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Kapitel 20.
Verhext

Virginia stieß die Schranktüre ganz leise auf und sah nun Vine am Tisch sitzen. Schreibpapier und ein Code lagen neben ihm, aber ihr Blick heftete sich fasziniert auf die Papierrolle zu seiner linken Hand. Sie zweifelte nicht daran, daß es das gestohlene Dokument war. Ihre Gedanken jagten wild durcheinander, und sie entwarf einen Plan nach dem anderen. In dem Schrank hingen zwei Mäntel. Wenn sie einen herausnahm und sich auf Zehenspitzen in das Zimmer schlich, konnte sie Vine den Mantel über den Kopf werfen, das Dokument nehmen und davonlaufen, ehe es ihm möglich war, sie anzuhalten. Aber wenn es ihr nicht gelang, ihn einzuschließen, hatte sie nicht die Möglichkeit, das Hotel sicher zu verlassen.

Sie beobachtete, wie er ruhig und ohne Hast schrieb und dauernd in dem Codebuch nach Worten suchte. Wenn er doch nur einen Augenblick aufstehen und in das Schlafzimmer gehen würde! Ihr Herz schlug heftig, und all ihre Sinne waren angespannt. Aber plötzlich erlebte sie eine große Überraschung, so daß sie beinahe laut aufgeschrien oder eine heftige Bewegung gemacht hätte. Sie entdeckte, daß sie nicht allein Norris Vine beobachtete. Leise hatte sich ein Mann auf Strümpfen aus dem Schlafzimmer herausgeschlichen und sah nun durch die Türspalte. Virginia fühlte instinktiv, daß sich hier nun bald eine Szene abspielen würde, die sie nur als Zeugin verfolgen konnte.

Norris Vine war vollständig in seine Arbeit vertieft. Er hatte sich tiefer und tiefer über den Tisch geneigt, und seine Feder eilte immer schneller über das Papier. Der Mann hinter der Türe trat mehr und mehr hervor. Er war athletisch gebaut und schlich sich wie ein sprungbereiter Tiger näher. Virginia wußte nicht, welchen Plan er hatte, aber sie konnte nur mit größter Anstrengung ein Schluchzen unterdrücken.

Nun war er so weit vorgetreten, daß Vine ihn im nächsten Augenblick sehen mußte. Sie sah, wie er den Kopf etwas seitwärts bog und auf einen bestimmten Punkt an der Wand sah. Dann blickte er wieder auf Vine, der noch dauernd schrieb, als ob er die Distanz abschätzen wollte. Plötzlich drehte er den Lichtschalter aus und sprang los. Vine schrie auf.

Virginia wußte, welchen Verlauf der Kampf im Dunkeln nehmen mußte. Norris Vine hatte wenig Sport getrieben und war unvorbereitet – er mußte dem Angriff unterliegen. Sie dachte fieberhaft schnell nach, während die beiden wild miteinander rangen. Einen Augenblick zögerte sie noch, dann schlich sie sich schnell und geräuschlos auf Zehenspitzen in das Zimmer und packte die Rolle, die auf dem Tische lag. Ebenso leise verließ sie den Raum wieder. Der Lärm des Kampfes übertönte das Rauschen ihrer Kleider und das Geräusch ihrer Schritte. Sie kam und verschwand wie ein Schatten. Als der Mann, in dessen Händen Norris Vine nicht mehr als ein Kind war, schließlich sein Opfer zu Boden geworfen und durch einen Schlag betäubt hatte, drehte er das elektrische Licht wieder an. Aber der Tisch war leer. Er stand wie vom Donner gerührt. Noch vor wenigen Minuten hatte er das Dokument dort gesehen! Er stieß einen furchtbaren Fluch aus. Norris Vine erlangte das Bewußtsein bald wieder, richtete sich auf dem Teppich auf und sah auch verstört auf die leere Tischplatte.

Das wertvolle Dokument war verschwunden. Nirgends konnte er etwas davon entdecken. Es war auch niemand in dem Raum, der es genommen haben konnte. Der Mann, der ihn zu Boden geworfen hatte, machte ein bestürztes, ratloses Gesicht, denn er konnte sich nicht vorstellen, was vorgefallen war. Norris Vine erhob sich taumelnd und stützte sich an der Wand.

»Großer Gott,« sagte er halblaut, »sind wir alle verhext?«

Sein Angreifer antwortete nicht, hob das Tischtuch auf und sah darunter. Dann ging er in das Schlafzimmer, aber auch dort schaute er vergeblich nach einem Dieb aus. Langsam kehrte er in das Wohnzimmer zurück. Die Blicke der beiden trafen sich. Norris Vine lehnte noch erschöpft an der Wand. Sein Anzug war zerrissen, Kragen und Krawatte hingen in Fetzen, und eine große Schramme verunstaltete sein Gesicht.

»Nun haben die Geister Sie also doch um Ihren Erfolg betrogen!« sagte er mit einem schwachen Lächeln,

»Verdammt, es gibt keine Geister«, brummte der andere. »Ich wollte nur, ich hätte mit dieser verrückten Geschichte überhaupt nichts zu tun gehabt!«


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