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XXII. Ueber treibendes Eis.

Es ist also wahr. Der Schlag ist gefallen, schwer auf uns niedergefallen, wir müssen uns beugen und uns wieder aufrichten, wir dürfen nicht erlahmen, denn erst jetzt beginnt der Kampf, der wirkliche Kampf um unser Leben. Ein Zurück gibt es hier nicht.

Unser Heim ist dahin. Was haben wir nicht verloren! Wer denkt wohl in diesem Augenblick an alle die persönlichen Besitztümer, die jetzt für immer verschwunden sind? Die Sammlungen – ihnen galten die ersten Worte, die K. A. Andersson und ich miteinander wechselten. Wie sollten wir die je ersetzen? Dahin waren die Früchte so grossen Fleisses, unsere Freude, unser Stolz. Allerdings waren es nur die Ergebnisse unserer Arbeit in den letzten Monaten, aber es waren doch gerade die wichtigsten, unsere antarktischen Sammlungen. Ich betrauerte sie in jener Stunde, ich betrauere sie noch heute, und die Trauer wird nicht schwinden, bis ich sie durch andere ersetzt habe.

Ganz auf uns allein angewiesen, befanden wir uns nun Hunderte von Meilen von bewohnten Ländern entfernt auf einer treibenden Eisscholle, ohne zu wissen, ob wir morgen noch am Leben sein oder auf dem Meeresgrunde liegen würden! Die Lage war in hohem Masse ernst, das musste man sagen. Wer nie etwas ähnliches erfahren hat, wird kaum im stande sein, sich eine Vorstellung davon zu machen, wie uns zu Mute war.

Im besten Falle konnte es uns gelingen, das Ufer zu erreichen. Wenn man aber jetzt, hinterher, die obwaltenden Verhältnisse erwägt, so sieht man, dass eine solche Wahrscheinlichkeit nur sehr gering war. Wir konnten in erreichbarer Entfernung nur auf einen einzigen Platz, die Paulet-Insel, rechnen, überall sonst traten uns steile Felswände oder Gletscherabbruchstellen entgegen, auf denen wir keine Aussicht hatten, unser Dasein fristen zu können.

Und selbst, wenn wir glücklich an Land gelangten, was dann? Ein Winter in diesen Breitengraden, mit, so zu sagen, zwei leeren Händen, während die Erinnerung an das Vergangene unsere Gemüter belastete und die Hoffnung auf Errettung ganz verzweifelt war!

Kann man denn wirklich seinen Ohren trauen? Aus dem Zelte heraus, das aus einigen Stangen und zwei Bramsegeln und einem Marssegel als Fussboden verfertigt ist, klingen muntere Stimmen, eine Lachsalve löst die andere ab, und eine Handharmonika begleitet das Ganze.

Es ist wirklich sonderbar. Ist denn keine Spur von Ernst in uns? Hat der eben erlittene, unerhört grosse Verlust unserm Frohsinn denn keinen Abbruch getan? Wer nicht selbst etwas ähnliches durchgemacht hat, für den wird dies sicher ein völliges Rätsel sein. Aber ich glaube doch, dass es eine Erklärung dafür gibt.

Die Spannung hatte nachgelassen. Wir wussten jetzt, womit wir zu rechnen hatten. Wir wussten, dass wir kein Schiff mehr hatten, dass wir in diesem Jahre Schweden nicht wiedersehen würden; aber wir empfanden doch eine gewisse Erleichterung, die entsetzliche Ungewissheit, die unsern nächtlichen Schlaf gestört hatte, war endlich durch eine Gewissheit abgelöst, freilich durch eine schreckliche Gewissheit, trotzdem schliefen wir aber in der ersten Nacht auf dem Eise so ruhig und tief, wie es uns seit einem ganzen Monat nicht vergönnt gewesen war. Wie sich unser Geschick gestaltete, war natürlich gänzlich ungewiss, und doch waren wir ganz getrost. Wir waren fest überzeugt, dass es uns gelingen würde, zu landen, eine Hütte zu errichten und unser Leben zu fristen. Unser Ziel war die Paulet-Insel, deren steiler Gipfel in Nord-Nord-West aufragte, sich schwarz von der weissen Oberfläche des Dundee-Gletschers abhebend. Was dann die spätere Zukunft anbelangte, so suchten wir uns in diesem Augenblick gegenseitig einzureden, dass uns eine schwedische Expedition aufsuchen würde. Niemand von uns zweifelte daran. War das nicht ganz richtig? Mussten wir nicht die Hoffnung aufrecht erhalten? Frischen Mut, Kameraden: »Es kommt der Tag, es ist nicht alles aus!«

Wir waren unser zwanzig, unter denen elf Norweger, sieben Schweden und zwei Engländer. Von diesen zwanzig waren nur der Kapitän, der erste Steuermann, der erste Maschinist, der Bootsmann und Tofte verheiratet. Und doch – wieviel trauernde Gattinnen!

Lange durften wir nicht müssig sein, – Arbeit gab es vollauf. Bunt durcheinander, in der wildesten Unordnung, lagen unser Proviant und unsere Habseligkeiten auf der Eisscholle. In der Nähe des Zeltes entwickelte sich bald ein reges Leben. Säcke wurden zusammengepackt, der Kleidervorrat wurde inspiziert, die an Bord aus Segeltuch und Filz verfertigten Schlafsäcke wurden für die Nacht zurecht gemacht. Wir Gelehrten wie auch die Offiziere hatten im grossen und ganzen hinreichend Bekleidungsgegenstände, wenn sie auch jetzt, so lange nach unserer Abreise, ein wenig mitgenommen waren. Doch waren wir nicht eigentlich für eine Überwinterung ausgerüstet. Unsere Friesanzüge reichten noch einige Zeit aus, und an Unterkleidern hatten wir an Bord mehr, als wir mitnehmen konnten. Aber dafür sollten wir reichlich Verwendung haben! Die Mannschaft befand sich in Anbetracht der Überwinterung nämlich in einem fast entblössten Zustand. So teilten wir denn also so gerecht wie möglich mit den Leuten.

Unser erster Lagerplatz auf dem Eise

Der Proviant, den wir mit auf das Eis nahmen, bestand in der Hauptsache aus Brot. An Gemüsen, die bei Überwinterungen von so grosser Bedeutung sind, war noch allerlei vorhanden, doch musste dies Quantum bei normalem Verbrauch schon im April verzehrt sein, ebenso unsere Vorräte an Fleisch und Fisch. Ferner hatten wir allerlei Graupen und Grütze, wie auch Erbsen. Tee, Kaffee und Zucker geborgen. Wir hatten nicht viel Aussicht, dies alles mit uns über das Eis führen zu können, beschlossen aber, vorläufig alles zu behalten, was nicht geradezu als Luxusartikel betrachtet werden musste. Vor allem mussten wir darauf bedacht sein, mit hinreichend kräftigen Speisen für die Eiswanderung versehen zu sein, da wir auf harte Arbeit vom Morgen bis zum Abend vorbereitet sein mussten. Wer konnte wissen, wie lange wir in der Lage sein würden, uns Nahrung zu verschaffen, deswegen galt es, acht zu geben.

Werfen wir einen Blick auf unsere Eingebung. Als die Katastrophe eintrat, waren wir ungefähr 25 englische Meilen von der Paulet-lnsel entfernt. Diese ist keineswegs ein einladender Platz, wir kannten sie von unserm Besuch am 15. Januar 1902. Übrigens tauchte rings umher am Horizont Land auf, sonst nur Eis, wohin man sich wandte. Damit konnten wir ganz zufrieden sein, wenn es nur entweder so dicht war, dass wir darauf gehen konnten, oder so zerstreut, dass wir hindurch zu rudern vermochten. Ein Mittelding aber war vom Übel. Auch darf man nicht glauben, dass dieses Eis eben wie ein Fussboden war. Das wäre zu bequem gewesen. Schraubeis war es alles, und dabei von schrecklicher Beschaffenheit. Kletterte man auf einen Eishügel und nahm man den Kriegsschauplatz in Augenschein, so konnte man verschiedene Eisschollen unterscheiden, ebenso die dazwischenliegenden mächtigen und unregelmässigen »Bergketten« aus Eis. Wenige Schollen waren von beträchtlicher Grösse, viele waren hoch und »bergig« und sahen wenig versprechend aus. Hier und da wurde ein Zwischenraum zwischen den einzelnen Schollen durch Schnee- und Eisschlamm ausgefüllt.

Der erste Abend auf dem Eise! Sonderbar, dass man auf einer Eisscholle so verhältnismässig bequem liegen und schwatzen kann. In wenigen Wochen erwarteten sie daheim ein Telegramm, das unsere glückliche Rückkehr meldete – ja, darauf mussten sie schon warten. Eine neue Quelle der Sorge wie würden sie die Sache auffassen, wie viele der unsrigen würden wir am Leben finden, wenn wir wirklich selber wieder zurückgelangten? Fort mit allen Gedanken! In den Schlafsack hinein und gute Nacht!

Den 13. Februar. Unsere Eisscholle ist ganz gross und sieht recht haltbar aus, wenn man bedenkt, dass es eine Schraubeisscholle ist; sie ist offenbar recht bedeutend vorwärts getrieben, denn wir haben uns der Paulet-Insel sichtlich genähert. Jetzt verlassen wir freilich den Kurs ein wenig. Das fehlte auch noch, dass uns das Eis in das Meer hineintreibt, dann hat es mit der Heimkehr lange Wege. Wir mochten so schnell wie möglich in die Bucht hineingelangen, müssen heute aber müssig daliegen, denn es weht stark aus Südwesten und der Schnee fällt dicht. Wir liegen ruhig im Zelt, wo Karten gespielt wird, während die Handharmonika ertönt, dazu sickert der Schnee durch die undichten Wände. Der Koch ist mit der Zubereitung des Essens beschäftigt; er summt eine Melodie vor sich hin, während er vor der Esse auf und ab trampelt. Ja, vor der Esse! Der Schmied, der sonst gerade kein sehr unternehmender Bursche ist, hat den klugen Einfall gehabt, seine Esse zu retten. Sie hat einen Fächer aus Blechflügeln, ist leicht und gut zu handhaben und verbreitet eine herrliche Wärme. Ich glaube nicht, dass der schönste Herd aus Huskvarna Eine grosse Fabrik in Schweden. jemals so gesegnet worden ist, wie unsere Esse. Wir haben ein paar grosse Stücke Kohlen für unsern Marsch über das Eis mitgenommen. Wenn wir an Land kommen, werden wir wohl Speck in Blechdosen brennen müssen, das wird natürlich nicht so angenehm sein.

Den 14. Februar. Jetzt war das Wetter menschlich, und der Umzug begann. Das Boot, unter das wir Schienen befestigt hatten, wurde mit allerlei Gegenständen gefüllt, dann fassten wir, ungefähr zehn Mann, an die Leinen, die an seiner Spitze befestigt waren und zogen davon. Auf ebenem Boden ging es ausgezeichnet, aber schon nach einer kleinen Weile standen wir vor einem Schraubwall. Jetzt mussten die Äxte hervorgeholt werden, wir beseitigten die ärgsten Unebenheiten, zogen an – haiho! – jetzt glitt der Schlitten den Abhang mit der Schnelligkeit eines Eilzuges hinab. Hin und her, ohne Aufenthalt, den ganzen Tag, von Zeit zu Zeit ein paar Tassen Kaffee und ein Butterbrot. Unter Lachen und Scherzen schreitet die Arbeit fort, und am Abend schlagen wir abermals unser Lager auf. Die Strömung treibt uns beständig auf die Paulet-Insel zu, unserer Berechnung nach sind wir nur noch 10 Gradminuten davon entfernt.

Den 15. Februar. Der Transport ist recht beschwerlich. Ich habe Schmerzen am ganzen Körper, ungeübt in körperlicher Arbeit, wie ich bin. Wir haben zu schleppen: Drei schwere Segel, eine Menge Planken, die Boote, die Brotfässer, alle Konservendosen, das Petroleum, die Schlafsäcke, Kleidersäcke, Matratzen, ein Kanoe voll verschiedener Gegenstände, sowie allerlei Kleinigkeiten.

Heute haben wir alle Mahlzeiten regelmässig innegehalten, Frühstück, Mittagessen, Kaffee und Abendbrot. Da geht die Arbeit besser von statten.

Wir wagen nicht, alle gleichzeitig zu schlafen, denn man kann nie sicher sein vor den Schraubeisschollen. Eine kleine Kollision würde bei der Bewegung, in der sich das Eis befindet, nichts überraschendes sein. In regelmässiger Reihenfolge hält deswegen stets einer von uns Wache. Diese stillen Nachtstunden sind die einzigen, in denen man allein mit seinen Gedanken ist. Im übrigen wird man derartig von all der Arbeit und Anstrengung, die der Transport im Gefolge hat, in Anspruch genommen, dass einem keine Zeit zu Grübeleien bleibt, und das ist sehr gut.

Den 17. Februar. Die ganze Nacht hat es stark geschneit; es war kalt und stürmisch während meiner Wache, und erst am Vormittag wurde es ein wenig besser.

Neben unserer Eisscholle hatte sich eine kleine Wake gebildet, wir ruderten mit allen unsern Sachen da hinüber und schlugen unser Lager neben einigen Eisbergen auf; jetzt befinden wir uns wohl nur noch 6 Gradminuten von der Insel entfernt.

Der Umzug war ein kaltes und nasses Vergnügen, es waren im ganzen elf grössere und kleinere Bootslasten; eine neue Sorge: Wie in aller Welt sollen wir das alles an Land schaffen!

Den 19. Februar. Während meiner Wache von 12-1 Uhr nachts wehte ein südlicher Wind, der mich förmlich in die Nase biss. Während des ganzen Tages herrschte ungefähr das gleiche Wetter, nur auf Augenblicke durch die Strahlen der Sonne gemildert. Wir haben das Zelt und noch eine Menge anderer Sachen eine gute Strecke näher an die Paulet-Insel herangeschafft, aber es war eine entsetzliche Arbeit. Von einem Eishügel aus hatten wir einen leidlichen Weg erspäht, aber das Eis war unruhig und fing an zu schrauben, es füllte in einem Augenblick alle die feinen Durchgänge aus, die wir für unsern »Schlitten« ausersehen hatten. Ich ging voraus und schlug einen Weg durch das Eis, aber das war sehr mühsam. Wir mussten die unregelmässigsten Eisalpen kreuzen, und die Axt musste die schlimmsten Vorsprünge ebnen. Wir waren todmüde von dieser Arbeit, bei der wir einander abgelöst hatten, als wir endlich in unsere Schlafsäcke kriechen konnten.

Der 21. Februar. Während der ganzen Nacht hatte ein frischer Nordost geweht; freilich flaute er im Laufe des Vormittags ab, aber das Eis war offenbar stark ins Treiben geraten. Unsere kleine offene Stelle vom vorhergehenden Tage war aber noch da, und wir machten uns schnell daran, alles nach der Eisscholle hinüber zu schaffen, wohin wir schon gestern eine Menge gebracht hatten. Wir waren gerade hiermit beschäftigt, als das Eis unruhiger denn je wurde, und ehe wir's uns versahen, fing die Wake an, sich zu schliessen. Es wurde unmöglich, zu rudern, wir befestigten die Leine an den Bug, und einige von uns mussten nun das Boot zwischen den Eisschollen hindurchziehen. Wir wateten in tiefem Schnee, fuhren über Eishügel hinweg, wo man kaum festen Fuss fassen konnte, wir sprangen und kletterten hin und her. Das Eis schloss sich immer fester zusammen, schliesslich mussten wir das Boot schleunigst auf das Eis ziehen, damit es nicht zerquetscht wurde. Aber noch blieb uns eine Menge Arbeit auf dem alten Lagerplatz, und es wurde Abend, ehe wir unser Zelt aufschlagen konnten.

Heute haben wir eine Menge Pinguine gesehen. Es hat fast den Anschein, als zögen sie teilweise ins Meer hinaus. Alle gehören zu der Art Pygoscelis Adeliae. Hin und wieder während des Transportes begegnet uns eine lange Reihe – sie liegen auf dem Bauch und stossen sich mit den Füssen vorwärts, wobei sie sehr drollig aussehen. Sobald sie uns erblicken, richten sie sich ganz entsetzt auf. Übrigens scheinen sie zu dieser Zeit des Jahres besonders guter Laune zu sein. Wir haben versucht, sie zu essen, ihr Fleisch ist mürbe und recht schmackhaft, – welch ein herrlicher Fleischvorrat für den Winter! Junges Geflügel ist nicht das schlechteste!

Den 22. Februar. Heraus aus dem Schlafsack! Es ist ein Uhr! Ja, jetzt hat das Vergnügen ein Ende. Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen und ziehe die Stiefel an. Es ist windstill, sternenklar und schön. Rings umher herrscht tiefe Stille, nur die regelmässigen Atemzüge aus dem Zelte dringen an mein Ohr. Sie schlafen gut da drinnen. Hin und wieder tönt der Schrei eines Pinguins durch die Nacht und erinnert mich an die Wirklichkeit, sonst könnte ich mich in die Heimat zurückträumen. Ich hole die kurze Pfeife heraus und tue wenige Züge. Wer weiss, wie lange man diesen Sorgenbrecher noch hat, oder richtiger, wie lange man noch etwas hat, was man hineinstopfen kann? Das Eis liegt regungslos da; hier und da ragt ein Eisberg gleich einer mächtigen, drohenden Mauer aus dem Dunkel auf. Die Uhr ist 2, unbarmherzig wecke ich meinen Nachfolger. Und dann in den Sack hinein, in den tausendmal gesegneten Schlafsack!

Was ist da auf einmal los? »Alle Mann heraus!« Was gibt's? Das Eis hat angefangen, sich zu rühren, und neben der Eisscholle hat sich eine offene Stelle gebildet. Schnell ist alles in Bewegung, und alle Boote werden ausgesetzt. Wir arbeiten mit Dampf, wir haben bereits mehrere Bootslasten hinübergeschafft, als sich das Eis ganz unvermutet wieder schliesst. Ein Boot ist gerade beladen und soll hinübergerudert werden. In aller Eile wird es wieder geleert, und es gelingt uns noch, es aufs Eis zu ziehen. Unruhig sehen wir nach dem andern Boot aus, das sich unterwegs befindet. Nun, es wird den Kameraden auch wohl gelungen sein, es in Sicherheit zu bringen. Nur Geduld! Es währt eine ganze Weile, fast scheint es, als ob sich das Eis wieder beruhigen wollte. Es ist jetzt ganz dicht, bis an die neue Eisscholle heran. Als wir stehenden Fusses Mittag gegessen haben, sehen wir uns nach einer neuen Passage um. Nie habe ich etwas ähnliches von Eishügeln gesehen. Aber Axt und Hacke räumen die ärgsten Hindernisse aus dem Wege, und dann geht es vorwärts. An einer Stelle hat sich eine mehrere Meter breite Rinne gebildet, aber es liegen einige Eisschollen dann, und auf die springt man hinüber, die Fangleine in der Hand, an der das Boot herauf gezogen wird wir ziehen aus Leibeskräften, denn die Scholle hat steil abfallende Ränder.

Wir sind eben zurückgekehrt, um eine neue Bootsladung zu holen, als es sich herausstellt, dass eine Rinne, die eben noch ganz unbedeutend war, sich jetzt so erweitert hat, dass wir, ohne, einen langen Umweg zu machen, nicht hinüberkommen können. Ein paar Minuten später ist die ganze Eismasse, die eben noch so dicht lag, in eine Menge umhertreibender Eisschollen und Eishügel aufgelöst. Wir machen noch eine letzte Anstrengung, weiter vorzudringen, sehen uns aber schliesslich als Gefangene auf einem hohen Eishügel. Das Eis ist jetzt in die wildeste Bewegung geraten. Die Eisschollen wirbeln herum, bald hierher, bald dorthin, stossen zusammen und zerschellen. Auf der neuen Eisscholle steht eine Gruppe von Leuten, und auch auf der alten sind ausser den Sachen ein paar Mann zurückgeblieben. Hier sitzen wir mit dem Boot fest und segeln umher, und auf einem andern Eishügel sieht man einige Gestalten, die gerade im Begriff waren, einen Brotsack, einige Bretter und einen Kleidersack hinüber zu tragen, jeden nach seiner Richtung hin davonsegeln. Endlich beruhigt sich das Eis ein wenig, und nach und nach versammeln wir uns wieder und stärken uns mit einer Tasse Kaffee. Aber eine Menge von unsern Habseligkeiten, und darunter recht unentbehrliche Gegenstände, liegen rings umher über das Eis zerstreut. Wir haben ja nur einen »Schlitten«, und nur ganz langsam dringen wir vor. Mit zehn Mann steuern wir auf eine kleine, weit entfernt liegende Eisscholle los, wo ein Teil unserer Sachen gelagert war. Es geht steile Eishügel hinan und ebenso steile Abhänge wieder ins Wasser hinab, dann wieder auf eine Eisscholle hinauf, hinaus in den Eisschlamm, der so dick ist, dass man nicht darin rudern kann, weshalb wir, an der Reeling auf den Knien liegend, uns mit Seehundshaken hindurcharbeiten müssen. Es währt nicht lange, bis man bis hoch an den Beinen hinauf durchnässt ist. Wennersgaard ist mit dabei, lebhaft und sorgsam arbeitet er mit fieberhaftem Eifer. Schliesslich gelingt es uns, die abhanden gekommenen Vorräte zu erreichen und sie zurückzuführen. Es tut gut, sich eine Weile zu verschnaufen.

Noch liegt viel auf andern Eisschollen zerstreut. Wir wissen nicht genau, was uns noch fehlt, und geben uns nicht die Mühe, lange darüber nachzudenken. Morgen ist ja auch noch ein Tag, und da wird es uns schon gelingen, das fehlende zu sammeln. Wir sorgen nie für den morgenden Tag, so ziehen wir denn auch jetzt den Filz über den Kopf und schlafen bald den Schlaf des Gerechten. Man liegt ein wenig hart, die Matratze reist auf eigene Faust herum.

Den 21. Februar. Freilich kam der morgende Tag. Und jeder Tag hat seine eigene Klage, das ist ein wahres Wort, und das bestätigte sich auch jetzt. Es ist windstill und das Wetter ist keineswegs unangenehm, aber es ist neblig, und der Nebel ist so dicht, dass wir kaum mehr als ein paar Meter über das Eis hinwegsehen können, das noch immer stark im Treiben begriffen ist. Es ist, als gehe man mit verbundenen Augen durch einen Wald. Jede Minute kann ein Eisberg auftauchen, gegen unsere Eisscholle treiben, und dann – Lebewohl! Über Nacht trieb einer vorüber und riss ein Stück von dem Rande unserer Eisscholle mit fort.

Allmählich werden wir uns klar darüber, was wir an unserer Ausrüstung eingebüsst haben. Die Matratzen sind fort, alle unsere Planken, mit Ausnahme von zweien, die drei Paar Schneeschuhe, die wir besessen, ein Kanoe voll wollener Unterkleider, sowie fast unser ganzer Salzvorrat. Wieviel Nutzen und Vergnügen hatte man sich nicht für den kommenden Winter von den Schneeschuhen versprochen! Das Salz betrauerte ich tief. Nur noch eine Dose davon war uns geblieben, aber selbst bei der grössten Sparsamkeit war sie in wenigen Wochen verbraucht. Diesen Verlust habe ich nie verschmerzt, ich hatte immer einen förmlichen Hunger nach Salz.

Der Nebel hielt den ganzen Tag und auch die folgende Nacht an. Erst am nächsten Vormittag lichtete er sich ein wenig, und nun konnten wir sehen, dass wir der Paulet-Insel sehr viel näher gekommen waren. Vergebens spähten wir den ganzen Tag nach den verlorenen Sachen, nichts war zu entdecken. Aber dass wir auf die Insel zutrieben, hob unsern Mut doch ein wenig. Unsere Eisscholle schien direkt auf den Strand loszutreiben, mehr als einer von uns war sanguinisch genug, zu glauben, dass wir unmittelbar an Land klettern könnten. Wir hatten die Insel West-Nordwest. Am Abend waren wir so nahe herangekommen, dass ein Matrose behauptete, die Steine am Strand sehen zu können, was freilich von einem mehr als normalen Sehvermögen zeugte.

Den 25. Februar. Am nächsten Morgen sah es schön aus! Die Paulet-Insel lag Nord zu Ost – in weiter Ferne am Horizont! Die Strömung hatte uns vom Lande ab, nach Süd-Südwest geführt, und während des ganzen Vormittags entfernten wir uns immer mehr. Dann trat eine Wandlung ein, leise und vorsichtig fuhren wir auf die Dundee-Insel zu. Im Laufe des Tages tat sich eine grosse Wasserfläche nach dem Lande zu auf, und wir säumten nicht, uns diese Gelegenheit zu nutze zu machen. Alle Boote wurden schnell beladen, und wir steuerten auf eine mächtige Schraubeisscholle zu, die wir zu unserm künftigen Nachtquartier ausersehen hatten. Die ganze Ladung war jetzt soweit zusammengeschmolzen, dass wir sie mit zweimaliger Fahrt in den drei Booten befördern konnten.

Den 26. Februar. Wieder einmal verrechnet! Wir sind während der Nacht in südlicher Richtung getrieben und befinden uns doppelt so weit von der Dundee-Insel entfernt wie gestern Abend – und die Paulet-Insel liegt so weit hinter uns, dass wir kaum mehr eine Hoffnung haben, dort zu landen. Nach allem, was man sehen kann, liegt das Eis nun wieder dicht vor diesen Inseln. Wir haben uns der Rosamel-Insel sehr genähert; die Strömung scheint uns in der Richtung auf den Antarctic-Sund zuzutreiben, wo viel klares Wasser sichtbar ist.

Die Rosamel-Insel im Antarctic-Sund

Uns bleibt wohl bald nichts weiter übrig, als in die Boote zu steigen und so viel mitzunehmen, wie sie tragen können, das übrige seinem Schicksal zu überlassen und zu versuchen, zu rudern, was die Kräfte halten wollen.

Den 27. Februar. Es war erst 3½ Uhr morgens, als wir aus dem süssesten Schlummer aufgerüttelt wurden mit der Nachricht, dass sich eine grosse, wirklich grosse eisfreie Fläche in der Richtung nach der Dundee-Insel zu gebildet habe. Nur schnell ans Werk!

Bald waren die Boote und der »Schlitten« beladen, und es ging von dannen. Wir ruderten bis an den nächsten Rand der eisfreien Wasserfläche, wo wir unsere Ladung löschten. Unser Lager war nämlich von ziemlich festem Eise umgehen, und wir wollten nicht Gefahr laufen, dass die Hälfte unserer Sachen dort eingeschlossen werde, während wir über das ziemlich breite offene Wasser ruderten. Dann holten war alles übrige ab und begaben uns damit gleich an den gegenüberliegenden Eisrand.

In dem Boot, in dem ich mich befand, bedienten wir uns des Segels. Wir richteten ein Ruder auf, befestigten eine Persenning daran und sausten dann dahin; nach einer Weile hatten wir unser Ziel auch glücklich erreicht. Dort löschten wir auf einer ziemlich kleinen Eisscholle, da es keine grossen mehr gab. Einige von uns blieben hier zurück, völlig abhängig von dem unzuverlässigsten aller hohen Herren, von dem Eise. Dies wurde von Minute zu Minute unruhiger. Hier drinnen lagen eine Menge Eisberge, grössere und kleinere, einige reichten bis auf den Grund, andere schwammen umher. Ich ging umher und stampfte mich auf der Eisscholle warm, als ich plötzlich bemerkte, wie ein Eisberg in grösster Geschwindigkeit auf uns zugetrieben kam. Schon aus der Ferne schimmerte durch das Wasser hindurch sein blaugrüner glänzender Fuss, der Form nach ganz wie der Bug eines Panzerschiffes. Eine Kollision erschien unvermeidlich, einen Augenblick dachten wir daran, alle Sachen auf die widerstandsfähigere Mitte der Eisscholle zu schaffen, gelangten aber bald zu der Einsicht, dass das sehr wenig nützen würde. Kollidierten wir, so wurde unsere armselige kleine Eisscholle in tausend Stücke zermalmt. Der Augenblick war wirklich spannend. Es krachte und knackte, man hörte, wie die Eisscholle barst, aber darauf beschränkte sich die Wirkung. Der Eisberg glitt hart an ihrem Rande vorüber und riss ein wenig davon weg. Kaum war diese Gefahr überstanden, so trieben wir selber direkt auf einen grösseren Eisberg zu. Unser Geschick schien besiegelt zu sein, plötzlich aber bogen wir ein wenig seitwärts ab und glitten noch im letzten Augenblick glücklich vorüber.

Jetzt kehrten die Boote zurück, schwer beladen, nicht viel mehr als die Reeling ragte über den Wasserspiegel auf. Sie fuhren an uns vorüber, weiter in das Eis hinein, wo sie auf einer Eisscholle löschten. Dann kamen sie und holten uns.

Es fing an zu dunkeln, und wir hatten grosse Eile. Wir arbeiteten aus Leibeskräften, von Zeit zu Zeit musste der »Schlitten« einen Augenblick aufs Eis hinaufgezogen werden, weil er sonst von den treibenden Eisschollen zertrümmert worden wäre. Nach saurer Arbeit krochen wir endlich wieder in unsere Schlafsäcke.

Währenddes hatte Larsen die Leute den Proviant wieder ordnen lassen und alles zurückgelegt, was zurückgelassen werden sollte, falls nur eine Ladung an Land geschafft werden konnte. Das weniger notwendige bestand aus einem Sack Hafergrütze, einem grossen Sack Reis, einem Sack Erbsen, einem Sack brauner Bohnen und einem Sack Kaffee. Er weigerte sich vergebens, die Esse mitzunehmen, die wollten wir um keinen Preis zurücklassen.

Den 28. Februar. Während der Nacht trat Nebel ein, und da wir trotz aller Anstrengungen uns kein Bild von den Eisverhältnissen machen konnten, war es natürlich nicht leicht, mit dem Transport zu beginnen, ehe sich der Nebel lichtete. Gegen 7½ Uhr entwickelte sich ein reges Leben: der Nebel war gewichen, vor uns lagen die Paulet- und die Dundee-Insel, freilich nicht ganz so nahe wie vor ein paar Tagen, aber doch in erreichbarer Nähe. Das Eis hatte sich zerteilt, man konnte getrost dem Tag entgegensehen. Wenn wir heute auch nicht an Land kamen, was wir kaum zu hoffen wagten, so währte es doch voraussichtlich nicht mehr lange, bis wir unser Ziel erreichten.

Alle hatten das Gefühl, dass jetzt der entscheidende Moment gekommen sei. Wir liessen uns nicht einmal Zeit, eine Tasse Kaffee zu trinken, obwohl es uns in der kühlen Morgenluft gut getan hätte. Niemand wollte etwas zurücklassen, alles wurde in die Boote hineingepackt, bis sie schliesslich so voll waren, dass bei der geringsten Bewegung das Wasser hineinlief. Nur die leiseste Welle draussen im offenen Wasser, und wir waren verloren. Das eine Boot konnte unmöglich das andere retten. Dann sammelten wir alles zusammen, was nicht mitgenommen werden konnte, errichteten einen grossen Haufen davon und pflanzten die schwedische Flagge an einer Bambusstange als Wahrzeichen daneben. Die Schlaf- und Kleidersäcke nahmen unerhört viel Platz weg, es war sehr beschwerlich, zu rudern, und nur mit Beobachtung der grössten Vorsicht konnte man die Plätze an den Rudern wechseln.

»Klar zum Aufbruch!« Leise glitten wir dahin. Es war 8 Uhr 40 Minuten. Aus der Entfernung hatte es den Anschein, als ob wir nicht viel weiter kämen. Wir ruderten und ruderten, eine starke Strömung arbeitete uns entgegen, aber wir mussten vorwärts, vorwärts! Die Strömung war uns übrigens auch nützlich, indem sie das Eis vom Lande entfernte. Ein Durchgang nach dem andern tat sich uns auf, die schwarzen, steilen Ufer der Paulet-Insel rückten näher und näher. »Jetzt kann ich oben im Steingeröll einen Vogel erkennen,« sagt einer. Da müssen wir ja in der Nähe sein! Man spürt einen schwachen Guanogeruch.

Leise gleiten wir in das offene Küstenwasser; es ist ganz windstill und die Insel spiegelt alle ihre phantastischen Zinnen und Türme in der kühlen Flut. Der Strand macht einen sehr steilen Eindruck, aber von früher her wissen wir ja, dass sich auf der andern Seite ein ausgezeichneter Landungsplatz befindet. Jetzt biegen wir um die Ecke, da liegen die wohlbekannten Hügel! Die Pinguine schreien und kreischen, sie scheinen nicht sehr erfreut über die Eindringlinge, die sich hier allen Ernstes niederlassen wollen. – Mit welchen Gefühlen hörten wir nicht die Boote auf den Grund aufschurren! Welch eine Wonne, welch eine Seligkeit, nach sechzehntägigem Kampf mit den Naturkräften den Fuss wieder auf festen Boden zu setzen! War dieser Erfolg nicht eine Mahnung, mit frischen Kräften an die Arbeit zu gehen, nicht zu ermüden, was auch kommen mochte?


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