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Kapitel 16.
In der Falle

Phineas Duge zog seine Handschuhe langsam aus und legte sie in den Zylinder. Er lehnte den Stuhl ab, der ihm angeboten wurde, und blieb dem Mann gegenüber stehen, dem sein Besuch galt.

»Ich kann durchaus nicht verstehen, was Sie von mir wollen«, sagte Norris Vine. »Unsere früheren Beziehungen waren kaum so angenehm, daß sie Ihren Besuch rechtfertigen könnten.«

»Ich möchte Sie Verschiedenes fragen. Erstens will ich wissen, ob Sie das von meiner Tochter gestohlene Dokument veröffentlichen wollen, das Sie arglistig zurückbehalten. Zweitens möchte ich erfahren, wieviel oder was Sie für die Rückgabe verlangen. Und dann müssen Sie mir noch sagen, was Sie mit meiner Nichte gemacht haben.«

»Ich habe nichts mit ihr gemacht. Ich weiß nicht, wo sie ist, und ich weiß nicht, warum Sie mich darnach fragen.«

»Sie lügen«, erwiderte Duge ruhig. »Aber wir wollen im Augenblick nicht davon sprechen. Das geht Sie natürlich nur persönlich an. Ich erwarte auch kaum, daß ich eine richtige Antwort erhalten werde.«

»Die Art und Weise, wie Sie hier mit mir sprechen,« entgegnete Vine, »lasse ich mir in meinen eigenen Räumen nicht gefallen.«

Er ging zur Klingel, aber Phineas Duge hob die Hand.

»Einen Augenblick noch.«

Vine blieb stehen.

»Nun?«

»Ich möchte noch einmal auf die Frage nach meiner Nichte zurückkommen. Wenn Sie die andere Angelegenheit nicht mit mir besprechen wollen, so können wir das auch lassen. Sie wissen doch, daß ich selbst in diesem Lande einige Macht besitze. Aber ich bestehe auf einer Erklärung für Ihr Verhalten zu meiner Nichte.«

»Welche Erklärung wünschen Sie denn?«

»Als sie New York vor einiger Zeit verließ, waren Sie sich beide fremd. Und wenn sie auch mit einer verrückten Idee nach London kam, so war es doch nicht ganz ihre eigene Schuld. Sie war nur ein einfaches, naives Kind, und man hätte ihr nicht gestatten sollen, Amerika ohne weiteres zu verlassen.«

»In diesem Punkte bin ich vollkommen Ihrer Meinung«, sagte Vine kurz.

»Jedenfalls hat sie irgendwie Ihre Bekanntschaft gemacht. Sie sind in verschiedenen Restaurants mit ihr gesehen worden, einmal auch in einem Theater. Sie zog aus ihrer Pension und nahm in Ihrem Hotel Wohnung. Ihre Zimmer waren nur durch einen Korridor voneinander getrennt. In welchem Verhältnis stehen Sie zu meiner Nichte?«

Der Journalist lehnte sich an den Tisch, und ein schwaches Lächeln huschte über seine Züge.

»Mr. Duge, verzeihen Sie, wenn ich lächle. Der Gedanke, daß Sie sich für das Wohlbefinden Ihrer Nichte überhaupt nur im geringsten interessieren könnten, erscheint mir einfach paradox.«

Phineas Duge schwieg einen Augenblick und sah Vine scharf an.

»Sie können soviel lächeln, wie Sie wollen. Aber beantworten Sie meine Frage.«

»Ihre Nichte zog hier ins Hotel, um mich zu berauben. Auf wessen Veranlassung sie das tat, kann ich allerdings nur vermuten. Ich lernte sie hier in diesem Raume kennen, wohin sie als Diebin kam. Aber haben Sie sich jemals um das Glück eines Menschen gekümmert, der Ihren Weg kreuzte – mag er auch noch so unschuldig gewesen sein? Warum erwarten Sie von mir, daß ich auf dieses junge Mädchen Rücksicht nehmen soll, die über den Ozean kam, um mich zu bestehlen?«

In Duges Gesicht zuckte kein Muskel, aber er atmete etwas schneller und trat unwillkürlich einen Schritt näher auf Vine zu.

»Wo ist sie jetzt?«

»Wenn sie nicht in ihrer Wohnung ist, weiß ich es nicht.«

»Sie hat ihr Zimmer hier aufgegeben und ist mit ihrem Gepäck abgefahren. Vielleicht waren Sie es, der sie aus diesem Hotel vertrieb.«

»Ich habe es nicht bemerkt. Eigentlich erwartete ich, daß sie heute mit mir zu Mittag speisen würde.«

Phineas Duge schaute auf die Tischplatte nieder und schien etwas zu überlegen. Norris Vine stand ihm gegenüber und wartete. Als Duge wieder aufsah, erkannte der Journalist zum erstenmal, daß sein Besucher einen angegriffenen Eindruck machte.

»Norris Vine, wir sind Feinde gewesen, solange wir uns kannten, denn wir repräsentieren verschiedene Prinzipien. Ich wüßte keinen Punkt, in dem sich unsere Interessen oder unsere Anschauungen deckten. Aber abgesehen davon gibt es Dinge, die selbst Feinde miteinander besprechen können, wenn ihnen nicht jeder Begriff von Ehre abhanden gekommen ist. Ich möchte Sie noch einmal fragen, ob Sie mir gar keine Nachricht über meine Nichte geben können?«

»Nein, ich bin nicht dazu in der Lage. Ich lernte sie hier als ein liebenswürdiges junges Mädchen von einfachem, geradem Charakter kennen, die sich in große Sorgen und Unannehmlichkeiten gestürzt hatte, weil Sie ärgerlich auf sie waren, und weil sie fürchtete, daß ihre Angehörigen darunter leiden könnten. Sorgen und Furcht allein haben sie zu diesen wahnsinnigen Dingen getrieben. Ich weiß wirklich nicht, wo sie ist, oder was aus ihr geworden ist. Aber vor allem möchte ich bestreiten, daß ich sie veranlaßt habe, in dieses Hotel zu ziehen. Man kann mich auch nicht dafür verantwortlich machen, wenn ihr in London etwas passiert.«

Phineas Duge nahm Hut und Handschuhe.

»Ich danke Ihnen, Mr. Vine. Es war sehr interessant, daß Sie mir Ihre Meinung über diesen Fall gesagt haben. Um noch einmal auf die geschäftliche Angelegenheit zurückzukommen – ich vermute wohl mit Recht, daß Sie über eine gewisse Sache überhaupt nicht mehr sprechen wollen?«

»Ja, das stimmt. Es wäre zwecklos. Meine Handlungsweise wird nicht von dem beeinflußt, was Sie mir sagen könnten.«

Phineas Duge wandte sich zur Türe, und Norris Vine folgte ihm. Auf der Schwelle zögerte der Millionär noch einen Augenblick und schaute in das Zimmer zurück.

»Ich fürchte, Mr. Vine, daß Sie sich hier in London etwas zu sehr abgesondert haben, und daß Sie etwas zuviel Selbstvertrauen besitzen.«

Er öffnete die Türe plötzlich weit, aber er ging nicht fort. Dagegen traten zwei Leute ein, die dicht davorgestanden haben mußten, und Phineas Duge schloß die Türe wieder.


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