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Kapitel 11.
Gewissen

Virginia ruhte in der folgenden Nacht wenig. Die Hitze und ihre eigene Unruhe verscheuchten ihren Schlaf.

Früh am nächsten Morgen erhob sie sich, setzte sich an das kleine Fenster ihres Zimmers und sah über die endlos sich ausdehnenden Dächer der Häuser. Rauch stieg aus vielen Kaminen auf und schien die hellen Sonnenstrahlen zu verdunkeln. Sie fühlte ein Würgen im Halse und kämpfte mit den Tränen. Aber nach kurzem Kampf überwand sie die Schwäche. Sie mußte ihre Aufgabe unbedingt lösen, wenn sie im Augenblick auch noch so hoffnungslos aussah.

Sie ging in ihrem Zimmer umher und packte ihre Sachen. Um halb zehn hatte sie die Pension bereits verlassen, ohne eine neue Adresse anzugeben.

Um zehn Uhr hielt ein großer Luxuswagen vor der Türe, und Mr. Mildmay stieg ab. Mit leichten Schritten eilte er die Treppe in die Höhe. Aber oben sagte man ihm, daß Miß Longworth fortgegangen sei, und daß niemand wüßte, wohin sie sich gewandt hätte. Sie hatte auch keine Botschaft für ihn zurückgelassen. Auch die Tatsache, daß er dem Kellner ein fürstliches Trinkgeld gab, brachte ihm keine anderen Nachrichten. Der Mann wußte nichts. Langsam und bedrückt stieg Mildmay die Treppe wieder hinunter und fuhr fort.

* * *

Stella und Norris Vine aßen in einem kleinen Westend-Restaurant zu Mittag. Er hatte sie angerufen und gebeten, mit ihm zusammenzukommen.

»Weißt du, daß deine Kusine in London ist?« fragte er nach der Begrüßung.

»Was! Virginia?« rief Stella erstaunt.

Er nickte.

»Mit wem ist sie denn herübergekommen? Und was will sie hier?«

»Das arme, kleine Ding kam ganz allein und hat sich eine unmögliche Aufgabe gestellt. Ich habe noch nie etwas so Rührendes in meinem Leben gehört. Sie will das Dokument wiederhaben. Man könnte darüber lachen, wenn es nicht so ernst wäre.«

»Ja, sie kennt das Leben noch nicht«, erwiderte Stella halb verächtlich und halb bedauernd.

»Ich dachte, du könntest vielleicht einmal vernünftig mit ihr reden. Wenn es möglich wäre, würde ich gerne etwas für sie tun. Der Gedanke, daß das gute Kind allein in London herumwandert und sich mit so absurden Ideen trägt, ist mir furchtbar unangenehm.«

»Weißt du denn, wo man sie finden kann?« fragte Stella ruhig.

»Das letztemal sah ich sie in meiner Wohnung. Es tut mir jetzt leid, daß ich sie einfach gehen ließ.«

Stella sah schnell zu ihm auf.

»Was meinst du damit?«

Vine erzählte ihr die Geschichte kurz.

»Glaubst du denn, was sie dir da erzählt hat?«

»Ich weiß, daß ich verfolgt werde, und wenn sie in meine Wohnung eindringen konnte, fiel es anderen Leuten mindestens ebenso leicht. Es ist möglich, daß Dan Prince in meiner Wohnung wartete, und ich hätte wahrscheinlich wenig Aussicht gehabt, zu entkommen. Nachher habe ich gesehen, daß sie tatsächlich meinen ganzen Schreibtisch durchsucht hat.«

»Diese kindische Virginia«, erwiderte Stella ungeduldig. »Es wäre besser, wenn sie auf der Farm ihres Vaters die Hühner fütterte. Sie gehört eben einfach nicht nach London, so wenig wie sie nach New York paßte.«

»Ich wünschte nur, ich könnte sie wieder nach Amerika zurückschicken.«

Stella sah ihn erstaunt an und runzelte die Stirne.

»Mein lieber Norris, ist das nun schon wieder eine neue Spielerei? Was hast du vor?«

Sie schwiegen einige Zeit.

»Ich sehe, daß du mich noch sehr wenig kennst. Im Grunde meines Herzens bin ich sehr mitleidig.«

»Dann hast du es jedenfalls verstanden, diese Seite deines Charakters sehr sorgfältig vor mir zu verbergen.«

»Als Journalist muß man auch die Fähigkeit besitzen, sich zu verstellen. Aber in allem Ernst, Stella, sie tut mir leid. Es wäre mir sehr lieb, wenn du sie nach Hause schicken könntest.«

Stella zuckte die Achseln.

»Erstens habe ich keine Ahnung, wo sie zu finden ist, und zweitens gehört sie zu diesen widerspenstigen Kindern, die niemals das tun, was man ihnen sagt.«

»Ich gebe zu, daß es sehr schwer sein wird, sie zu finden. Aber trotzdem sind wir doch indirekt für ihre schwierige Lage verantwortlich. Wir müßten alles für sie tun, was in unseren Kräften steht.«

»Ich werde beinahe eifersüchtig auf meine Kusine«, meinte Stella lächelnd.

Er sah interessiert zu ihr hinüber, als ob er feststellen wollte, wie weit ihre Worte auf Wahrheit beruhten.

»Das ist nicht nötig. Es sind nur die letzten Regungen meines Gewissens.«

»Wo bewahrst du eigentlich das Dokument auf?«

Er lächelte.

»Alle meine Geheimnisse teile ich mit dir, aber dieses eine möchte ich dir doch nicht verraten.«

Sie runzelte ärgerlich die Stirne.

»Ist das dein Ernst?« Traust du mir nicht mehr?«

»Ich traue dir wie immer. Aber eine solche Tatsache ist am besten möglichst wenig Leuten bekannt. Du gewinnst ja doch nichts dadurch, daß du es weißt. Es könnten doch Umstände eintreten, in denen dir diese Kenntnis verhängnisvoll werden könnte. Laß dir raten, und frage nicht mehr danach.«

Stellas Züge verdüsterten sich.

»Mir allein hast du den Besitz des Schriftstücks zu verdanken? Wenn ich bedenke, daß dein Leben nun ständig gefährdet ist, wäre es wirklich besser, es wüßte noch ein anderer das Versteck.«

Er sah sie gelassen und ruhig an.

»Verzeih mir, aber ich habe nicht die Absicht, es dir oder irgendeinem anderen zu sagen.«

Sie beendeten ihre Mahlzeit schweigend. Nur noch einmal kam sie auf das erste Thema zu sprechen, »Vielleicht hat dir dein Gewissen einen Streich gespielt, und du betrachtest es jetzt als eine Ehrensache, meiner Kusine das Dokument zurückzugeben. Sie hat wirklich wunderbar große, schöne Augen, und sie hat inzwischen wahrscheinlich gelernt, sie einigermaßen zu gebrauchen.«

Norris Vine antwortete nicht darauf, und kurze Zeit später trennten sie sich nicht in der besten Stimmung.


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