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5.
Sturmzeichen

»Paul!«

Der junge Mann war unangemeldet in das kleine Wohnzimmer seiner Mutter getreten. Er sah müde und abgespannt von der Reise aus und sie sah ihn besorgt an als sie sich erhob.

»Bitte, ängstige dich nicht«, sagte er, neigte sich zu ihr und küßte sie. »Es geht mir gut.«

»Und was macht Artur?«

»Ich war gestern nachmittag mit ihm zusammen. Es geht ihm auch gut. London fällt mir auf die Nerven. Das ist alles. Deshalb bin ich hierher gekommen, um mich auszuruhen, und vielleicht ein paar Tage auf die Jagd zu gehen.«

Sie war froh, daß sie ihren ältesten Sohn wieder einige Zeit bei, sich hatte. Die sympathische ältere Dame hatte weiße Haare, schöne Züge und eine aufrechte Haltung, aber wenn man sie näher betrachtete, zeigten sich viele Sorgenfalten in ihrem sonst so bescheidenen Gesicht.

»Morgen wird eine Schnitzeljagd geritten. Treffpunkt im Wald von Dytchley. Hoffentlich wirst du dich erholen. Lege deinen Mantel ab. Ich werde Tee für dich kommen lassen.«

»Danke. Ich bin von der Station aus zu Fuß gekommen und es war sehr kalt. Das warme Kaminfeuer hier tut gut.«

»Ich wünschte nur, ich wäre auf dein Kommen vorbereitet gewesen. Dann hätte ich natürlich den Wagen an den Bahnhof geschickt.«

»Ich habe mich erst im letzten Augenblick zu dieser Reise entschlossen und bin gerade noch zum Zuge zurechtgekommen. Dick Carruthers wollte mich für ein paar Tage nach Paris mitnehmen, aber das paßte mir nicht. Es soll naß, kalt und regnerisch dort sein. Und in dem alten Schloß Vaux Court ist es so behaglich.«

»Ja, es gehört zu den schönsten englischen Sitzen«, erwiderte seine Mutter und schenkte ihm eine Tasse Tee ein. »Obgleich es abseits von den großen Verkehrsstraßen liegt, waren doch in der letzten Woche über ein Dutzend Leute hier, um die Arbeit zu besichtigen. Ich gebe immer meine Einwilligung dazu, wenn du nicht zu Hause bist.«

Paul trank seinen Tee und machte es sich in einem weichen Sessel bequem.

»Was für Leute kommen denn gewöhnlich? Wohl meistens Geistliche und Architekten, vielleicht auch einige Kunsthistoriker?«

»Ja, aber auch viele Amerikaner. Vorgestern war sogar ein römisch-katholischer Priester hier. Er ist den ganzen Tag in den alten Klosterruinen umhergegangen, soviel ich weiß.«

Paul rückte etwas näher zu seiner Mutter heran, und sie erkannte, wie bleich und angegriffen er aussah.

»Bist du krank?« fragte sie ängstlich. »Was fehlt dir?«

»Nichts, ich bin nur müde. Es ist eine lange Reise von London, wie du weißt, und außerdem bin ich doch den weiten Weg vom Bahnhof hierher zu Fuß gegangen. Es ist wirklich nichts, ich fühle mich sonst sehr wohl.«

»Du sahst eben so aus wie dein Vater«, sagte sie leise. »Ich fürchtete mich immer, wenn er diesen Gesichtsausdruck hatte.«

Er rückte seinen Stuhl wieder in den Schatten, so daß man sein Gesicht nicht genau sehen konnte. Aber Mrs. de Vaux war nur halb befriedigt.

»Ich fürchte, du bleibst nachts zu lange auf. Lord Westover erwähnte neulich, daß du viel mit Journalisten, Schriftstellern und Malern verkehrtest, und diese Leute machen ja die Nacht zum Tage.«

»Lord Westover kann sich darüber kein Urteil erlauben. Ich empfinde es als eine persönliche Auszeichnung, daß ich in diesen Kreisen verkehren kann. Sie sind ebenso exklusiv wie unsere offizielle Gesellschaft, und man findet viel Kultur bei ihnen.«

»In gewisser Weise stimmt das. Aber vielleicht nimmst du jetzt lieber ein Bad und kleidest dich um, du siehst noch blaß und angestrengt aus. Eine Erfrischung tut dir sicher gut. Ich werde Reynolds klingeln. Du hast doch wahrscheinlich deinen Kammerdiener nicht mitgebracht.«

Er streckte seine Hand aus und hinderte sie daran.

»Warte bitte noch einen Augenblick, Mutter. Ich sitze hier so gemütlich und möchte noch etwas bleiben. Dieses Zimmer habe ich immer besonders gern gehabt.«

Er sah sich in dem merkwürdigen sechseckigen Raum um, dessen Wände mit alten Eichentäfelungen bedeckt waren. Die Decke war in Form eines kuppelartigen Gewölbes konstruiert. Die Möbel waren echte Stücke in Louis-XV.-Stil, und die Verzierungen der Wände stimmten mit dem Ornament der Möbel überein.

»Ich halte mich auch gern hier auf«, sagte sie ruhig. »Heute abend ist der blaue Salon geöffnet. Wir werden dort speisen, aber nur weil Lord und Lady Westover zum Essen kommen. Ich fürchte, May kann nicht erscheinen. Sie soll sich erkältet haben, ihre Gesundheit scheint nicht sehr stark zu sein.«

Paul schien sich für diese Mitteilung wenig zu interessieren. Er blieb aus einem ganz bestimmten Grund, der nichts mit May Westover und ihrer Gesundheit zu tun hatte. Dagegen wollte er etwas erfahren, ohne jedoch die Aufmerksamkeit seiner Mutter zu erregen.

»Amerikaner müssen sich ja für Ruinen sehr interessieren«, warf er hin.

»Ja, das sollte man meinen, wenn man sie sieht. Aber Reynolds liebt sie nicht. Sie sind ihm zu vertraulich und stellen zu viele indiskrete Fragen. Der katholische Priester, der neulich hier war, ist schon viel interessanter. Er ging in den Klosterruinen umher, als ob er sie schon sein Leben lang gekannt hätte. Reynolds erzählte mir auch, daß der Mann das Kloster sehr liebte, und daß er zwei Stunden lang in der Kapelle gebetet hätte.«

»Hast du ihn auch selbst gesehen?«

»Ja, aus der Entfernung. Ich habe damals nicht besonders auf ihn geachtet. Das tat mir nachher leid, als ich Reynolds Bericht hörte. Es muß sehr traurig für ihn gewesen sein, in der alten, kahlen Kapelle zu weilen. Die Katholiken achten und ehren ihre Kirchen und Kapellen weit mehr als wir, ihr Gottesdienst hat etwas so Berauschendes und Erhebendes, und ihr Verhältnis zur Religion ist mehr von persönlicher Zuneigung und Liebe getragen.«

Paul bewegte sich unruhig in seinem Stuhl. »Er ist dir also nicht besonders aufgefallen?«

»Wen meinst du? Wer soll mir aufgefallen sein?«

»Natürlich der katholische Priester, von dem wir eben sprachen.«

»Seine Gesichtszüge habe ich nicht gesehen. Ich kann mich nur darauf besinnen, daß er sehr groß war. Wenn du dich für ihn interessierst, kann dir Reynolds sicher noch viele Einzelheiten erzählen. Da kommt er gerade.«

Ein grauhaariger Diener war eingetreten und Mrs. de Vaux wandte sich an ihn.

»Reynolds, Mr. Paul möchte gerne von dem katholischen Priester hören, der gestern so lange hier war und die Abtei besichtigt hat. Können Sie ihn genauer beschreiben?«

»Ich fürchte, das kann ich kaum«, antwortete der alte Mann respektvoll. Diese Priester sehen sich alle so ähnlich, wenn sie die langen, dunklen Gewänder tragen. Er war groß und hager und hatte ein vollkommen glattes Gesicht. Sonst ist mir nichts aufgefallen. Nur sprach er mit ausländischer Betonung.«

»Wissen Sie auch genau, daß es wirklich ein Priester war?« fragte Paul gleichgültig. »Man hört in der letzten Zeit so viel von Betrügern, die nur eine Gelegenheit wahrnehmen, um die Häuser kennenzulernen, in die sie später einbrechen wollen. Ich bin solchen Leuten gegenüber immer etwas mißtrauisch.«

»Ich bin ganz sicher, daß es kein Betrüger war«, entgegnete Reynolds zuversichtlich. »Dazu interessierte er sich viel zu sehr für die Abtei selbst. Er kannte die Geschichte des Klosters besser als sonst jemand, den ich hier getroffen habe. Wenn es ein Dieb oder Einbrecher gewesen wäre, der hier nur spionieren wollte, dann hätte er mir Geld angeboten und hätte sicher versucht, mich fortzuschicken.«

»Das stimmt«, erwiderte Paul. »Waren Sie die ganze Zeit bei ihm?«

»Fast dauernd. Er plauderte gern mit mir und hielt mich zurück, als ich gehen wollte. Er hat sich auch alles Sehenswerte genau betrachtet. Außerdem hat er nicht das Schloß selbst sehen wollen wie die anderen Besucher, die doch hauptsächlich die berühmten Gemälde in der Galerie betrachten wollen. Er ist nur in den Ruinen gewesen.«

»Das ist natürlich entscheidend«, sagte Paul kurz. »Ein Dieb oder Einbrecher interessiert sich nicht für Ruinen. Mein Verdacht war vollkommen unbegründet.«

»Der Priester fragte auch noch, ob Sie viel hier wären, und wann Sie wiederkommen würden«, bemerkte Reynolds, bevor er den Raum verließ.

Paul sah auf. Eine merkwürdige Furcht überfiel ihn plötzlich. Das Totenzimmer seines Vaters stand wieder vor ihm, und er erlebte im Geist noch einmal die tolle, gefährliche Fahrt mit der Jacht. Er sah die Wellen am Hafeneingang vor sich, die über dem Deck zusammenschlugen und ihn vollständig durchnäßten, und er dachte an die endlos bangen Stunden, in denen sie in der Nacht vorher auf das kleine flackernde Licht los? steuerten, das in dem fernen Klostergemach leuchtete. Wieder war es ihm, als ob er das Heulen des Sturmes und das Donnern der Meereswogen hörte, das als dumpfe, düstere Melodie die traurigen Vorgänge begleitete. Er glaubte das monotone, singende Beten des düsteren Mönches zu vernehmen, und er sah im Geiste, wie das zynische Lächeln auf den Zügen des großen Mannes am Bettende plötzlich er? starb, als dieser tot zusammenbrach. Und dann tauchte das kleine, braune Mädchen mit den wirren, dunklen Locken und dem tränenbenetzten Gesicht vor ihm auf, die den Toten so krampfhaft umklammert hielt und die Fremden so ängstlich betrachtete.

Diese letzte Erinnerung brachte Paul plötzlich wieder zur Wirklichkeit zurück, und er dichte an Adrea, die einen so tiefen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Seine Wangen glühten, und er wußte nun wieder, warum er London verlassen hatte.

Seine Mutter beobachtete ihn scharf, und er konnte ihrem fragenden Blick nicht begegnen.

»Paul, hast du Sorgen oder Kummer?« fragte sie langsam.

»Ach, nein, es ist nichts, Mutter. Verzeih, daß ich meine Gedanken ein wenig wandern ließ.«

Sie war zu stolz, um sein Vertrauen zu bitten, und als gleich darauf der Gong aus der Halle ertönte, erhob sie sich.

»Wir haben heute abend einige Gäste, Paul. Denke daran, und komme nicht zu spät.«

»Ich werde pünktlich sein, Mutter.«

Sie verließen den Salon zusammen und trennten sich in der Halle. Mrs. de Vaux blieb noch, um den Hausmeister zu sprechen, und Paul stieg die breite Treppe allein hinauf. Auf dem Gang im ersten Stockwerk blieb er stehen und starrte aus einem hohen Bogenfenster auf die Klosterruinen hinunter, die unten im Park lagen. Das Wetter war frostig und klar, er konnte das verfallene Mauerwerk genau erkennen, obwohl der Mond nur schwach schien. Es lag wie ein geheimnisvoller Zauber über diesen schönen, malerischen Ruinen, und als Paul länger hinschaute, änderte sich sein Gesichtsausdruck. Aber plötzlich trat eine dunkle Gestalt langsam aus dem Schatten der Pfeiler hervor und blieb hochaufgerichtet und bewegungslos stehen.


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