Paul Neubauer
Maria
Paul Neubauer

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XII.
Kreise schließen sich

Das war das Glück. Wir konnten es nicht verkennen.

Die Stürme waren vorüber, sie hatten alles Fremde hinweggefegt. Was sollte noch kommen? Ein plötzlicher Ausbruch der Leidenschaft? Drei Menschen lebten zusammen auf einer Insel.

Nichts Fremdes war mehr zwischen uns.

Die Höhen und Niederungen lagen hinter uns. Die Fahrt hatte über steile Grate und schwindelnde Tiefen der Seele geführt. Vom Frühling bis zur Weihnacht hatte der Zug ein ganzes Leben durchbraust: die Zeitlokomotive hatte ihn an allem vorübergerissen.

Nun stand sie still.

Die Fiebernacht hatte Maria vollig verwandelt. Ruhe und Zufriedenheit jede ihrer Bewegungen. Sie 266 war gleichmäßig heiter und wehrte mit lächelnder Geste ab, wenn jemand sie aus ihrer Festung herauslocken wollte.

Die lange Zeit von zwei Monaten war verstrichen. Das Leben, das wir geführt hatten, war ganz ereignisleer gewesen. Sie holte mich von der Redaktion ab, und wir legten den langen Weg zu Fuß zurück. In der Wohnung waren wir allein. Direktor Marx unternahm ausgedehnte Geschäftsreisen und organisierte in allen Ländern Europas Zweiginstitute der großen Unternehmung. Ich sah ihn fast überhaupt nicht.

Im Kamin brannten Scheite. Draußen lastete der Schnee. Die weiten Horizonte entführten uns nicht mehr, seit sich das tiefste Geheimnis entschleiert hatte. Sie lockten vergeblich; denn wir wußten, daß auf uns dort am Rande der Ferne nichts wartete.

Die Erde ist rund und geschlossen. Nirgends ein Punkt, der zu anderem, Unirdischem führt.

Vor dem Kamin neckte ich die stille Maria:

»Ich glaube, daß mein Traum von der kaffeetrinkenden Familie doch richtig war.«

»Schmeckt dir der Kaffee?«

Ich küßte ihr die Hand, und dann schwiegen wir wieder.

Die Gewohnheit ölte die Bestandteile der Tage, sie schmiegten sich ineinander. Der Apparat funktionierte lautlos, man merkte sein Vorhandensein nicht mehr.

In der Abendstille, die uns beide umgab, überkam mich zu Beginn dieser Zeit öfters ein Angstgefühl, das zuweilen stärker und quälender war als die Angst und Not in den großen Stürmen. Wir hatten erreicht, 267 wonach die Menschheit sich sehnt: den Frieden. Und ich ängstigte mich mehr vor ihm als vor dem Krieg mit den stürmenden Gewalten. Mit ihnen hatte ich mich herumgeschlagen, um den Frieden zu erobern. Jetzt war er da, und mit ihm die neue, die unbekannte Angst.

Sie galt mir, meinem eigenen Leben, das sich vor der allzu plötzlich stillstehenden Zeit ängstigte.

Und ich mußte es erfahren, daß der Kampf mit dem Frieden härter und unerbittlicher war als jeder andere Kampf.

Wenn die Scheite brannten und die Stille uns einspann, wagte ich mich um einen Schritt vor.

»Fehlt dir nichts, Maria? Hast du keinen Wunsch?«

»Ich bin völlig wunschlos! Zum erstenmal.«

Ich erschrak vor dem Wort. Kaum daß ich daran rührte, erhob es sich, um sich über mich zu stürzen und mich zu begraben.

Das Wort des Glücks: schwindelnde Höhe, rechts und links Abgründe.

»Wozu all die anderen Menschen! Wir genügen uns.«

Ich verschloß ihren Mund mit einem langen, heißen Kuß. Er sollte nichts mehr sagen! Die Somnambule durfte aus dem Schlaf nicht erwachen, um nicht kopfüber in den Abgrund zu stürzen.

Zu Beginn der beiden Monate pochten noch Menschen an die verschlossene Tür und baten um Einlaß, um das Zusammengefügte zu zerstören. Wir öffneten ihnen nicht. Später blieben sie weg.

Die Einsamkeit wuchs, und ihr Blätterwerk umrankte uns. Wir waren unsichtbar geworden.

268 Aus der Tiefe der Verschwiegenheit tauchten Bilder auf.

»Denkst du daran, Maria, was jetzt geschieht?«

Sie lächelte ermunternd.

»Was geschieht jetzt?«

»In Monte Carlo, in den lichtübersäten Kasinoräumen, führt jetzt der Selbstmord die Hand, in der das letzte Goldstück ruht . . . Und das Leben ist an einer anderen Hand vorbeigerauscht, sie zieht das ganze Gold der Bank ein, langsam, nicht gierig; denn das Hirn sprang bereits aus der Tiefe zur Höhe, wo das Gold sich selbst gebiert . . . Der Niagarafall donnert nieder in diesem Augenblick, und die Riesenschlange preßt um den schlanken Leib des Panthers ihre Stahlringe . . . Irgendwo heult eine Revolte auf, und der siedende Asphalt wimmelt Dunkelgestalten empor . . . Ein Denker sitzt zwischen Folianten, um das Gesetz der Gesetze zu ergründen . . . Im Wintergarten des reichsten Mannes von Amerika küßt der letzte überfeinerte Sprößling des französischen Fürstengeschlechtes die Hand der Tochter, während in Whitechapel ein Heiland niedergestochen wird . . . Der See liegt im Schlaf, aber Neptun ist eben in der Tiefe erwacht und reckt sich . . . Sie tanzen Shimmy, während die Sturmfaust das Schiff schon gepackt hat . . . Und wir beide sitzen still in unserer Einsamkeit, Maria.«

Sie lächelte nur die Antwort:

»Sehnst du dich nach Hollywood?«

»Ich sehne mich nach dir, Maria.«

Und wieder nur die brennenden Scheite im Kamin. Man konnte glauben, die Blätter der Einsamkeitslaube raschelten.

269 Noch sprang mich die Angst an: »So viel geschieht! . . .«

Frauen aber sind anders, wenn sie glücklich sind:

»So viel geschieht . . . gib mir die Hand!«

Sie nahm beide und legte sie um ihren Hals.

Alles Geschehen der Erde rauschte aus der Ferne noch einmal auf und verrauschte. Trotz der großen, der tödlichen Stille wagte der Mund die Worte:

»Ich liebe dich!«

»Ich liebe dich!«

Wir sagten es zum erstenmal. Denn wir wußten nicht, daß wir es früher gesagt hatten.

Das war zu Beginn der beiden Wintermonate.

*

René war von Natur aus ein liebenswürdiger Psychologe. Seine klugen Augen, der nervöse englische Schnurrbart und die frischen roten Wangen tauchten unverhofft überall auf, wo etwas menschlich Interessantes zu holen war. Sein Spiel mit den unbegabten oder weniger begabten Partnern, die er zu ködern verstand, verlieh ihm etwas vom Rattenfänger von Hameln. Er hatte Einfälle, produzierte sie auch für den verdatterten Partner, suggerierte sie geschickt, so daß der andere sie für die eigenen hielt, und das Ende war immer eine Bloßstellung, die weiter keinen Ärger verursachte, keine tiefen Spuren hinterließ und die, umrahmt von kleinen Menschlichkeiten, sehr amüsant war.

270 René tauchte plötzlich einmal vor uns auf. Die Eingangstür war versperrt, die Mädchen waren fort.

»Sieh nach!« sagte Maria. Ich fand die Tür ordnungsgemäß versperrt. Zurückkommend merkte ich sofort die Absicht.

»Bedrängen Sie nicht Maria! Der Zeitpunkt ist schlecht gewählt!«

»Sie haben sich eben überzeugt, ich habe einen Schlüssel, der zu jedem Schloß, selbst zum geheimsten, paßt.«

Mit rascher Wendung überredete er uns, mit ihm den Abend zu verbringen. Wir opferten ihn ungern.

Maria tanzte gleichmäßig, ruhig, beinahe gleichgültig. Die Männerblicke, die sie überall verfolgten, prallten von dieser in sich gefestigten Ruhe machtlos ab. Renés Werbung erwies sich als vergeblich, und er konnte, als wir ins Auto stiegen, den leichten Ärger nur mit Mühe unterdrücken.

Er gab sich nicht geschlagen:

»Das nächstemal!«

Er versuchte von verschiedenen Seiten anzupacken, doch immer ohne Erfolg. Maria sah weder ihn noch die Männer, die er in den Tanzsaal mitbrachte. Ihr Tanz, ihre Konversation waren ruhig.

Eine stille Fröhlichkeit strömte sie aus.

»Sie ist traurig!« behauptete René.

Und als er zu dieser Konklusion gekommen war, ließ er Maria sofort los, um mich zu packen. Er arrangierte das Spiel, dessen Akteur ich war, ohne es zu wissen . . .

Mascagni dirigierte. Der Rhythmus sprang aus der Versenkung und umtanzte die Melodie, die wie 271 eine hypnotisierte Schlange aus dem Dunkel hervorkroch.

Ich saß mit René im Parkett. Fünf Minuten nach Beginn knarrte leise eine Logentür. Unwillig blickte ich hin, und meine Augen blieben hängen. Eine Frau in großer Toilette und ein Herr im Smoking waren eingetreten. Die Frau bemerkte mich sofort. Eine Sekunde lang starrten mich die schwarzen Augen an, aber ich wandte mich ab und folgte der Oper. Einige Augenblicke später fühlte ich den Magnetismus dieses Blickes. Die Frau lächelte kaum merklich. Ihr Blick war derart bewußt und stark, daß ich einen heißen Kopf bekam. Zunächst dachte ich, es wäre nur ein Kokettieren, eine Laune, Langeweile, weil sie vielleicht gar nicht hatte herkommen wollen. Doch nein: der Blick war ganz persönlich und galt mir allein; denn er grüßte mich erfreut, erstaunt und zärtlich. Er nahm mich an der Hand und führte mich einen Weg, den ich Schritt für Schritt erkannte. Und am Ende des Weges erkannte ich meinen Führer, die Frauenaugen, und plötzlich wußte ich, daß diese Frau einmal mein gewesen war!

Wie aus einer Sonne sprangen die Erinnerungssterne dieser Erkenntnis. Ihre Hand, die auf der Logenbrüstung lag, die nackten Schultern, der Kopf, – alles erkannte ich mit einer Bestimmtheit, an der kein Zweifel aufkommen konnte. Aber sie, die Frau, erkannte ich nicht.

Ich strengte mein Gedächtnis an, um darauf zu kommen, wer die Bekannte sei, um mich ihres Namens zu entsinnen, des Ortes, der Zeit unseres Zusammentreffens, gewisser bestimmender Umstände. Während 272 »Bajazzo« zu Ende ging, zermalmte ich mein Gehirn . . .

Vergeblich!

Der Schlußakkord riß die Musikflut zurück. Die Lichter sprangen auf das Dunkel. Der Menschenblock rührte sich . . . zerfiel in seine Bestandteile . . . Lichtumflutet hakten sich unsere Blicke ineinander. Wir lächelten beide und erhoben uns gleichzeitig.

In der Hinterloge trafen wir zusammen:

»Sie sind da? . . .« versuchte ich.

»Sie wissen nicht, wer ich bin!« antwortete sie mit voller Entschiedenheit; ihr Blick drang hypnotisierend auf mich ein.

Ich wußte es in der Tat nicht und suchte mit scherzhaften Redewendungen darüber hinwegzukommen.

»Sie kennen mich nicht!« sagte sie unbeirrt, und in ihrer Stimme war nichts von verletzter Eitelkeit. Ein Trauerklang schwang mit, Verwunderung und vielleicht von fern her, kaum merklich, Ironie.

Der Smoking kam dazu:

»Mein Mann.«

Ich murmelte meinen Namen. Ein paar Belanglosigkeiten, ein erstarrtes Lächeln. Dann das Glockenzeichen.

»Besuchen Sie uns morgen abend in unserer Villa!«

Sie gab die Adresse an. Ich verbeugte mich. Nach der »Cavalleria« sahen wir uns noch einmal im Gedränge. Die ganze Nacht über quälte mich der Gedanke: wer ist sie?

Am Abend, da ich vor dem Gittertor der bezeichneten Villa stand, wußte ich noch nicht, wer sie war.

273 Eines nur wußte ich unabweisbar: diese Frau war einmal mein gewesen.

»Mein Mann läßt sich vielmals entschuldigen, er wird später kommen!«

Ich verschlang sie mit meinen Blicken. Sie erschien in ihrem Hausgewand aus hauchleichter, grüner Seide so verlockend schön, daß mir der Kopf, den ich zwingen wollte, völlig versagte. Anstatt daß ich dennoch hinter das Geheimnis gekommen wäre, mußte ich alle Bemühungen aufgeben. Genau so stark wie das Bewußtsein, daß sie mir angehört hatte, war das andere, daß mir die Erinnerung an sie längst entschwunden war.

Eine groteske Situation. Wir vermieden die Frage, die uns erfüllte. Wenn ich ihr näher kommen wollte, überhörte sie meine Worte und lächelte. Zwei Fechter, die nach zwei Stunden noch immer in der anfänglichen »Fertig-Stellung« dastanden. Keiner von uns hatte einen Schritt vorwärts getan.

Endlich übermannte es mich.

Ich sprang auf, riß ihre Hände an mich, zog sie zu mir und fieberte die Frage hervor:

»Du bist einmal mein gewesen! Ich weiß nicht mehr, wo . . . aber du warst mein . . . Ich weiß nicht mehr, wann . . . Wer bist du? Wie heißt du? Ich . . . ich habe dich vergessen, aber ich weiß noch alles, alles . . .«

»Du weißt? . . . So sag' es!«

»Ich kann es nicht sagen! Ich weiß es nicht in Gedanken! Ich kann es nicht mit Worten sagen! Aber ich weiß es . . .«

»So frag nicht!«

274 »Ich muß es wissen! Du kennst meinen Namen? Sag ihn!«

»Sag du den meinen!«

Wir rangen. Ich wich Schritt für Schritt zurück. Sie folgte mir. Schritt für Schritt. Am Rande der Vernunft stand ich eine Sekunde still. Es war meine letzte Kraft . . .

Maria! . . .

Dann stürzte ich kopfüber hinab.

Dort unten, auf dem Meeresgrund, im grünen Licht, suchten die erblindeten Augen . . . Man vergißt den Namen einer Frau, die Nacht, in der sie sich gab, auf die tausend andere Nächte folgten . . . Man vergißt den Ort und die Zeit . . . doch eines vergißt man nicht: den Körper.

Ich suchte ihn! Die Brüste, den Einschnitt zwischen ihnen. Die Erinnerung versagte! Das Besondere der Linie, die abwärts zu den Schenkeln führt, die Schenkel, die einmaligen jeder Frau . . . den Duft der Haut, welcher der besonderen Farbe entströmt.

Die Formen und Linien, sie kamen mit wunderlichen Gebärden an mich heran, wie Tiere auf dem Meeresgrund, seltsam und nie geschaut. Sie umgaukelten mich und blieben fremd . . . Fremd auch, da in einem elektrischen Schlag, der meinen Körper wie Feuertod durchfuhr, sie alle zum Bild eines Frauenleibes zusammenschossen . . .

Als ich allein war, warf ich mich auf den Diwan. Ich überdachte noch einmal alles. Alles stimmte. Je intensiver, verzweifelter ich der Erinnerung nachjagte, umso weniger gelang mir, die Lösung zu finden. Ich verfolgte Moment für Moment der Begegnung und ließ nichts unbelebt. Die Jagd führte mich 275 im Labyrinth meines Lebens kreuz und quer, und es schien mir in Augenblicken, daß ich den Schleier heruntergerissen hätte, aber sofort danach stand das Erinnerungsbild noch dunkler vor mir.

Erschöpft und zermartet wollte ich den Kampf aufgeben, doch das Erlebnis saß zu tief und brach im Augenblick gänzlicher Ermattung mit neuer Kraft hervor. Da packte mich ein Verzweiflungsgedanke: vielleicht war das Ganze eine Täuschung? Autosuggestion? Hypnose? Oder vielleicht . . . .

Ich durchforschte die letzten sechsunddreißig Stunden in dieser Beleuchtung und kam vom anderen Ende zu demselben Ergebnis: Ich kannte die Frau, und sie war mein gewesen . . .

Wie wir am Morgen voneinander geschieden waren?

»Forsche nicht und leb wohl!« hatte sie gesagt.

Auf meine Frage gestand sie, daß ihr Mann verreist war und erst mit dem Mittagszug eintreffen sollte. Ich flehte sie an, ich beschwor sie. Dennoch war ich von ihr gegangen, ohne zu wissen, wer sie war.

Und ich wußte es noch immer nicht.

Da sprang ich auf. Es war noch Zeit genug bis zum Mittagszug! Ich fuhr zu ihr. Sie ließ sich verleugnen. Ich stieß den Diener beiseite und drang in ihr Boudoir ein. Auf den Knien begann ich meine Beschwörungen von neuem, aber sie, die ich eine Nacht in meinen Armen gehalten hatte, maß mich mit einem durchdringenden, kalten Blick, vor dem ich verstummte. Dann sagte sie, jedes Wort betonend:

»Sie sind mir ein Fremder! Wenn Sie einmal im Leben mit mir zusammengetroffen waren und mich 276 vergaßen, sind Sie ein Fremder. Und wenn Sie gestern wirklich ein Fremder waren, mit dem ich einmal im Leben, aber nur einmal, zusammentreffen wollte, so sind Sie auch ein Fremder – – heute! Sie können wählen. Und jetzt bitte ich Sie . . .«

Ich taumelte hinaus. Und dachte: nie werde ich erfahren, ob ich wirklich meine Geliebte erkannte oder ob es die suggestive Gewalt einer fremden Frau war, die aus Laune, vielleicht weil sie an jenem Abend gar nicht in die Oper hatte kommen wollen oder vielleicht aus irgendeinem plötzlichem Interesse dieses Spiel spielte.

Doch ich habe sie gekannt, so gewiß wie mein eigen Selbst, und dennoch . . . Sie blieb mir eine Fremde.

Erst zwei Tage danach kam mir der einfachste Gedanke, einen förmlichen Besuch bei ihrem Mann zu machen. Als ich aber seinen Namen dem Portier der Villa nannte, sah er mich mißtrauisch an, da dort ein Herr dieses Namens nie gewohnt habe. Oben in der Wohnung fand ich fremde Menschen, und ich zog mich zurück. Ich fand den Namen auch bei der Polizei nicht.

René kam mir übermütig entgegen. Gewohnheitsgemäß bearbeitete er seinen kurzen Schnurrbart.

»Wo treiben Sie sich herum? Seit der Bajazzo-Aufführung sind Sie unsichtbar.«

»Ich war verreist!«

Er nahm die Lüge als Bekräftigung des Einverständnisses hin.

»War's hübsch?«

»Ach ja! Fremde Menschen . . .«

277 »Die kommen einem immer wie alte Bekannte vor. Man läßt sich täuschen, und man täuscht sich gern!«

Lachend drückte er mir die Hand. Dann zeigte er sich lange Zeit nicht bei uns.

Wie sonderbar, daß nach diesem Ereignis die großen Scheite im Kamin noch immer mit gleichmäßiger Ruhe brannten. Und vor dem Fenster weitete sich noch immer die Schneelandschaft.

Es verwirrte mich, daß keine Veränderung eintrat. Zwei Abende: in der Oper bei Mascagni und in der Villa bei einer unbekannten Frau . . .

Zwei Abende bloß, keine Veränderung vor dem Kamin des Glücks und in der Welt des Winters.

Maria saß in Erwartung meiner vor dem Fenster und reichte mir mit freundlichem Gruß die Hand.

Dennoch waren die beiden stillen Wintermonate schon vorüber. Als sie begonnen hatten, schien mir die Zeit still zu stehen, und da sie jetzt zu Ende waren . . . Ist das Stehen die wildeste Jagd? Oder war Renés Hand im Spiel?

»Du bist zerstreut!« lächelte einmal Maria. »Woran denkst du?«

Sollte ich leugnen? René hatte sicherlich Sorge getragen, daß Maria von meinem Abenteuer erfahre. Hätte sein Spiel sonst einen Sinn gehabt?

»Ich denke jetzt so oft an unser Paradies am Meer. Mir ist in den letzten Tagen das Vergangene ungeheuer gegenwärtig! Ich weiß nicht recht, warum?«

Maria spielte mit den Flammen. Sie drückte mit der langen, gelben Feuerzange die Scheite, die mit leisem Knistern ihre Lage änderten. Die Flammen 278 züngelten bald da, bald dort empor und sanken, Ornamente bildend, zurück.

»Wir leben jetzt wieder im Paradies!« sagte sie langsam.

»Das ist es, was mich ängstigt. Ich erinnere mich . . .«

»Es ist doch jetzt alles anders. Alles hat sich gewendet!« Ihr Ton war ganz von Traum eingesponnen.

»Wie meinst du das?«

»Der Kampf hat aufgehört. Ich bin so zufrieden, daß sich alles gewendet hat!«

»Ich verstehe dich nicht. Renés Experiment ist gründlich daneben gelungen!« – ich lachte etwas forciert.

»René ist ein Kind! Er treibt Psychologie, ohne sich mit seinen Objekten zu befassen!« gab sie zurück und verriet nicht die geringste Verwirrung.

»Aber er ist nicht wenig hartnäckig!« beteuerte ich. »Er gibt sich die redlichste Mühe, wenn er etwas erreichen will.«

»Hat er wieder etwas unternommen?«

Jetzt mußte die gefährlichste Ecke kommen. Abbrechen? Nichts leichter, dachte ich.

»Das kannst nur du allein wissen.«

»Warum denn ich? Wir sind doch eine Zweieinheit.«

Wie ihre Gedanken rasch gereift sind! Fuhr es mir durch den Kopf. Als ich sie kennen lernte, beschränkte sich ihre Konversation auf einige trotzige Wendungen. Dann stellten sich mit den Gefühlsakkorden die Gedanken und ihr adäquater Ausdruck ein. War es eine Entwicklung oder der Urinstinkt 279 der Frauen, der sie jetzt feiner sprechen ließ, als ich je erwartet hatte? Sie mußte von meinem Abenteuer erfahren haben. Alle Voraussetzungen sprachen dafür.

»Für René komme ich nicht in Betracht. Er kann nur dich bedrängen.«

»Mit mir kann er nichts anfangen. Wir kennen uns zu gut.«

»Dasselbe gilt von mir.«

Ich hatte fast mechanisch gesprochen. Daher bemerkte ich die ungeheuerliche Lüge meines dezidiert ausgesprochenen Satzes erst, als er in die Leere der Pause fiel, die auf ihn folgte. Maria antwortete nicht und öffnete das Klavier.

Nur aus Klugheit hielt ich es einige Tage aus und drang nicht weiter in sie. Während dieser Zeit vergewisserte ich mich nach allen Seiten, ob René mich verraten habe oder nicht. Es stand fest, daß er meine bekannte Unbekannte nach unserem jähen Abschied wiedergesehen und gesprochen haben mußte. Weder Adele noch sonst jemand unseres Kreises gab mir ein Zeichen. Niemand machte eine Anspielung, obwohl ich überall Fallen aufgestellt hatte. Sollte am Ende René die fremde Frau, nach deren Namen ich noch immer vergeblich in der Erinnerung suchte, wirklich nicht gekannt haben, und war das Zusammentreffen in der Oper nicht sein Werk gewesen? Ich hatte es einfach als selbstverständliche Voraussetzung angenommen, jetzt mußte ich sie bezweifeln. Er leugnete und stellte alles in Abrede. Jede Mühe war vergeblich.

Das Geschehene kam mir allmählich ganz traumhaft vor. Ich mußte es wohl ausphantasiert haben, als ich eines Abends mit Maria still vor den Flammen 280 saß und wir beide vollendet glücklich gewesen waren – – – eine Wunschphantasie . . . Auf dem Gipfel des Glücks?

Und dennoch das konkreteste Erlebnis!

René lächelte verschmitzt, wenn ich mich der Frage von fernher näherte. Je mehr mir die Möglichkeit genommen ward, Antwort zu erhalten, umso stärker lastete sie auf mir.

Die bekannte Unbekannte und Maria . . . plötzlich standen zwei Frauen an Stelle der einzigen in meinem Bewußtsein, als wären sie eine Einzige.

Und waren zwei: Maria und die andere. Maria, die ich kannte, und die andere, die unbekannt blieb . : .

Die Unbekannte aber hatte ich einst gekannt und Maria . . .

Maria wird einst die Unbekannte sein . . .

Maria! Ich schrie auf, als sich dieser unerwartete Gedanke einstellte. Standen wir nicht auf dem Glückesgrat? Führte der Weg von hier ins Tal des Vergessens? Und hatte ich diesen Weg schon betreten?

Schlossen sich die Kreise, und griff das Unbekannte auf das Bekannte über? Auf daß das Bekannte ins Unbekannte hinübergleite?

René lächelte, und sein Lächeln verfolgte mich am Abend, wenn ich mich dem Glück des Alleinseins mit Maria hingeben wollte.

Wir sprachen von Musik. Sie stellte eine Frage, die sich auf die italienische, veristische Oper bezog. Meine Antwort fiel nervös und unbeherrscht aus.

»Ermüdet dich die Redaktion?« fragte sie.

»Das ist es nicht!« stieß ich hastig hervor. »Ich erinnerte mich eben an die Aufführung, die Mascagni 281 dirigierte. Du weißt noch, als du nicht mitkommen wolltest! Du hättest unbedingt mitgehen sollen!«

»Ich habe Mascagni schon zu oft dirigieren sehen, und gerade Bajazzo und Cavalleria interessieren mich nicht. Jeder Leierkasten . . .«

Ich hielt nicht länger an mich.

»Es ist nicht von den Opern und von Mascagni die Rede!« – Ich gab mir keine Rechenschaft mehr über meine Worte. Es war mir, als dränge sich mir die unbekannte Frau auf. Ich wollte, und kostete es unser Glück, Maria aus der Ruhe reißen. Wie am ersten Abend, als diese Ruhe mich so anmutete wie die Ruhe des steinernen Heiligen auf der Brücke. Wieder wollte und mußte ich grundlos wehe tun.

»Hat sich damals etwas Interessantes ereignet?« fragte sie ein wenig verwundert, doch nicht im geringsten erregt und war in diesem Augenblick so fremd und fern, wie am ersten Abend, da sie mir, dem Fremden, kein Interesse entgegenbrachte.

»Du hast mir damals in unserem Paradies am Meer gesagt . . . Es war am Tag, als ich meine Brieftasche wieder hatte, der Engländer war festgenommen . . . da hast du gesagt, du habest den Flirt begonnen um der Liebe willen . . . Auf daß die Liebe bei uns beiden bleibe . . .«

Ihr Gesicht, das große Aufmerksamkeit ausdrückte, wurde um eine Schattierung ernster, gesammelter.

»Und dein Flirt in der Oper?«

Ich erzählte ihr von der seltsamen Begegnung.

»Sag's ruhig!« – sie lächelte unbefangen, als hätte sie es längst gewußt. Als hätte ihr René bereits alles gesagt. »Wie hat es geendet?«

282 »Sie ist die Unbekannte geblieben! Wir verloren uns im Gedränge, als die Oper zu Ende war!« sagte ich rauh und lauernd.

»Und du hast dich nicht mehr bemüht, hinter das Geheimnis zu kommen? Sei mir nicht böse!« – fügte sie schnell hinzu – »Ich wäre dir auch nicht böse gewesen.«

Da brach ich es mitten entzwei. Die beiden Stücke des unausgesprochenen, letzten Satzes schleuderte ich fort nach zwei entgegengesetzten Polen und sah ihnen nach. Sie stürzten im Raum, und ihnen stürzte das Geheimnis von den beiden Frauen nach.

Wußte es Maria?

Ich habe es nicht erfahren. Ich habe nicht mehr gefragt.

Und danach saßen wir wieder in der Einsamkeitslaube.

»Ich liebe dich!« – mein Mund wagte das Wort.

»Ich liebe dich!« antwortete der ihre.

Und wir beide erschraken. Wir wiederholten da Worte . . . wiederholten sie leicht, leicht und gewohnheitsgemäß, die Worte des Gipfels, da wir noch immer Hand in Hand schon ins Tal hinabschritten . . . und wußten es nicht.

Das war das Glück. Wir konnten es nicht verkennen.

Und dennoch: da begann das Fremde zwischen uns. 283

 


 


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