Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kapitel 10.
Mr. Norris Vine

Stella ging in schnellem Schritt die Fifth Avenue entlang und bog dann in den Broadway ein. Hier nahm sie ein Mietauto und war zwanzig Minuten später in der Redaktion von Mr. Norris Vine. Er selbst öffnete ihr die Türe und führte sie durch die Büroräume in sein eigenes, luxuriös ausgestattetes Zimmer.

»Wolltest du eben ausgehen?« fragte sie.

»Darauf kommt es nicht an. Ich habe mindestens eine halbe Stunde Zeit für dich.«

Er führte sie zu einem Sessel und setzte sich ihr gegenüber. Die Sonnenstrahlen fielen auf sein hageres, hartes Gesicht und sie sah ihn nachdenklich an.

»Norris, macht es das Alter, oder geht es dir im Augenblick nicht gut?«

Er hob die Augenbrauen.

»Du weißt, daß das Leben hier furchtbar anstrengend ist. Man muß sich dauernd beherrschen und kontrollieren und das macht müde und alt.«

»Ja, so siehst du auch aus. Man hat den Eindruck, als ob du deine Arbeit ohne jede Begeisterung nur noch mechanisch tätest. Hat ein solches Leben für dich überhaupt noch Zweck?«

»Das weiß ich nicht«, entgegnete er tonlos.

»Du solltest wieder einmal einen Europaurlaub nehmen«, sagte sie freundlich. »Ich verstehe nicht, wie sich die Männer selbst derart zu Sklaven ihrer Arbeit machen können. Hast du nicht einmal den Wunsch, dieser Tretmühle zu entfliehen?«

»Vielleicht, aber das Leben hier ist wie eine dieser unangenehmen und schädlichen Angewohnheiten, wie übermäßiges Zigarettenrauchen oder das Nehmen von Morphium. Man kann es einfach nicht mehr lassen«, fügte er leise hinzu. »Aber ich bin doch noch nicht so versklavt, daß ich meine Ketten lieben könnte. Verstehst du denn nicht, daß man weiterkämpfen muß, wenn man so tief in den Morast hineingeraten ist?«

»Steht es so mit dir?«

»Ja«, sagte er mit einer plötzlichen Heftigkeit. »Noch vor sechs Monaten hätte ich ohne weiteres als freier Mann meinen Posten verlassen können. Ich wäre nicht gerade reich gewesen, aber in Europa hätte ich mit meinem Vermögen glänzend leben können. Im geeigneten Augenblick zögerte ich aber und das war mein Verhängnis. Plötzlich hatten mich die Verhältnisse hier so umstrickt und umgarnt, daß ich mich nicht mehr daraus lösen konnte. Du weißt, daß ich in der letzten Zeit wieder mit deinem Vater aneinander geriet, und dadurch kann ich nicht fort. Ich muß nun wieder ganz von vorne beginnen.«

»Es geht dir also im Augenblick geschäftlich nicht gut?«

Er nickte.

»Ich kämpfe um meine Existenz«, sagte er kurz. »Was ich auch in den letzten Monaten angefangen habe, überall traf ich auf den harten Widerstand deines Vaters und seiner ungezählten Millionen. Die Auflagezahl meiner Zeitungen geht Tag für Tag zurück. Die großen Firmen, die mir früher hohe Annoncenaufträge gaben, ignorieren mich jetzt. Ich setzte nach und nach mein Vermögen zu. So geht es jedem, der es wagt, gegen die Götzen dieses Landes seine Stimme zu erheben. Drei der größten Annoncenexpeditionen haben mir mitgeteilt, daß sie meine Zeitung von der Liste gestrichen haben. Und hinter allem steckt nur dein Vater, Stella. Ich hatte gehofft, daß die Hetze gegen mich bei seiner Erkrankung aufhören würde, aber ich habe mich getäuscht. Weiß du, ob er wirklich krank ist, oder ob seine Krankheit nur zu einem neuen, schlauen Plan gehört?«

»Ich weiß es nicht bestimmt«, entgegnete sie. »Heute erfuhr ich von einer Seite, daß er sie nur vorschützt.«

»Wer hat dir das gesagt?« fragte er schnell.

»Peter Littleson. Ich habe heute mit ihm zu Mittag gegessen.«

»Aber das ist doch einer der Verbündeten deines Vaters. Er, Bradley, Weiß und Higgins bilden doch den großen Finanztrust. Man nennt sie überall die Unbesieglichen!«

»Ich bin meiner Sache nicht ganz sicher, aber ich nehme an, daß es bald zu Auseinandersetzungen und zu Zerwürfnissen zwischen ihnen kommt.«

Sein Interesse erwachte.

»Sage mir doch, was du sonst noch darüber weißt«, bat er.

»Littleson wollte heute aus mir herausbekommen, ob mein Vater wirklich krank ist oder nicht. Dann gab er mir zu verstehen, daß er und seine Geschäftsfreunde annehmen, mein Vater hinterginge sie. Das würde mich ja nicht sehr in Erstaunen setzen, da ich den Charakter meines Vaters sehr genau kenne. Peter Littleson gab mir gegenüber sogar zu, daß er sie im Augenblick alle in seiner Gewalt habe.«

Norris Vine sah einen Augenblick aus dem Fenster. »Ich beginne, das Zutrauen zu mir zu verlieren,« sagte er langsam, »und wenn das erst einmal der Fall ist, dann ist das Ende nicht mehr weit. Ich glaube, daß Littleson recht hat. Dein Vater kann sicher, wenn es ihm paßt, alle seine Freunde ruinieren, so wie er mich jetzt ruiniert.«

»Wenn sich aber auf der anderen Seite etwas ereignete, was die anderen in die Lage versetzte meinen Vater zu brechen?«

»Das wäre das beste für mich und das ganze Land. Spekulanten haben kein Gewissen, aber es gibt unter den größten Finanzleuten unseres Staates nicht einen einzigen, der jedes Gesetz der Moral so oft übertreten hat wie Phineas Duge. Was machst du übrigens heute abend, Stella? Würdest du mit mir zu Abend speisen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, heute abend nicht, Norris. Ich habe etwas anderes zu tun. Aber höre mich jetzt bitte einmal an. Wenn ich dir eine Sensation für deine Zeitung bringen könnte, die ganz New York durcheinanderwirbelt, würdest du mir dann versprechen, deine Zeitung selbst mit Verlust zu verkaufen und dich vom Geschäftsleben zurückzuziehen? Würdest du dann Amerika verlassen und nach Europa übersiedeln?«

»Ja, das will ich dir versprechen.«

Sie erhob sich. Er näherte sich ihr zögernd, aber sie machte eine ablehnende Handbewegung.

»Nein, Norris, bitte küsse mich jetzt nicht. Wenn du mehr von Frauen verstündest, dann würdest du wissen, daß sie nichts so sehr verabscheuen wie diese Zärtlichkeiten. Bitte, begleite mich jetzt zum Fahrstuhl. In ein oder zwei Tagen wirst du von mir hören. Ich werde dir schreiben und mich dann selbst zum Abendessen einladen.«


 << zurück weiter >>