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Buch II

Kapitel 1.
Mildmay

»Sie brauchen die Decke über kurz oder lang sicher selbst«, protestierte Virginia.

Der junge Mann lachte liebenswürdig.

»Das ist weiter nicht gefährlich. Bitte gestatten Sie mir, daß ich Sie ordentlich einpacke.«

Er wartete aber gar nicht erst auf ihre Einwilligung, und sie war auch sehr zufrieden damit, denn es war ein kalter Morgen. Außerdem besaß der junge Mann, der neben ihr an Deck saß, außer seinem Plaid einen schweren Pelzmantel.

»Es ist ziemlich mutig von Ihnen, sich an einem solchen Morgen an Deck zu wagen«, meinte er. »Ihre Angehörigen sind wahrscheinlich alle unten.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich habe keine Verwandten an Bord.«

»Dann Ihre Zofe. Aber die Leute sind ja meist unbrauchbar. Fast alle am ersten Tag seekrank.«

»Ich reise ganz allein.«

Er sah sie erstaunt an.

»Aber dazu sind Sie doch noch zu jung! Verzeihen Sie, wenn ich das sage, ich wollte nicht unliebenswürdig sein. Sie sind wohl eine Amerikanerin?«

»Ja«, gab sie zu.

»Nun, das erklärt viel«, erwiderte er erleichtert.

»Sie gehören also zu einem der größten und freiesten Völker der Erde?«

»Ich würde nicht allein reisen, wenn mich die Umstände nicht dazu zwängen.«

»Hoffentlich darf ich während der Überfahrt ein wenig für Sie sorgen? Auch ich bin ganz allein und kenne niemand hier.«

Er war hübsch, lebhaft und zählte höchstens siebenundzwanzig Jahre. Seine helle Gesichtsfarbe gefiel Virginia gut, aber noch mehr seine Augen. Sein Betragen und seine Sprache waren durchaus einwandfrei und verrieten, daß er der besten englischen Gesellschaft angehörte.

Sie nickte ernst.

»Es ist sehr freundlich von Ihnen. Ich fahre zum erstenmal nach Europa hinüber, und Sie können mir wirklich sehr nützlich sein, das heißt, wenn Sie etwas Zeit für mich übrig haben.«

Er lächelte freundlich.

»Das wäre also abgemacht. Und ich kann Ihnen jetzt schon die Versicherung geben, daß ich mich für die Reise nun bedeutend mehr interessiere. Mein Name ist übrigens Mildmay.«

»Und ich heiße Virginia Longworth«, erwiderte sie nach einem kurzen Zögern.

»Virginia ist meiner Meinung nach einer der schönsten Namen, die Sie in Amerika haben.«

»Dann sind Sie also Engländer?«

Er nickte.

»Ich kehre von meiner ersten Reise nach den Staaten zurück. Ich habe einen Vetter besucht, der im Westen eine Farm hat. Es war sehr schön dort drüben.«

»Waren Sie auch längere Zeit in New York?«

»Nur zwei Tage. Diese großen Städte kommen mir unheimlich vor. Ich hatte keine Freunde und Bekannten dort und wanderte durch die Straßen und an den gigantischen Häusern vorbei wie durch eine Wildnis.«

»Ach, das ist aber schade. Die Amerikaner sind doch sonst so gastfrei. Sicher hätten Sie auch Freunde gefunden, wenn Sie gewollt hätten!«

Er lächelte ein wenig sonderbar.

»Das mag wohl sein, aber ich hatte nicht die nötige Zeit, zu suchen. Erzählen Sie mir doch bitte etwas von Ihrem Besuch in England. Wo werden Sie wohnen, auf dem Lande oder in London?«

»Das weiß ich noch nicht genau. Zuerst wahrscheinlich in London.«

»Sicher bei Verwandten?«

»Nein, in London habe ich keine.«

»Aber doch Freunde und Bekannte?«

Als sie ihn mit ihren großen, dunklen Augen ansah, fühlte er sich plötzlich verlegen.

»Es tut mir sehr leid, ich habe kein Recht, alle diese Fragen an Sie zu stellen. Ich wollte nur wissen, ob wir uns in England einmal wiedersehen könnten.«

»Ich fürchte, das wird kaum möglich sein. Aber bitte fragen Sie nicht weiter über meine Reise. Sie hat einen ganz bestimmten Zweck, aber ich kann nicht darüber sprechen.«

»Dann will ich auch nichts mehr sagen, bis wir an Land gehen. Gestatten Sie, daß ich Ihnen meine Karte gebe? Dann wissen Sie wenigstens einen Menschen in England, an den Sie sich wenden können, wenn Sie Hilfe brauchen sollten.«

Sie sah ihn erfreut an.

»Aber ich kenne Sie doch erst seit einer Viertelstunde.«

»Ich habe Sie schon seit zwei Tagen an Bord beobachtet.«

»Nun, ich liebe offene Leute, und ich werde Sie um Ihre Karte bitten, bevor wir ankommen. Wohnen Sie in London?«

»Ja, ich habe ein Haus dort. Gewöhnlich bleibe ich zwei Monate im Jahr in der Hauptstadt, und manchmal bin ich während der Jagdsaison zum Wochenende da.«

»Bitte, erzählen Sie mir doch von London«, bat sie.

»Sie meinen doch nicht etwa, daß ich Ihnen die Geschichte der Hauptstadt erzählen soll?«

»Nein, aber von den schönen Restaurants, den Theatern, und dem Leben dort.«

»Es gibt da viel zu sagen. Ich will versuchen, Ihnen ein Bild davon zu entwerfen.«

Sie unterhielten sich länger als eine Stunde, und keiner achtete auf die Zeit. Plötzlich wurden sie durch einen korrekt aussehenden Diener unterbrochen, der plötzlich vor ihnen stand.

»Der Gong zu Tisch wurde bereits geschlagen, Durchlaucht«, sagte er. »Soll ich die Decken in die Kabine bringen?«

Sie gingen zusammen in den Speisesaal. Virginia sah ihren Begleiter neugierig von der Seite an.

»Sie sagten doch eben, daß Sie Mildmay hießen? Weshalb nannte Sie Ihr Diener denn Durchlaucht?« Er lachte.

»Ach, der ist noch nicht lange in meinen Diensten. Er war vorher bei einem Fürsten angestellt und hat sich diese Anrede noch nicht abgewöhnt. Ich will einmal sehen, ob ich es nicht so arrangieren kann, daß ich an Ihrem Tisch noch Platz finde. Der Zahlmeister scheint ja ein ganz vernünftiger Mann zu sein.«

»Ich bin bisher noch nicht in den Speisesaal gegangen, sondern habe meine Mahlzeiten in der Kabine eingenommen. Aber es wäre sehr schön, wenn Sie irgendwo in meiner Nähe säßen.«

Mr. Mildmay hatte die Sache bald in Ordnung gebracht, und sein Sitz am Kapitänstisch wurde gegen einen anderen am Tische des Zahlmeisters ausgewechselt, so daß er neben Virginia saß. Sie hörte plötzlich, daß ihr Name auf der anderen Seite des Tisches genannt wurde, sah sich erschrocken um und entdeckte gegenüber Mr. Littleson.

»Wie geht es Ihnen, Miß Longworth?« fragte er. »Ich hatte keine Ahnung, daß wir auf demselben Dampfer fahren.«

Sie war zu erstaunt, um sofort etwas erwidern zu können. Nachdem sie sich rasch gefaßt hatte, sprach sie davon, daß ihre Reise ganz unerwartet gekommen wäre. Später holte sie ihn an Deck ein und legte die Hand auf seinen Arm, um ihn anzuhalten.

»Mr. Littleson, würden Sie mir einen großen Gefallen tun?«

»Aber selbstverständlich! Ich wüßte nicht, was ich lieber täte.«

»Bitte erzählen Sie niemand an Bord, wer ich bin, und sprechen Sie nicht von meinem Onkel oder dergleichen. Ich gehe in einer besonderen Angelegenheit nach England und möchte ganz für mich bleiben.«

Littleson wurde ernst. Er war im Grunde kein schlechter Mensch, und außerdem machte die hübsche, junge Virginia Eindruck auf ihn, als sie bittend vor ihm stand.

»Wollen Sie damit sagen, daß Sie Ihrem Onkel fortgelaufen sind?«

»Nein, das gerade nicht. Er war damit einverstanden, daß ich sein Haus verließ, aber er weiß nicht genau, wo ich bin, und ebensowenig wissen es meine Angehörigen. Wollen Sie mir versprechen, darüber zu schweigen?«

»Gewiß.«

»Und bitte schreiben Sie darüber auch nicht nach Amerika.«

»Ich werde Ihre Wünsche erfüllen, aber ich möchte doch noch mit Ihnen sprechen, bevor wir landen.«

Er ging nachdenklich zu seiner Kabine. Es war ihm bisher noch nicht der Gedanke gekommen, daß Virginias Aufenthalt in London denselben Zweck haben könnte wie seine eigene Reise.


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