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16.
Der Priester

»Adrea!«

Der Ruf klang wie ein gellender Schrei durch das Zimmer, und die beiden fuhren wie schuldbewußte Kinder auseinander. Erschrocken starrten sie zur Tür. Die alte Dame, die Adrea ihre Stieftochter genannt hatte, stand dort mit bleichem Gesicht, und hinter ihr tauchte eine große, dunkle Gestalt auf.

Adrea gewann die Fassung zuerst wieder. Sie stand etwas weiter entfernt und konnte nur die Frau sehen.

»Was willst du?« fragte sie schnell. »Ich wünschte hier allein zu sein.«

Es kam keine Antwort. Die unheimliche Stille wurde durch einen Ausruf Pauls unterbrochen, der plötzlich in dem Halbdunkel die Gestalt des Mannes erkannte.

»Mein Gott!«

Pater Adrian trat vor.

Der Verdacht, der kurz in Paul auftauchte, verschwand sofort wieder, denn Adrian war ebenso erstaunt wie er selbst. Als sich ihre Blicke trafen, schauderte sie zusammen bei der Erinnerung, die die Erscheinung dieses düsteren Mannes in ihr hervorrief.

»Paul de Vaux, ich hatte nicht geglaubt, daß ich Sie hier treffen würde«, sagte Pater Adrian strenge.

Paul hielt seinen Blick ruhig aus und sah ihn von oben herab an. Er war entrüstet über den ermahnenden, ja fast drohenden Ton des Priesters, denn er war Adrian gegenüber in keiner Weise verantwortlich.

»Ebensowenig habe ich Sie hier erwartet«, entgegnete er. »Ich dachte, Sie wohnten in dem Kloster.«

»Ja, da wohne ich auch.«

Madame de Merteuil trat langsam in das Zimmer. Sie zitterte noch, und ihre Stimme klang schwach und gebrochen.

»Pater Adrian ist hier nur zu Besuch. Er kam ebenso unerwartet wie Sie.«

»Warum ist er hierhergekommen?« fragte Adrea langsam. »Was will er denn von uns?«

Pater Adrian wandte sich ernst an sie.

»Ich bin hierhergekommen, um Madame de Merteuil aufzusuchen. Ich bringe ihr eine Botschaft von einem alten Mann, an dessen Seite sie weilen sollte. Es ist unrecht, daß sie ihn verlassen hat. Auch glaubte ich nicht, Sie hier zu sehen, und außerdem noch so.« Er trat einige Schritte auf sie zu. Zorn und Empörung verfinsterten seine hageren, asketischen Züge. »Es scheint Ihr Geschick zu sein, daß Sie all denen, die über Sie wachen und Sie behüten wollen, nur Kummer und Sorgen bringen. Wo und wie haben Sie gelebt, seitdem Sie geflohen sind? Sie brauchen mir nichts zu erklären. Ich weiß genug. Ich habe Sie hier in den Armen des Mannes gefunden, den Sie von allen Menschen in der Welt am meisten fliehen sollten. Ungetreu Ihrer Kirche, ungetreu Ihrem Glauben, ungetreu dem Gedächtnis Ihres Vaters! Sie sind schamlos!«

Sie sah ihn ruhig, furchtlos und selbstbeherrscht an.

»Sie sind ein Priester und vergessen, daß ich nicht länger unter Ihrer Gewalt bin und daß Sie mir nichts mehr zu sagen haben. Sie können mir nicht mehr drohen, daß ich eine Nonne werden muß. Erinnern Sie sich daran, daß ich nichts mehr mit Ihnen zu tun habe und nicht mehr zu Ihrer Kirche gehöre.«

»Aber ich kann Sie zurückbringen! Ich habe die Macht dazu.«

»Ich lache über Ihre Macht. Ihre Religion ist kalt und erbarmungslos, und ich hasse sie. Sie können mich damit nicht schrecken. Ich frage nicht mehr danach. Ich weiß, daß Sie schreckliche Dinge tun können im Namen Ihrer Kirche, und wenn ich noch auf dieser entsetzlichen Insel leben müßte, würde ich mich vor Ihnen fürchten. Aber hier bin ich frei.«

Instinktiv sah sie zu Paul hinüber, der in ihren Gedanken immer ihr Beschützer gewesen war. Er würde nicht dulden, daß man ihr ein Leid zufügt. Er war stark, reich und mächtig. Die Angst und Furcht, die sie in der Vergangenheit gequält hatten, waren jetzt nur noch Schatten der Erinnerung. Die schrecklichen Zeiten waren vorüber und konnten nicht wiederkommen.

»Ich bin nicht hier, um mit Ihnen zu reden«, sagte der Mönch ruhig. »Ich hatte Madame Merteuil eine Botschaft zu überbringen, und das habe ich getan. Ich gehe jetzt. Paul de Vaux, unser Weg führt eine lange Strecke dieselbe Straße. Ich muß mit Ihnen sprechen. Kommen Sie mit mir.«

Paul erholte sich allmählich von seiner Bestürzung, und als er seine Fassung wiedergewann, schwand auch etwas von der Leidenschaft, die ihn so plötzlich gepackt hatte. Aber er empfand keine Reue über das Geschehene und er fühlte sich an diese Frau gebunden.

»Gut, ich werde Sie begleiten«, erwiderte er. »Morgen komme ich wieder, Adrea.«

Sie sah argwöhnisch und besorgt auf den Priester.

»Was will er von dir, Paul? Gehe nicht mit ihm!« bat sie leise.

»Ich muß«, antwortete er traurig. »Er hat mir etwas zu sagen, und ich will es hören. Morgen bin ich wieder bei dir.«

Sie zog ihn zur Seite.

»Nimm dich vor ihm in acht. Er ist fanatisch. Traue ihm nicht und sage ihm möglichst wenig. Gute Nacht, mein Liebster!«


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