Paul Neubauer
Maria
Paul Neubauer

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XV.
Eine Verzögerung

Wir steigen in den unrichtigen Zug ein, Maria!«

Sie schien es nicht gehört zu haben und stieg die Waggonstufen empor. Ich wollte mich an den Schaffner wenden, um sie zu überzeugen.

»Du machst mich nervös mit deiner Kopflosigkeit!« rief sie mir von oben zu. »Es ist der richtige Zug!«

Nach einem Augenblick des Zögerns stieg auch ich ein, obwohl ich wußte, daß es nicht der Pariser Eilzug, sondern ein anderer war, der in die entgegengesetzte Richtung fuhr.

»Ich wiederhole, daß es nicht der Pariser Zug ist!«

336 »Der Zug fährt nach Budapest!« mischte sich ein jüngerer Mann ins Gespräch, der in unserem Abteil saß, der Aussprache nach ein Ungar. Maria, sonst immer bereit, die freie Art des Bekanntwerdens gelten zu lassen, wenn das experimentierende Gegenüber gut gekleidet war und ein hübsches Gesicht hatte, fixierte ihn hochmütig und fragte:

»Ist das die erste Klasse?«

»Zweite!« beeilte er sich zu antworten und freute sich sichtlich, daß das Eis so leicht zu brechen schien.

»Unsere Karten lauten auf die erste Klasse!« sagte sie zu mir gewendet, stand auf und begab sich, von mir gefolgt, ins Abteil erster Klasse, das ganz leer war. Der Schaffner brachte das Gepäck herüber. Er stellte umständlich die Fahrkarten nach Budapest aus, bot seine Dienste noch einmal an, orientierte uns über den Speisewagen und verschwand.

»Wohin fahren wir also, Maria? Nach Budapest?«

Sie antwortete nicht auf die Frage; ich mußte ihr zunächst hundert kleine Dienste leisten. Dann fragte ich noch einmal.

»Ich meinte, du würdest es erraten!« sagte sie. »Wir fahren zu deinen Eltern.«

Nichts hätte mich in diesem Augenblick so erschrecken können wie diese Eröffnung. Ich vergaß zu fragen und starrte sie an. Sie fuhr zu meinen alten Eltern, in eine kleine Provinzstadt mit verrosteten Sitten . . . Und gerade jetzt, wo sich die Leidenschaften verschärft hatten und die Liebe an der Grenze des Hasses angekommen war! Ihre Überraschungen waren völlig unübersehbar! Was in aller Welt wollte sie von meinen Eltern, die doch unmöglich der 337 Lebensauffassung dieser Frau folgen konnten? Und die Kleinstadt, in der mich jeder Mensch kannte! Sie werden an den Fenstern hocken und vor den Türen stehen, um uns zu begaffen!

»Hast du meine Eltern benachrichtigt?«

Sie nickte. Ich wollte eine Menge Fragen gleichzeitig hervorsprudeln. Sie stauten sich im Kopf, und als ich endlich die erste an sie richten wollte, stockte ich und schwieg.

Die neue Maria, die mir gegenüber saß: eine einfache, ungeschminkte Frau, deren graue Augen den Blick durch einen feuchten Nebelschleier zu mir herübersandten. In diesem Blick fand ich die Erklärung aller meiner Fragen, die ich verschwieg. So viel kindliche Neugier und Freude verriet er, daß ich mich an Abende erinnerte, an denen ich von einem langen Ausflug zurück ins Elternhaus kam, müde, hungrig, durstig und schläfrig, und während mich die Stille des Hauses umfing und schon der Traum an mir hochkroch, den Eltern von den bezwungenen Bergruinen erzählte . . .

In Gesprächen, die alles berührten, nur nicht die Ereignisse der vorherigen Tage und den Zweck der Reise, vergingen die Stunden rasch.

Es war Abend, als wir ankamen. Auf dem Bahnsteig stand wartend mein Vater.

Maria verriet keine Erregung, und nur als wir den Heimatboden betraten, griff sie nach meiner Hand wie nach einer Stütze.

Uns zu Ehren hatte meine Mutter festlich decken lassen, und mein Vater brachte eigenhändig alte Flaschen aus dem Keller. Die beiden alten Leute empfingen die fremde Frau, die Freundin ihres Sohnes, 338 mit offener Herzlichkeit. Keinen Augenblick lang kam ein Mißton oder eine Verlegenheitspause auf. Alles ergab sich von selbst und fügte sich geräuschlos ineinander, als wäre Maria immer hier gewesen.

Sie saß still in diesem schönen, ruhigen Friedensraum, in dessen Ecken die alte Zeit kauerte und den Kopf auf die Brust fallen ließ. Mit heiteren Blicken schauten die Begründer des alten Hauses von den Wänden auf uns hernieder.

Maria plauderte unbefangen. Über mich, über ihren Mann. Sprach von der neuen Ehe der Kameradschaft.

Auf den Flügeln ihrer herzlichen Worte zog das neue Jahrhundert durch den Raum.

Mir war, als hätte Maria diese Rolle studiert. Sie spielte sie mit der feinen Natürlichkeit, die vergessen läßt, daß es eine Rolle ist.

Doch wozu tat sie das alles?

Ich vergegenwärtigte mir ihr Großstadtgesicht, wie ich es bei der ersten Begegnung gesehen hatte: die trotzige Stirn vom aschblonden Haar umrahmt, die stahlgrauen Augen und die über der Löwennase zusammengezogenen Brauen . . .

»So gut ist es hier!« sagte sie, und die Stimme klang, als hüllte sie sich in ein wärmendes Tuch ein. Und da meine Eltern behaglich lächelten, fügte sie leise und verzagt hinzu:

»Wir bleiben lange hier . . . nicht wahr?«

Mein Vater meinte scherzend, sie solle mich heiraten. Er übergäbe uns mit tausend Freuden Haus und Grundbesitz.

339 »Schließlich kann er im Winter, wenn die Landwirtschaft ruht, auch hier das viele schöne, weiße Papier vollschmieren!«

Meine Mutter schwieg; ihr Gesicht drückte einige Augenblicke lang einen großen Ernst aus, den ein leidender Zug beseelte.

Später führte die Mutter Maria ins Fremdenzimmer. Für mich war im alten kleinen Kinderzimmer das Bett gerichtet.

Dann sagten wir den Eltern gute Nacht.

Maria entkleidete sich, während ich auf Zehenspitzen noch rasch einen Rundgang durchs Haus machte, um alles zu begrüßen, was geduldig auf mich gewartet hatte.

»Bleib noch hier bei mir!« bat Maria, als ich wieder vor ihrem Bette stand.

Sie behielt meine Hand in der ihren und lag mit weit geöffneten Augen. Allmählich fand ihr Blick den Weg zu mir. Lange blickten wir uns an, ohne zu sprechen. Die Stille der Nacht wuchs über uns empor.

»Entzünde die Stehlampe!« flüsterte sie.

Das Dunkel überwogte den Raum. Ich setzte mich an den Rand ihres Bettes, fest entschlossen, nicht zu fragen und so lange zu warten, bis sie selbst zu sprechen beginnen würde.

Sie sprach nicht. Eine Zeitlang kreisten die Gedanken in verschiedenen Sphären. Ihr Blick war leer und verriet nichts. Ich dachte an das Palais Leonid van der Werftens, das mir in diesem Augenblick zum Symbol der Welt wurde. Leonid und sein Kreis hatte sich einen Scherz geleistet: Liebe war 340 unbrauchbar geworden, und Maria, das verirrte Schaf, sollte reumütig in ihre Kreise zurückkehren . . .

»Warst du gestern nacht bei van der Werften?« Die Frage war laut geworden.

»Warst du gestern nacht bei der Unbekannten?« kam das Echo. Die beiden Fragen schlugen ein. In unsere Blicke trat plötzlich eine namenlose Begierde, die vielleicht schon von Rachegefühlen erzeugt war..

Sie begann meine Hand zu liebkosen, und Feuer überfiel das Hirn. Das Hemd rutschte von ihren Schultern . . . ich sank nieder auf dies Weiß, das blendend ins Dunkel emporschlug und fühlte nur noch zwei weiche Arme, die meinen Kopf zu dem betäubenden Duft hinunterzogen . . . Ich sank hinab . . . dorthin, wo auf grundlosem Grunde das Auge erblindet und jeder Ton erstirbt. Immer tiefer . . . zeitlos . . .

Plötzlich ein harter Stoß.

»Geh!« hörte ich eine erstickte Stimme. Ihre Augen waren verängstigt auf mich gerichtet. – »Wir sind im Hause . . . wir sind . . .«

»In unserem Hause! Wir dürfen alles! Wir sind die Jungen!«

Ich ergriff ihre Hand und zog sie an mich.

»Nein! Nein!«

Und schluchzend vergrub sie den Kopf in den Kissen.

Lange saß ich an ihrem Bett. Erst als sie ganz ruhig wurde, stand ich auf, um zu gehen.

»Gute Nacht, Maria!«

Ihr Blick bat mich um Verzeihung. Sie sagte:

»Ich bin glücklich! So gut ist es hier!«

341 Dann lächelte sie noch, und ich drehte das Licht ab.

Als ich am Morgen auf ihr Klingeln bei ihr eintrat, drang durch die Stores das strahlendste Licht. Sie sprang aus dem Bett und blieb am Rande sitzen.

»So spät?«

»Noch sehr früh! Wir sind auf dem Land.«

Eine halbe Stunde später saß sie frisch und jung im Leverkleid am Frühstückstisch. Sie strahlte vor Zufriedenheit und Glück.

Zwei Tage vergingen.

Maria war fast unsichtbar. Sie hantierte mit meiner Mutter in der Küche, oder sie zog sich ins Bibliothekzimmer zurück und las. Zufrieden und glücklich, machte sie sich überall zu schaffen, und wenn ich fragen wollte oder die letzten Ereignisse und die mit ihnen zusammenhängenden Menschen berührte, lief sie davon.

»Wie lange willst du bleiben?«

Sie hielt sich die Ohren zu und lachte. Dann wurde sie sehr ernst.

»Ewig!«

Die alten Damen und Herren, Freunde meiner Eltern, kamen zum Tee. Sie sprachen von verstaubten Dingen. Franz Josef regierte noch immer in Wien, Wilhelm in Berlin. Schönbrunn und Potsdam . . . Die grauen Köpfe promenierten in den kaiserlichen Gärten. Sie belästigten Maria nicht mit Fragen über das moderne Leben der Großstadt. Die alten Damen küßten sie zum Zeichen treuer Freundschaft. Die alten Herren verneigten sich ritterlich vor ihr.

Sie stand vor den gebräunten Gemälden der Hausbegründer, den alten Frauen und Männern, und 342 betrachtete sie neugierig. »Wenn mein Vater alte, halbzerfallene Anekdoten und Ereignisse aus ihrem Leben erzählte, wurde sie nicht müde zuzuhören.

Mit einer unverkennbaren Scheu betrachtete sie alle Familienreliquien und ging auf Zehenspitzen durch das Haus, wie man durch eine Kirche geht.

Meine Eltern hatte sie völlig für sich gewonnen. Ich sah es deutlich in den Blicken der beiden Alten. Und sah auch die erweckte Sehnsucht in ihnen . . . Am Abend des zweiten Tages, nach dem Essen, schickte sie mich fort. Sie wollte mit den Eltern einen Abend allein verbringen. Ich ging ins Kasino, und als ich heimkehrte, schlief schon das ganze Haus. Es war Mitternacht

Auf meinem Nachtkästchen fand ich einen Zettel von ihr.

Ich habe die Koffer gepackt. Wir fahren um drei Uhr früh mit dem D-Zug nach Paris.

Ich schrieb einige Abschiedsworte für meine Eltern auf, weckte den Diener und ließ die Koffer zur Bahn schaffen. Um halb drei Uhr morgens holte ich sie. Sie saß reisefertig auf dem Bettrand. Kein Wort wurde gesprochen.

Als die Sonne aufging, waren wir weit. 343

 


 


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