Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kapitel 9.
Undankbarkeit

Norris Vine stand mitten in dem Zimmer. Er hatte den Hut noch auf dem Kopf und den Mantel über dem Arm. Zimmerkellner und Hausdiener hielten sich in respektvoller Entfernung.

»Während der letzten zehn Minuten waren Fremde in meinen Räumen, die kein Recht haben, sich darin aufzuhalten. Ich habe die Beweise dafür. Erlauben Sie denn jedem, der in das Hotel kommt und mit dem Fahrstuhl fährt, irgendein Zimmer zu betreten, das ihm paßt?«

»Wir können keine Detektive engagieren«, entgegnete der Geschäftsführer, der während der letzten Worte dazugetreten war. »Und alle Leute, die hier wohnen, haben öfters Besuch.«

Es klopfte leise an der Türe, und gleich darauf trat Virginia ein.

»Sie wollen sicher eine Erklärung für das letzte Telefongespräch haben, das Sie soeben mit Ihrer Wohnung führten«, sagte sie. »Ich kann sie Ihnen geben. Bitte schicken Sie diese Leute weg, dann kann ich mit Ihnen sprechen.«

Norris Vine sah sie erstaunt an, denn ihr Gesicht kam ihm irgendwie bekannt vor. Die beiden Angestellten und der Geschäftsführer waren nur zu froh, daß sie einen guten Vorwand hatten, sich zu entfernen.

»Soll das etwa heißen, daß ich Ihre Stimme am Telefon hörte?« fragte Vine.

»Ja, und Sie können mir sehr dankbar sein. Ich weiß nicht, ob es klug von mir war oder nicht, aber ich bin davon überzeugt, daß ich Ihr Leben gerettet habe.«

»Dann muß ich Sie ja mindestens bitten, Platz zu nehmen«, erwiderte er mit einem ungläubigen Lächeln.

Virginia setzte sich und sah ihm voll ins Gesicht. »Können Sie sich nicht auf mich besinnen? Ich bin die Nichte von Phineas Duge.«

»O ja, ich kann mich jetzt wieder sehr gut an Sie erinnern. Ich sah Sie eines Abends, als sie mit Ihrem Onkel auf dem Dachgarten bei Sherry zu Abend speisten.«

»Das stimmt. Ich bin nur nach London gekommen, um mit Ihnen zu sprechen. Seit einigen Tagen suche ich schon nach Ihnen.«

»Die ganze Sache klingt etwas merkwürdig, besonders da ich bisher noch nicht das Vergnügen hatte, Ihre Bekanntschaft zu machen!«

»Es ist aber trotzdem alles sehr einfach. Meine Kusine Stella hat aus dem Studierzimmer meines Onkels ein Dokument gestohlen und es Ihnen gegeben. Wäre ich besser auf der Hut gewesen, so hätte das nicht passieren können. Nun muß ich dieses Schriftstück wieder herbeischaffen, sonst bin ich ruiniert. Ich folgte Ihnen nach England, um es wiederzubekommen. Entweder muß ich es Ihnen wieder stehlen, oder ich muß an Ihre Ehre appellieren oder es sonst auf irgendeine Weise versuchen. Zufällig erfuhr ich nun, daß nicht nur ich nach Ihnen suche. Heute nachmittag belauschte ich eine Art Verschwörung in einem Café in der Regent Street. Zwei Männer waren fest entschlossen, sich dieses Dokument anzueignen, wollten Sie aber vorher unschädlich machen. Aus dem Gespräch erfuhr ich auch Ihre Adresse. Ihr Kammerdiener muß mit den Leuten unter einer Decke stecken, denn sie wußten genau, was Sie vorhatten. Sie wollten Sie hier überfallen. Ich entschloß mich, ihnen zuvorzukommen. Ich tat es nicht aus Mitleid mit Ihnen, sondern weil das Dokument für mich verloren war, wenn ich Sie nicht warnen konnte.«

Sie erzählte ihm nun, was sich kurz vorher abgespielt, und zu welcher List sie gegriffen hatte.

»Wissen Sie denn, wer dieser Mann war?« fragte er schließlich.

»Nein, aber ich vermute, in wessen Diensten er steht.«

»Das kann ich mir auch denken. Sie sind wirklich eine mutige junge Dame, Miß Longworth.«

»Ich habe dies alles unternommen, um eine Belohnung dafür zu erhalten.«

»Und die wäre?«

»Ich möchte, daß Sie meinem Onkel dieses Dokument zurückgeben. Stella stahl es mir mit brutaler Gewalt. Wenn ich es nicht zurückbringen kann, schickt mich mein Onkel zu meiner Familie zurück und unterstützt sie nicht mehr. Geben Sie mir das Dokument zurück, Mr. Vine. Sie sind dazu verpflichtet.«

Er sah sie kühl an.

»Es tut mir leid, daß ich Sie enttäuschen muß. Wenn ich Ihnen das Dokument zurückgäbe, käme es nur in die Hände eines der skrupellosesten Männer Amerikas. Ich verabscheue die Methoden, mit denen Ihr Onkel seine Finanzgeschäfte betreibt. Durch Hinterlist hat er es in seinen Besitz gebracht und will es jetzt nur dazu benützen, andere Leute damit in Schach zu halten. Infolgedessen war die Art und Weise, wie es ihm entwendet wurde, berechtigt, obgleich ich mit dem Diebstahl als solchem nichts zu tun habe. Ich kann Ihnen das Dokument nicht zurückgeben. Ich selbst habe mich noch nicht entschlossen, wie ich vorgehen werde, aber trotzdem muß das Papier vorläufig in meinem Besitz bleiben.«

»Wissen Sie denn auch, daß ich heute abend Ihr Leben gerettet habe?« erinnerte sie ihn.

Er lachte leicht.

»Mein liebes Kind! Mein Leben kann man mir nicht so einfach nehmen. Ich glaube natürlich, daß Sie die Absicht hatten, mir zu helfen. Aber der Preis, den Sie dafür verlangen, ist zu hoch, selbst wenn das Dokument, von dem Sie sprechen, gestohlen wurde. Es ist besser in meiner Hand aufgehoben als in der Ihres Onkels.«

Sie erhob sich.

»Sie wollen es mir also nicht geben? Gut, dann will ich gehen. Ich bin aber davon überzeugt, daß wir uns in kurzer Zeit wiedersehen werden.«

Er öffnete ihr die Türe und begleitete sie bis zum Lift.

»Verzeihen Sie, Miß Longworth, wenn ich Ihnen sage, daß die Ausführung Ihres Planes vollständig aussichtslos ist. Nehmen Sie meinen Rat an, ich kenne das Leben. Gehen Sie zurück in Ihre Heimat. Diese großen Städte faszinieren zuerst, aber Sie leben ruhiger und glücklicher auf dem Lande. Fragen Sie Stella. Sie wird Ihnen dasselbe sagen.«

Virginia sah ihn fest an. Die leichte Ironie, mit der er gesprochen hatte, beeindruckte sie nicht im geringsten.

»Ich danke Ihnen. Ihr guter Rat klingt sehr selbstlos – und überzeugt. Das ist entschieden eine wertvolle Belohnung und Gegengabe für die Gefahr, die ich um Ihretwillen auf mich genommen habe.«

»Aber Miß Longworth! Sie sagten doch selbst, daß Sie dieses Abenteuer nicht um meinetwillen unternommen haben. Es hängt doch nur mit der Ausführung Ihrer Pläne zusammen, daß ich noch ein wenig länger auf der schönen Erde bleiben darf. Ich wüßte nicht, warum ich Ihnen dafür dankbar sein sollte. Auch ich bin bewaffnet, und ich konnte bei einem eventuellen Kampfe sehr gut die Oberhand gewinnen. In diesem Falle hätte ich vor allem gewußt, wer der Angreifer war, und hätte ihn der Polizei übergeben können.«

Virginia drückte die Klingel zum Fahrstuhl, und der Lift kam nach oben.

»Ich bin froh, Mr. Vine, daß ich Ihren Charakter kennengelernt habe.«

Er verneigte sich und sie trat in die Kabine, ohne sich zu verabschieden.

Vine ging nachdenklich zu seiner Wohnung zurück. Er war im Kampf ums Dasein hart und rücksichtslos geworden, aber trotzdem verfolgte ihn die Erinnerung an das blasse Gesicht Virginias und an ihre dunklen, vorwurfsvollen Augen.


 << zurück weiter >>