssen allerdings ziemlich verzweifelt sein, wenn sie so gefährliche Dinge unternehmen. Wahrscheinlich haben sie den Kerlen soviel Geld gegeben, daß nichts aus ihnen herauszuholen ist.« –

Die Mittagszeitungen berichteten ausführlicher über den Einbruch bei dem Millionär. Der Gefangene schwieg sich bei dem Polizeirichter vollkommen aus und sagte nicht ein Wort. Alle Verhöre verliefen ergebnislos.

Phineas Duge blieb den ganzen Tag unsichtbar, und niemand erhielt Zutritt zu seinen Räumen. Es wurde bekanntgegeben, daß die Ärzte ihm vollkommene Ruhe verordnet hätten, aber er telefonierte den ganzen Tag von seinem Schlafzimmer aus nach allen Himmelsrichtungen und war tätiger denn je. Niemand wußte, daß die beiden Privatsekretäre dauernd bei ihm ein- und ausgingen. Nach außen hin stellten sie natürlich in Abrede, ihren Chef auch nur einen Augenblick gesehen zu haben, da sie gut genug bezahlt wurden.

Am Nachmittag kehrte Virginia von einer kurzen Spazierfahrt zurück. Als sie in das Haus trat, wurde ihr gemeldet, daß zwei Herren sie zu sprechen wünschten. In dem Empfangssalon fand sie aber niemand und klingelte deshalb nach dem Hausmeister.

»Wo sind denn die beiden Herren, Groves?«

»In der Bibliothek, Miß Longworth.«

»Sie meinen doch nicht etwa in dem Privatzimmer von Mr. Duge?« fragte sie ängstlich.

»Jawohl. Es ist Mr. Weiß und Mr. Higgins, zwei der besten Freunde von Mr. Duge. Sie wünschten den Raum zu sehen, in den heute eingebrochen wurde.«

Virginia sah ihn wütend an.

»Ich hatte Ihnen doch ausdrücklich anbefohlen, daß Sie niemand in das Zimmer lassen sollten!«

»Es tut mir leid, wenn ich falsch gehandelt habe. Ich machte mit diesen beiden Herren eine Ausnahme, weil sie hier im Hause ein- und ausgehen und alte Freunde von Mr. Duge sind. Ich glaubte nicht, daß sich Ihre Anordnung auch auf sie bezöge.«

Virginia eilte an ihm vorüber durch die Halle und ging rasch zur Bibliothek. Mr. Weiß stand mit einem Schlüsselbund vor dem Schreibtisch ihres Onkels und versuchte, das Schloß zu öffnen. Higgins hatte ein offenes Federmesser in der Hand, mit dem er offenbar auch ein Schloß aufbrechen wollte. Sie fuhren zusammen, als sie sahen, daß Virginia in das Zimmer gekommen war. Sie erkannte sofort, daß die beiden nur auf ihre Ausfahrt gewartet hatten, um ihr Vorhaben durchzuführen, und daß ihre vorzeitige Rückkehr sie überrascht hatte.

»Mr. Weiß,« sagte sie bestimmt, »dieser Raum steht unter meiner persönlichen Obhut, und es ist ein strikter Befehl meines Onkels, daß niemand hier hereinkommt. Es tut mir leid, daß ein Diener Sie hier eingelassen hat. Wollen Sie bitte sofort mit mir in den Empfangssalon kommen?«

Mr. Weiß richtete sich auf, aber Higgins hatte sich vor die Tür gestellt. Virginia sah sofort, daß ihr der Rückweg abgeschnitten war.

»Miß Longworth,« erwiderte Weiß, »Sie müssen uns beiden und mir besonders verzeihen, wenn ich Ihnen gegenüber jetzt ganz offen spreche. Ich erzählte Ihnen gestern von dem Dokument, für das wir uns so stark interessieren, und das Ihr Onkel in Verwahrung hat. Unter gewöhnlichen Umständen würden wir es ruhig hier lassen, aber nach den Ereignissen der letzten Nacht darf es nicht länger hier bleiben. Wenn Ihr Onkel nicht wohl genug ist, daß man ihn sprechen kann, müssen wir die Sache selbst in die Hand nehmen. Sie müssen doch einsehen, welches Risiko wir auf uns nehmen. Das Dokument wäre doch beinahe gestohlen worden.«

»Was wollen Sie denn unternehmen?«

»Wir wollen diesen Sekretär aufbrechen, wenn es notwendig ist,« sagte Mr. Weiß, »und den eingebauten kleinen Stahlsafe öffnen. Dort finden wir vermutlich das Papier, das wir brauchen.«

»Und wenn ich Ihnen nun erkläre, daß ich keinen zweiten Einbruch hier in diesem Zimmer gestatte?« Higgins trat einen Schritt vor.

»Miß Longworth, Sie sehen so verständig aus, daß ich annehme, Sie sind es auch. Bitte, überlegen Sie einmal unsere Lage. Unsere ganze Zukunft und unser Einfluß hängt davon ab, daß wir dieses Papier bekommen. Wir ließen es in dem Gewahrsam Ihres Onkels in der Voraussetzung, daß es vollständig geheimgehalten würde. Es kann aber nicht hier bleiben, nachdem ein gewaltsamer Versuch gemacht wurde, es zu stehlen. Wenn Ihr Onkel nun zum Beispiel sterben sollte, würden alle seine Papiere versiegelt und dieses Dokument veröffentlicht werden. Sie können sich doch wohl denken, was das für uns bedeutet. Das wäre nicht nur unser Ruin, sondern auch der wirtschaftliche Zusammenbruch von vielen hundert Existenzen. Auf allen Geldmärkten der Welt würde eine Panik entstehen. Als wir das Schriftstück zusammen aufsetzten, sollte es nur vierundzwanzig Stunden Geltung haben und dann vernichtet werden. Wir sind fest entschlossen, es nicht länger in diesem Raume zu lassen, ganz gleich, wie sehr er bewacht wird. Haben Sie denn nicht das geringste Mitgefühl mit unseren Schwierigkeiten?«

»Was sich auch in diesem Zimmer befinden mag, es bleibt hier, bis mein Onkel wieder soweit hergestellt ist, daß er entscheiden kann, was damit geschehen soll.«

»Wir wollen Sie natürlich nicht bestechen, aber ich möchte Ihnen doch sagen, daß wir Ihnen hunderttausend Dollars geben würden, wenn wir in den Besitz dieses Papiers kämen, und ich garantiere Ihnen, daß Ihr Onkel Ihnen auch noch hunderttausend Dollars als Belohnung schenkt, weil Sie so vernünftig waren, uns das Schriftstück auszuhändigen.«

Virginia drehte ihm einfach den Rücken zu.

»Ich spreche weder mit Ihnen noch mit Ihrem Freund über derartige Dinge. Sie können jetzt nicht länger hier bleiben. Wenn Sie nicht freiwillig gehen wollen, muß ich nach der Dienerschaft klingeln.«

Higgins machte eine Bewegung, als ob er sie am Arme packen wollte, aber sie war zu schnell für ihn. Sie drehte sich plötzlich um, und er sah, daß sie eine Pistole in der Hand hatte.

»Sie zwingen mich, Sie wie Diebe und Einbrecher zu behandeln. Glauben Sie nicht, daß dies ein Spielzeug ist. Revolverschießen war in meinem Heimatort meine Lieblingsbeschäftigung und meine Erholung, Wollen Sie sich jetzt sofort von dem Schreibtisch entfernen, Mr. Weiß?«

Er bückte sich und versuchte einen anderen Schlüssel. Virginia zögerte nun nicht mehr. Sie drückte ab, und das Geschoß pfiff nur wenige Zentimeter an seinem Kopf vorbei. Er sprang sofort auf.

»Dieses verdammte Mädchen!« rief er. »Higgins, nehmen Sie ihr sofort das Ding weg.«

Aber Virginia lehnte mit dem Rücken an der Wand, und Higgins schüttelte den Kopf.

»Weiß, machen Sie keine Dummheiten«, entgegnete er kurz. »Sie haben die Überlegung verloren. Bitten Sie Miß Longworth um Verzeihung und kommen Sie mit. Sie hat vollkommen recht. Es gibt gar keine Entschuldigung für unser Benehmen.«

Weiß zögerte einen Augenblick und sah Virginia einige Sekunden lang an. Dann gab er mit einem Achselzucken seine Niederlage zu, und die beiden gingen zur Türe.

Als sie verschwunden waren, sah sich Virginia nervös um und probierte dann alle Fächer des Schreibtischs. Sie waren alle noch wohlverschlossen. Auch der Teppich befand sich noch in seiner alten Lage; niemand hatte ihn angerührt. Plötzlich fuhr sie erschrocken zusammen, und richtete sich auf. Die Türe, die in das Zimmer der Privatsekretäre führte, stand offen, und Mr. Duge lächelte seiner Nichte wohlwollend zu.

»Ich gratuliere Dir, Virginia. Du bist mit den beiden schlimmsten Schurken von New York fertig geworden. Aber nun hilf mir bitte, daß ich wieder unbemerkt nach oben komme.


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