Paul Neubauer
Maria
Paul Neubauer

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VII.
Reportage

Ich beabsichtige, Ihnen einen Teil der Reportage zu übertragen.«

Abwartend stand ich vor dem Chefredakteur, der von seinen Manuskripten, die den ganzen Tisch bedeckten, nicht aufblickte.

»Eine unbequeme Arbeit, ich gebe es zu, aber interessanter, als in der Redaktion Fahnen vollzuschmieren.«

Ich dachte an Maria und blieb still.

»Sie werden nicht Herr Ihrer Zeit sein und mitunter auch die Nacht opfern müssen, dafür aber haben Sie die Möglichkeit, dem Blatt gute Dienste zu leisten und rasch vorwärts zu kommen. Ihre Sprachkenntnisse und Ihr Wesen schreiben Ihnen diesen Beruf geradezu vor.«

139 »Ich danke Ihnen, Herr Doktor. Erlauben Sie, daß ich mit der Reportage gleich beginne. Hier ein Bericht!«

Ich legte ihm die Selbstmordgeschichte des Mädchens vor, in die auch er hineinverflochten war. Er durchflog die Blätter und blieb ungerührt.

»Was nächtliche Reportage anbelangt, wissen Sie, daß sie besonders honoriert wird. Mein Blatt verlangt von den Mitarbeitern nicht, daß sie zu einer Zeit, die nicht in die gewöhnliche Arbeitszeit eingerechnet werden kann, für das Monatsgehalt arbeiten. Ich werde bei jeder Gelegenheit an Sie denken.«

Ich dankte.

Die Kollegen hatten nichts verraten. Selbst Blicke konnte ich nicht erhaschen. Das Wohlwollen, das mir der Chefredakteur angedeihen ließ, sah zunächst wie sein Gegenteil aus: Reportage war die unruhigste, unregelmäßigste Beschäftigung eines Redakteurs. Sie wurde besonders entlohnt und gab Gelegenheit, sich bekannt zu machen. Dennoch war sie wenig geachtet, obwohl man das Wort von der Edelreportage, die beinahe Literatur sei, erfunden hatte.

Reportage erfordert Genauigkeit, Vorsicht, Umsicht. Ich erwies mich als guter Reporter und wunderte mich über mich selbst. Bei jedem Schritt, den ich unternahm, bei jedem Wort, das ich aussprach, kam mir das Fremde, meinem ganzen bisherigen Leben Widersprechende der Situation scharf zum Bewußtsein. Mein Zusammentreffen mit Maria zwang mich, mein eigenes Gegenteil, Reporter, zu sein. Wußte es der Chefredakteur?

»Ich werde Ihnen vielleicht noch heute einen wichtigen Auftrag geben. Machen Sie sich für alle Fälle 140 reisebereit; denn es ist nicht ausgeschlossen, daß Sie den Nachtzug benützen müssen. Es hängt von einem Telegramm ab.«

Ich schloß meine Augenlider zur Hälfte, um den Gedanken zu verbergen.

»Ich kann sofort reisen, Herr Doktor!«

»Ich werde Sie rechtzeitig verständigen.«

Die durch die Ungewißheit verursachte Unruhe bekämpfend, verrichtete ich die Tagesarbeit. Für den Abend hatte mich Maria zu sich eingeladen, um mit ihr Abendbrot zu essen. Ihr Mann war verreist. Wir wollten mit Alexander eine gute Flasche trinken.

Wußte der Chefredakteur auch davon, und wollte er mich daran verhindern? Wenn ich den einzelnen Momenten auch noch so intensiv nachging, ich konnte nichts entdecken, was mich berechtigt hätte, an Marias unveränderter Liebe zu zweifeln. Sie war mit dem Chefredakteur seit dem letzten Abend nicht zusammengekommen, und sein Verhalten bewies Gleichgültigkeit. War sie gespielt? Ich mußte die Frage verneinen, denn ich bemerkte, daß ihm sein Erlebnis mit dem Mädchen, das Selbstmord begangen hatte, wichtiger war als lebende Frauen, denen er es erzählte, wobei er nicht müde wurde, Ergriffenheit zu zeigen und eine Angst vor seinem eigenen, verborgenen Wesen, das solche Wirkungen hervorzubringen vermochte.

Es war sieben Uhr, als Alexander an meiner Tür klopfte.

»Noch ein wenig zu früh!« sagte ich. »Sieben Uhr erst!«

»Hat dir Maria telephoniert? Sie wollte den Abend absagen; denn sie ist heute nicht frei. Ein 141 junges Ehepaar, ihre Freundin und deren Mann, sind heute hier eingetroffen und haben sie angerufen. Da die Neuvermählten morgen abreisen, verbringt sie den Abend mit ihnen.«

»Sie hat mir nicht telephoniert. Ich werde sie anrufen.«

»Du findest sie nicht mehr zu Hause.«

»Das ist ein merkwürdiges Benehmen!«

»Staatsaffaire!« sagte er grob. »Sie wußte, daß ich dich am Abend aufsuchen werde, und vergaß vielleicht darum den Anruf. Hast du übrigens etwas vor?«

»Da ich zu Maria gehen sollte, kann ich natürlich nichts vorhaben, und da ich soeben die Absage erhalten habe, kann ich nicht bereits einen Plan gefaßt haben!«

»Du bist gereizt, ich werde gehen!«

Der Diener holte mich zum Chefredakteur. Väterlich und gönnerhaft rief er mir entgegen:

»Sie haben Glück! Die Depesche ist eingetroffen!«

Nach seiner genauen Erklärung mußte ich zugeben, daß es sich um einen schönen Auftrag handelte, eine Aufgabe, die dem Reporter nicht oft begegnete.

»Sie fahren also um neun Uhr dreißig und sind morgen noch vor Redaktionsschluß zurück.«

Als ich in mein Zimmer trat, war Alexander noch immer da, obwohl er hatte fortgehen wollen.

»Du mußt mich entschuldigen, ich fahre um halb zehn nach Wien.«

»Dann bringe ich dich zur Bahn.«

Ich widersprach und gebrauchte Ausreden. Er gab nicht nach. Er ließe es sich nicht nehmen. Der hartnäckige Widerstand reizte mich zu dem Entschluß: »Ich fahre nicht!«

142 »Fährst du also oder nicht?«

Ich war in diesem Augenblick felsenfest davon überzeugt, daß Alexander in Marias Auftrag handelte. Wollte er als Marias Werkzeug dem Chefredakteur die Wege ebnen? Aber dann mußte das von ihm verfolgte Interesse eine große Lockung sein, der er nicht widerstehen konnte. Welches Interesse? Ich zerbrach mir vergeblich den Kopf, um nach gewonnener Klarheit richtig handeln zu können.

»Was ist also?« fragte er wieder, »fährst du?«

Mir schien es, als klänge Ironie in der Stimme.

»Warum interessiert es dich so lebhaft?«

»Weil wir den Abend zusammen verbringen könnten, wenn du nicht fährst.«

»Wenn ich nicht fahre, suche ich Maria auf.«

»Du fährst also nicht? Dann teile es dem Chefredakteur mit.«

Ich blickte ihn an: Er stand im Dienste Marias und des Chefredakteurs. Das war mir mit einem Mal klar geworden. Rasch entschlossen nahm ich das Spiel auf.

»Ich werde es ihm sofort sagen. »Warte solange auf mich!«

Die Tür des Chefredakteurs war angelehnt. Ich hörte seine letzten Worte, die ein Telephongespräch beendeten:

»Pünktlich um zehn Uhr bei der Kirche. Bis dahin . . .«

Ich ließ einige Sekunden verstreichen, dann trat ich nach energischem Klopfen ein.

»Bitte!« sagte er und wies auf einen Stuhl.

143 »Ich wollte Sie eben zu mir bitten, um Ihnen zu sagen, daß an Ihrer Stelle ein anderer Herr fahren muß. Die Sache ist zu kompliziert, und obwohl ich sehr viel Vertrauen zu Ihnen habe, möchte ich Ihr Talent nicht gleich so schwer auf die Probe stellen. Ich hoffe, daß Sie mich verstehen und nicht etwa eine Verstimmung zwischen uns aufkommt.«

Ich war betreten.

»Herr Doktor, Sie haben mir doch vorhin . . .«

»Ich werde Sie entschädigen, Sie dürfen sich auf mich verlassen. Ich wiederhole, daß der Fall zu kompliziert ist, es mangelt Ihnen noch an Erfahrung. Das soll Ihnen keineswegs die Laune verderben.«

Er setzte mir den Fall belehrend auseinander, um mich ganz zu überzeugen. Die Präzision seiner Sätze verwirrte mich. Bevor ich eintrat, hatte er mit Maria ein Rendezvous besprochen. Die Kirche, die er als Treffpunkt angegeben hatte, stand unweit von ihrer Villa.

»Trotz allem, Herr Doktor . . .«

Er ungeduldig und abweisend:

»Ich erklärte eben ausführlich!«

»Stellen Sie mich auf die Probe! Gerade dieser ist ein Fall für mich!« ereiferte ich mich.

Er dachte nach, schüttelte aber den Kopf.

»Beim besten Willen, an dem es mir nicht fehlt, es geht nicht!«

Noch einmal wagte ich den Widerspruch, und da er mich reden ließ, setzte ich ihm auseinander, daß es für mich von größter Wichtigkeit sei, nicht nur diese komplizierte Reportage zu machen, sondern zugleich auch nach Wien zu fahren.

144 Eben hatte ich meine Rede beendet, als ein Diener eintrat und meldete, eine Dame wolle mich telephonisch sprechen.

»Das ist Frau Maria,« sagte ich ruhig zum Chefredakteur. »Wenn Sie, Herr Doktor, gestatten, lasse ich das Gespräch herüberschalten.«

Ohne das geringste Interesse zu verraten, gestattete er es. Maria wiederholte Alexanders Angaben, sie wäre in Gesellschaft. Ich dagegen erzählte ihr von meiner fehlgeschlagenen Mission, und da sie den Chefredakteur sprechen wollte, übergab ich den Hörer.

Seine Antworten klangen fest, die Stimme ungetrübt. Nichts zitterte darin. Die ihre hörte ich wie das Zirpen einer Grille. Vielleicht lachte sie über mich und freute sich über das Rendezvous. Vielleicht kostete sie die prickelnde Situation bis zur Neige aus, in der Meinung, ich wüßte nichts von ihrer Vereinbarung . . . Meine Nerven vibrierten, und die Gedanken blitzten durcheinander.

Der Chefredakteur übergab mir den Hörer, und Maria sagte:

»Er hat mir zugesagt, und du fährst heute nach Wien. Halte dich tapfer und verrichte alles aufs beste! Du legst dir damit ein gutes Blatt bei ihm ein. In zwei Tagen bist du wieder da, dann rufe mich sofort an!«

»Ich danke dir«, log ich ruhig und hängte ab.

Der Chefredakteur blickte mich mit einem ernsten Lächeln an.

»Was die Frau will, will Gott! Sie fahren also in Gottesnamen, obzwar mir dabei nicht sehr wohl zumute ist.«

145 »Verlassen Sie sich auf mich, Herr Doktor!« antwortete ich freudestrahlend.

Er gab mir einige Instruktionen. Ich sollte einen weltberühmten Mann, der seit einigen Tagen in Wien weilte, aufsuchen und ein besonderes Interview machen. Er war incognito in die Stadt gekommen, kein Mensch wußte seine Adresse, und er empfing nur Freunde. Dennoch sollte ich bei ihm eindringen und ihm für mein Blatt Fragen vorlegen, deren Beantwortung dem exponierten Mann sehr schwer fallen mußte.

Während der Erklärungen des Chefredakteurs meldete sich Maria noch einmal am Telephon und wünschte zu wissen, ob Alexander in der Redaktion sei. Ich verneinte sofort und hoffte sie zu verwirren; denn Alexander war bestellt, um mich zur Bahn zu bringen und sich von meiner Abfahrt zu überzeugen.

Als ich abgehängt hatte, verabschiedete mich der Chefredakteur:

»Ihr Meisterstück! Zeigen Sie, was Sie können! Ich verlasse mich zum erstenmal im Leben auf eine Frau.«

»Sie werden es nicht bereuen, Herr Doktor!«

»Sie noch weniger!« hörte ich noch. Einen kurzen Augenblick früher, und ich wäre zurückgestürzt, um ihm beide Fäuste ins Gesicht zu schlagen. Er hatte die Worte so ausgesprochen, daß ich das Gegenteil heraushören mußte, und gleichzeitig erinnerte ich mich an seinen Abschied von Maria, als er in der fahlen Morgendämmerung noch hinaufrief: »Dank für den Tango, gnädige Frau!« Doch ich hatte eben die Tür hinter mir geschlossen, er konnte es nicht sehen, wie mir das Blut zu Kopf schoß. Tief aufatmend stand 146 ich auf der Schwelle und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Dann zündete ich mir eine Zigarette an und trat in mein Zimmer, wo Alexander noch immer wartete. Hätte er nicht die Mission gehabt, mich zur Bahn zu bringen, er hätte sicherlich nicht so lange gewartet. Mit ihm mußte ich die Reportage beginnen.

»Ich fahre also nicht!« sagte ich gleichgültig. »Hat Maria nicht telephoniert?«

»Meines Wissens nicht.«

»Wenn sie dieses Zimmer nicht angerufen hat, dann rief sie eben nicht.«

»Dieses Zimmer hat sie sicher nicht gerufen, denn ich war während der ganzen Zeit hier.«

Ich ließ das Thema fallen.

»Wenn du frei bist, verbringen wir den Abend zusammen.«

Er zögerte nicht und sagte zu.

»Beim Chefredakteur habe ich alles geordnet, ich habe hier weiter nichts zu tun. Wenn du willst, könnten wir gleich losziehen.«

»Wohin gehen wir?«

Ich schaute auf die Uhr.

»Neun Uhr schon! Ich kenne hier in der Nähe ein gutes, kleines Restaurant. Dann führe ich dich zu einer Flasche, wie du sie selten getrunken hast.«

»Also los!« meinte er, und so sehr ich mich auch mühte, ich konnte in seinem Gesicht nichts entdecken, was ihn verraten hätte.

Im Restaurant setzten wir uns hin, als sollte das Abendessen eine Ewigkeit währen. Ich mußte mich rasch zurechtfinden, um handeln zu können. Während ich mit Alexander sprach, überdachte ich die Maschen 147 und Fäden des Netzes. Diese Nacht war die Reportage meines Lebens.

Und plötzlich empfand ich die Wendung, die mein Leben genommen hatte: sie führte mich von der großen Linie weg und drängte mich in den grauesten Alltag hinein. Da wurden die kleinen Unscheinbarkeiten riesengroß, größer, gewaltiger als die großen Gewalten des anderen Lebens, das die Auserwählten jenseits des Alltags führen, die Reichen im Leben, die Schöpferischen im Schaffen. Es galt die Schöpfung des Alltags zu vollbringen, winzig klein für den Unbeteiligten, allumfassend und einmalig für den, dessen Leben sie ausmachte.

»Gehen wir's an!« sagte ich aus meinen Gedanken heraus. »Wir kommen zurecht!«

»Wo und wozu?« fragte Alexander.

»Zur guten Flasche!« beruhigte ich ihn, und wir traten in die erste Herbstnacht hinaus. Sie war noch warm von den Sommernächten, sie lochte noch mit mächtigem Zauber, und doch war sie von einer Müdigkeit erfüllt, die den Herbst verrät. Ich wußte nicht den Tag, möglicherweise hatte der Herbst schon früher begonnen, aber ich empfand plötzlich seine Umarmung, die mich ermattete.

Noch wußte ich nicht die wahre Bedeutung dieses Augenblicks, dessen Gewalt ich erfuhr, und erst später, in der Erinnerung, da dies Stück Leben vorüber und Bild geworden war, kam mir voll zum Bewußtsein, daß diese Herbstnacht die erste Hälfte meines Lebens abgeschlossen hatte. Sorglosigkeit, Fröhlichkeit und Übermut lagen hinter mir, der Erdgeruch begann sich zu verstärken. Eine Frau zwang mich, das irdische 148 Gesetz zu befolgen und den Sinn des Göttlichen dort zu suchen, wo ich ihn nie gesucht hätte.

»Komm trinken!« brach es aus mir auf. »Trinken!« – Und ich sprang in ein Auto. Ich wollte mich betrinken und während meiner Trunkenheit das Schicksal, das Maria hieß, walten lassen und dann noch einmal, das letzte Mal, die Flucht ergreifen. Unser Auto sauste über eine Brücke, und noch bevor ich das andere Ufer erreichen konnte, blieb das Bild des steinernen Heiligen in meinem Auge haften. Wir jagten an ihm vorüber, der Wind pfiff, und Alexander fragte erstaunt:

»Wohin?«

Ich lachte.

»Wohin? Du weißt es vielleicht! Ich weiß es augenblicklich bestimmt nicht! Maria ist also in Gesellschaft, sagtest du?«.

Er hielt sich wacker.

»Sie ist in Gesellschaft! Sie hat mich gebeten, es dir auszurichten.«

Das Auto hielt mit einem Ruck vor der Kirche, einige Schritte vor Marias Villa. Rechts von ihr führt ein breit angelegter Fahrweg ins Freie. Dort, von Bäumen halb verdeckt, stand ein großes Auto mit verhängten Fenstern. Ich gab meinem Chauffeur Instruktionen und steckte ihm eine Banknote zu, von der ich bis zum nächsten Ersten hätte leben sollen. Er tat, als hätte ich ihn bezahlt, und als entfernte er sich mit dem Auto. Er zog die Mütze und setzte den Wagen in Gang. Wir hörten, wie er die Straße hinunterfuhr.

Einige Minuten später trat er aus dem Dunkel zu mir und meldete, daß alles in Ordnung sei. Ich zog 149 meine Uhr, und im selben Augenblick hämmerte die alte Turmuhr der Kirche zehn Schläge.

»Was treibst du?« fragte Alexander gepreßt.

»Reportage!« antwortete ich. »Willst du mithalten? Wenn es dich nicht interessiert, kannst du den Weg zur Stadt hinunterspazieren! Es ist herrliches Wetter. Die Flasche zahle ich ein andermal oder noch heute, wenn du mithalten willst. Möglicherweise trinken wir noch eine. Es wäre mir aber sehr angenehm, wenn du bleiben wolltest.«

»Du treibst ein gefährliches Spiel . . .«

»Ein Spiel? Und gefährlich?«

»Verstell dich nicht!«

»Aber ich verstelle mich wirklich nicht! Ich habe dir versprochen, dich an einer nächtlichen Reportage teilnehmen zu lassen. Sonst nichts! Wenn du nicht willst, halte ich dich nicht.«

Er kämpfte mit sich und fand keine Entscheidung.

»Du mußt dich still verhalten!« flüsterte ich und zog ihn ins Dunkel eines Pfeilers.

Das Eisentor der Villa öffnete sich.

Maria ging an uns vorüber und stieg in das Auto, das zwischen den Bäumen wartete. Der Chauffeur kurbelte an und fuhr auf die breite Fahrstraße hinaus.

Ich ergriff Alexanders Hand und sprang über eine kleine Anlage hinweg. Mein Chauffeur wartete an der entgegengesetzten Ecke. Alexander folgte mir. Sein Gesicht war starr und entschlossen. Er hatte keine Wahl. Der Wagen folgte dem ersten in einer Entfernung von hundert Metern.

»Reportage ist kein schönes und noch weniger ein vornehmes Geschäft, aber einträglich!« begann ich die Unterhaltung zufrieden und gut gelaunt. »Ich wäre 150 glücklich, mich mit Kirchenproblemen befassen zu können, wie du es tust. Aber auch du kannst ja nicht ausschließlich dies tun, du bist Offizier. Du mußt eben die alte Regel der Kirche befolgen, die die Waffen, die auszogen, um zu morden, segnete. Das interessanteste Problem unter allen Problemen des Diesseits und Jenseits . . . .«

»Du wirst mir nicht zumuten, daß ich von dieser Perfidie wußte!« Er gab sich Haltung.

»Perfidie? Die Waffen zu segnen, ist Gebot, wenn die Kirche sich erhalten will. Sie ist doch eine Wirklichkeitsmacht und herrscht auf der Erde . . .«

»Wohin fahren wir?«

Ich sagte schon: »Du weißt es besser als ich!«

»Ich wußte von nichts!«

»Umso interessanter für dich! Ein Spiel, eine Zerstreuung!«

Meine Augen hielt ich auf das erste Auto gerichtet, dessen Scheinwerfer den Weg und seine nächste Umgebung beleuchteten. Es sauste mit größter Geschwindigkeit durch die Nacht.

»Eine Zerstreuung, nichts weiter! Ist es etwa nicht interessant genug, in finsterer Nacht seinem eigenen Ich nachzujagen? Dort vorne im Wagen sitzt mein Ich. Immanuel Kant würde sagen: das intelligible Ich. Das Ich, das Peer Gynt sucht. Es hat sich von mir losgesagt, und ich muß es wieder haben!«

Ich griff unter den Sitz und zog eine Flasche Wein hervor, die der Chauffeur in einem Wirtshaus besorgt hatte, während ich mit Alexander vor der Kirche auf Maria gewartet hatte.

»Trink! Ich habe dir einen guten Tropfen versprochen!« Er zuckte die Achsel.

151 »Schließlich . . .«

Bald mußten wir am Ziel sein. Ich hatte mich nicht verrechnet: Maria wollte mit meinem Chefredakteur einen nächtlichen Ausflug nach der Sommerfrische machen, in der ich die erste, wundervolle Nacht mit ihr verbracht hatte.

Die Weisungen, die ich meinem Chauffeur gegeben hatte, waren richtig. Der den anderen Wagen lenkte, war sein Freund. Er hatte mit ihm ehrlich geteilt, und ich konnte ruhig sein: ich mußte als erster ankommen.

Die beiden Autos sausten durch die Nacht.

Wir tranken die Flasche leer, ich holte die zweite hervor. Alexander war mit den Gedanken zu Ende gekommen und tat mit. Er hatte nichts dabei zu verlieren.

Das erste Auto bog nach links ab, wir nach rechts. Noch einige Sekunden konnten wir die Scheinwerfer leuchten sehen, dann war jedes Licht verschwunden. In der undurchdringlichen Nacht saßen Maria und mein Chefredakteur Seite an Seite. Wenn ich mich dennoch verrechnet hätte . . . Fieberhitze schüttelte meinen Körper. Wenn mich mein Chauffeur dennoch schlecht verstanden hätte . . . oder wenn Maria ihrem Chauffeur ein anderes Ziel angäbe . . .

»Haben Sie alles genau vereinbart?« fragte ich, von plötzlicher Angst erfaßt, den Mann.

»Wir sind die Ersten, und die andern kommen uns unbedingt nach!«

Der Wagen passierte ein Dorf. Die Hunde schlugen an. Die Tür einer Schenke wurde aufgerissen, jemand schrie uns im tiefen Bierbaß nach. Dann wieder Straße, Felder, Stille.

152 Ein Licht rannte uns entgegen. Das Auto hielt vor der Hotelterrasse. Auch der alte Kellner war da und erkannte mich sofort. Ich zitterte vor Erregung, als ich meine Anordnungen traf.

Die Terrasse, die eben die Nachtmütze über die Ohren hatte ziehen wollen, erstrahlte im Licht der Lampen. Der Kellner ging ins Haus, und kurz darauf erschienen einige Menschen, Männer und Frauen, und setzten sich an die kleinen Tische.

Ich besetzte mit Alexander eine Ecke, die fast eine Laube war. Das Laub der Bäume verbarg unseren Tisch. Wir konnten die ganze Terrasse übersehen, während uns niemand sah.

»Sie müssen sofort eintreffen!« sagte Alexander, der sich schon ganz in die Situation eingelebt hatte.

Eine halbe Stunde war bereits vergangen, und noch zeigte sich das Auto nicht. Ich trank ununterbrochen, um meine Ruhe zu bewahren. Alexander legte plötzlich seine schwere Hand auf meine Schulter, und sein Gesicht wollte gutmütig und freundschaftlich sein:

»Lohnt es sich, wegen einer Frau? Es gibt genug andere! In diesem Falle kannst du nur gewinnen!«

»Wie meinst du?«

»Wenn sie dich mit dem Chefredakteur betrügt, wird er sich dir erkenntlich zeigen. Du strebst die Stelle beim Blatt an – er ist der Chefredakteur.«

Ich lockte ihn aus der Reserviertheit heraus.

»Glaubst du, daß sie das Opfer bringen würde?«

Er schob die Unterlippe breit vor.

»Opfer? Siehst du denn nicht, daß sie mit ihm einen Nachtausflug macht?«

153 »Das besagt noch nichts! Vielleicht tut sie es mir zuliebe!«

»Dann müßten sie schon da sein. Maria ist schlau und hat unseren Wagen sicher bemerkt und ein anderes Ziel angegeben. Hier wimmelt es in der Umgebung von Sommerfrischen. Ich glaube, daß sie schon längst in einem anderen Hotel . . .«

Er mochte bemerkt haben, daß ich Mühe hatte, an mich zu halten.

»Was liegt daran? Ich verstehe nicht! Du mußt doch logisch denken können und von deinem eigenen Erlebnis ausgehen! Bist du der Einzige und Auserwählte? Eine leidenschaftliche Frau ist doch kein Problem! Maria ist vollkommen unabhängig und richtet sich ihr Leben ein.«

»Und ihr Gatte?«

»Ist ihr Kamerad, ihr Beschützer, ihr Vater. Die beiden Eheleute haben einander schon im ersten Jahr der Ehe volle Freiheit gegeben. Eine allermodernste Ehe, in der sich die Eifersucht nur äußerst selten, fast überhaupt nicht mehr meldet.«

»Du bist ihr Vertrauter! Du weißt . . .« Da sprangen die Lichter ihres Autos aus der Nacht. Sie stiegen etwa zwei Meter entfernt von uns aus. Marias Wangen glühten. Der Chefredakteur schrie den Chauffeur an:

»Sie werden sich vor Gericht zu verantworten haben! Wie konnten Sie es wagen, uns eine Stunde auf falschen Wegen herumzufahren? Sie wissen doch genau, wo das Wirtshaus liegt?!«

»Nur ruhig, Herr!« hörte ich die Stimme des Chauffeurs: »Ich hatte mich eben verfahren.«

»Stellen Sie das Auto ein und warten Sie!«

154 Maria fügte hinzu:

»Lassen Sie sich ein Abendessen und Wein geben.«

Ich rieb mir die Hände. Die erste Hälfte meiner Reportage war geglückt. Die zweite war schwieriger. Ich hatte Zeit gewinnen müssen, und das war zunächst gelungen, indem ich ihnen Hindernisse in den Weg gelegt hatte. Jetzt mußte ich alle Hindernisse aus dem Weg räumen, um klar zu sehen, was Maria vorhatte. Alles mußte den beiden nach Wunsch gelingen, und Maria durfte doch nicht unterliegen.

Das Paar kam die Treppen herauf. Die Tische waren so besetzt, daß Maria in unserer nächsten Nähe Platz nehmen mußte. Kein Wort, keine Geste konnte uns entgehen.

»Lohnt es sich?« flüsterte Alexander.

»Alles oder nichts!« entgegnete ich nur.

Sie bestellten das Essen und den Wein. Als sich der Kellner entfernt hatte, küßte der Chefredakteur ihr zärtlich die Hand und sagte:

»Ich bestelle bloß die Zimmer, Maria! Ich bin gleich wieder da.«

Allein geblieben, zündete sie sich eine Zigarette an und schaute über die Köpfe der Gäste hinweg ins Dunkel. Sie hatte nicht widersprochen, als er ihr sagte, daß er Zimmer für die Nacht bestellen wollte. Ihre Augen glänzten im Rausch. Wieder wie in jener ersten Nacht: ein kranker Glanz. Ich sah ihre Hände zittern, als er aufstand und ins Hotel ging.

»Nun siehst du selbst . . .« flüsterte wieder Alexander.

»Noch nicht . . . noch nicht . . .«

155 Marias Züge erstarrten. Die rücksichtslose Klugheit trat wieder in ihre Augen, sie kämpfte mit der Urgewalt der Sinne.

»Sie kann nicht treu sein!« hörte ich Alexanders Stimme. »Die Treue war eine Folge der Ehe, und die Ehe ist kaputt. Willst du, daß sie dir treu sei? Du bist doch nur ihr Freund!«

»Nicht Treue . . .«, flüsterte ich in furchtbarer Erregung. »Nicht Ehe . . . Freiheit! . . . und doch . . .«

Der Chefredakteur trat aus dem Haus. Er hielt die kalten Fischaugen wie suggerierend auf sie gerichtet, und die plattbreiten Lippen formten sich zu einem Lächeln. Er ließ sich an ihrer Seite nieder und sagte wie befehlend:

»Die Nacht gehört uns!«

Er spielte die Rolle des Mannes, dem die kleine Selbstmörderin verfallen war.

Marias Augen flammten wieder in gespenstischem Licht auf, und die Röte des Blutes schoß in ihre Wangen.

Er mußte seiner Sache sicher sein. Seine Bewegungen und seine Worte waren von einer vollkommen überzeugenden Ruhe, fast Gleichgültigkeit. Er hatte Maria längst durchschaut. Das war übrigens leicht gewesen; denn sie hatte sich, ihr Temperament und ihre verhängnisvolle Leidenschaft an jenem Abend verraten, da er von seiner rätselhaften Begegnung mit seinem Ich in der Bar erzählte und der Erzählung eine Note gab, die ihre Wirkung auf Frauen nicht verfehlen konnte.

Hatte ich nicht vor Augenblicken noch meine Reportagesituation als lächerlich empfunden? Mit Recht, 156 wenn es nicht Maria gewesen wäre, die ich ergründen wollte. Sie war zwischen die beiden mächtigsten Gefühle gesetzt: zwischen ihre dämonische Leidenschaft, die sie diesem Manne in die Arme trieb, weil sie hinter der Kälte seiner reglosen Fischaugen mystische Schauer der Sinne ahnte, und die andere Leidenschaft des mütterlichen Gefühls, das sie zu mir zog und das zum erstenmal in ihrem Leben als bestimmende Kraft auftrat.

Sie war unabhängig und frei: es lohnte sich, ihre Entscheidung zu erwarten und den Kampf der beiden Leidenschaften mitzuerleben.

»Sie sind zu unruhig, Maria!« sagte der Chefredakteur mit tiefer Stimme.

»Finden Sie?« Ihre Stimme klang nervös, trotz ihrer Bemühung, unbefangen und ruhig zu scheinen.

Er blickte sie kalt an.

»Sie sind unruhig. Das ist sinnlos. In einer Stunde sind die letzten Lichter des Hauses erloschen. Es kann uns nichts . . . nichts mehr geschehen. Die Nacht ist gütig, Maria.«

Seine Worte und der Tonfall wirkten so, als hätte er einen Arm um sie gelegt und nestelte mit der Hand des anderen Armes an ihrer Bluse. Die Fischaugen waren auf ihren Mund gerichtet.

Sie wagte nicht, ihn anzublicken, ihr Blick glitt über den ganzen Raum hinweg.

»Sie waren bisher klug und folgten dem Gebot Ihres Inneren!« sprach er weiter. »Sie wissen, Maria, daß es Dinge gibt, die geschehen müssen. Wenn ich an diese Dinge dachte, dann überkam mich immer ein heiliger Schauer vor der ungeheuren Gesetzmäßigkeit des Weltalls. Es wirken Kräfte, und unbewußt 157 dienen wir ihnen. Von Pol zu Pol, vielleicht von Stern zu Stern. Und, Maria, das größte, heiligste und tiefste Gesetz ist die Anziehung der Geschlechter. Es ist mystisch und voller Rätsel. Es muß . . . geschehen . . .«

»Glauben Sie an diesen Unsinn?« fragte sie ihn plötzlich, herausfordernd lachend. Und seine Stimme nachahmend: »Es muß . . . geschehen . . . Was muß geschehen?!«

»Sie irren, Maria! Diesen allertiefsten Dingen gegenüber nützt es nicht, sie plötzlich ins Lächerliche ziehen zu wollen!«

Ungeduldig trommelte sie.

»Was muß geschehen?«

»Was bereits geschehen ist!«

»Nichts ist geschehen!«

»Sie sind mir bisher gefolgt, Maria.«

»Und weiter nicht!«

»Darauf kommt es nicht an.«

»Nein?« Sie fragte mit der Neugierde des Kindes. Die Peinigung begann, die Peinigung des Männchens durch das Weibchen, das bereits unterlegen ist und ihm noch den vergifteten Stachel ins Fleisch stößt, vielleicht, um es zur Raserei zu treiben.

Er fühlte das Gift.

»Nein!« sagte er fast tonlos. »Sie folgten mir bisher . . .«

»Und genug! Lassen Sie den Wagen vorfahren!«

»Der Wagen ist längst nicht mehr da. Der Wagen ist längst . . . in der Stadt . . . Wir sind hier allein . . .«

Seine eisigen Worte schufen einen luftleeren Raum.

Doch Maria lachte belustigt:

158 »Und diese Albernheit, für die allerältesten Romane berechnet, und auch dort wirkt sie schon veraltet, präsentieren Sie mir? Wenn einer Ihrer Redakteure Ihnen das vorsetzt, wandert seine Arbeit erbarmungslos in den Papierkorb. Sie sind sehr nachsichtig sich selbst gegenüber!«

Er verzog die breiten Lippen zu einem Grinsen.

»Ich muß Ihnen recht geben, es ist eine Albernheit. Zweifellos. Sie denken, ich wollte Sie mit diesem alten Trick zwingen oder kompromittieren! Also eine Albernheit. Aber ich wollte etwas ganz anderes . . . Eine schöne Sache, die mir gelungen ist und ganz nach Wunsch. Ich wollte weiter nichts als dies: dies Beisammensein an einem stillen Ort in der Nacht. Mit Ihnen essen und ein Glas trinken und dann . . .«

»Und weiter nichts?« – Es klang belustigt und gequält.

». . . Schlafen unter demselben Dach mit Ihnen . . . Hineinhorchen in die Nacht und Ihr Blut rauschen hören . . . an Ihren Körper denken, denken . . . solange denken, bis der weiße Körper sich in der schwarzen Nacht Strich für Strich zeichnet . . . Wirklich, Maria, weiter wollte ich nichts.«

»Weiter wollten Sie nichts? . . .« – hörte ich ihre Stimme träumerisch und versonnen.

»Nichts . . . denn das ist alles . . . ist mehr als alles . . .«

Schon während des Gespräches der beiden waren einige von den Gästen aufgestanden und hatten sich entfernt. Jetzt saßen nur noch drei an verschiedenen Tischen.

Der Chefredakteur hatte während des Gesprächs mit Maria öfter verstohlen hinübergeblinzelt. Sie 159 saßen still und beachteten das Paar nicht. Dennoch bemerkte ich, daß ihm ihre Anwesenheit nicht erwünscht war. Wenn der eine oder der andere sich entfernte, nahm er es mit großer Befriedigung zur Kenntnis; er wartete entschlossen auf das Verschwinden des letzten.

Die drei letzten Gäste saßen regungslos wie Holzfiguren.

Maria und der Chefredakteur waren verstummt. Über der Terrasse lagerte die vollkommenste Stille der Nacht.

»Nun, Maria?« – Er mußte ganz leise sprechen, wollte er nicht gehört werden.

»Erzählen Sie, bitte!«

»Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich für wichtig hielt. Ich kann nichts mehr hinzufügen,« sagte er ruhig und mit einer großen Beharrlichkeit.

Sie wurde ungeduldig. Sollte er sich diese neue Art von Genuß ausgedacht haben, dieser unbewegliche Mensch, der nur nach innen zu leben schien? Wollte er ihr die Möglichkeit, mit ihm zu spielen, aus der Hand nehmen und das Wenige, das er erreicht hatte, als Sieg feiern?

»Wenn wir also miteinander fertig sind, dann könnten wir nach Hause fahren! Haben Sie das Auto wirklich zurückgeschickt?«

»Das Auto, Maria, habe ich wirklich zurückgeschickt; denn das wollte ich genießen, daß Sie nicht fortkönnen, daß Sie hier bleiben müssen, hier neben mir und mit mir unter einem Dach schlafen.«

Sie lachte kurz und leise, wie ein sonderbares Echo seiner Wollust.

160 »Ich wiederhole, daß Sie bescheiden und ein sonderbarer Mensch sind. Ich werde bis zum nächsten Zug hier draußen sitzen und nicht in das Haus gehen!«

»Sie werden ins Haus gehen, Maria, denn heute ist Herbst.«

Er wiederholte ihren Namen fast in jedem seiner Sätze, als wollte er sie damit hypnotisieren.

»Herbst?«

»Herbst, Maria!«

Sie bedeckte für einen Augenblick ihr Gesicht mit beiden Händen, als träumte sie dem kurzen Wort nach, das sie auf sich bezog.

»Sie werden ins Haus kommen, mit mir . . . Zwischen unseren Zimmern ist eine Verbindungstür, deren Schlüssel auf Ihrer Seite im Schloß steckt, Maria. Ich werde mich nicht rühren, werde nicht atmen . . . ich werde warten, bis Sie kommen . . . Nur denken werde ich an Ihren Körper . . .«

»Schweigen Sie! . . .« flüsterte sie ängstlich.

». . . an Ihren Körper, Maria! Und wenn wir für einander bestimmt sind, werden Sie den Schlüssel im Schloß lautlos umdrehen und die Tür, die zu mir führt, öffnen. Denn alles, alles geschieht, was geschehen muß.«

»Schweigen Sie . . .«

»Ich bin anders als die meisten, Maria! Ich will die Methoden der Männer nicht. Wenn ich an Ihren Körper denken werde, muß er sich entscheiden. Sein Blut muß sich an mich erinnern, und er muß kommen, um . . .

»Schweigen Sie!« entrang es sich heiser ihrer Kehle.

»Denn kommt er nicht, dann hat er entschieden. Nur das geschieht, was geschehen muß!«

161 Er flüsterte monoton, doch jedes seiner Worte war von einer Eindringlichkeit, der Maria, ich sah es, nicht widerstehen konnte.

»Wenn Sie aber gekommen sind, dann . . .«

Nicht mehr Herr meiner selbst, wollte ich aus der schützenden Laube springen, um mich auf meinen Peiniger zu stürzen, doch ich fühlte den eisernen Griff Alexanders, und im selben Augenblick stand der eine der drei Gäste, der den beiden am nächsten saß, auf und schritt mit marionettenhaft hölzernen, langsamen Schritten an ihrem Tisch vorbei, blieb stehen, als besichtige er die finstere Nacht, setzte die langen Beine wieder in Bewegung und ging, starr in die Luft blickend, ins Haus.

»Was war das?« fragte Maria verstört.

Der Chefredakteur war aus seiner Rolle gefallen.

»Ein sonderbarer Kauz! Daß man solchen Leuten begegnen muß!« Sie gewann sofort die Oberhand.

»Die schönste Stimmung verdorben!« ironisierte sie.

»Sie haben von meinen Worten nichts verstanden!« antwortete er ohne das leiseste Zeichen von Ärger. »Sie gehen von falschen Prämissen aus, daher die falschen Schlüsse!« ergänzte er belehrend.

»Jedenfalls können wir von vorne beginnen. Ärgerlich, was solch ein fremder Mensch vermag! Aber wenn Sie erlauben, beginne diesmal ich. Und zwar gleich mit einer Bitte.«

»Ich antworte, wie vorgeschrieben: im Vorhinein gewährt!«

»Sie werden das Wort nicht zurücknehmen? Es handelt sich um meinen kleinen Freund, der in Ihrer 162 Redaktion arbeitet. Sie versprechen mir als Ehrenmann . . .«

»Daß ich ihn beim Blatt mit bestmöglichem Gehalt anstelle. Vom nächsten Ersten ist er ein ordentlicher Redakteur.«

»Ich danke Ihnen!« sagte sie warm.

Sie sah ihm scharf ins Gesicht. Ein Zucken hätte ihn verraten und sein Spiel verdorben. Er durfte jetzt nicht nach mir oder nach meinem Verhältnis zu Maria fragen. Er mußte ihre Bitte als völlig belanglos erfüllen und übergehen.

»Er ist ein begabter Mensch und ein brauchbarer Arbeiter,« sagte er sehr ruhig und hielt ihren Blick aus.

Seine Sicherheit machte sie unsicher.

»Er ahnt nicht und ist jetzt in Wien . . .«

Alexanders Hand zitterte. Ich blickte hin und sah, daß ihn lautloses Lachen schüttelte. Ein glucksender Ton entschlüpfte ihm und sprang in die Stille, die auf die letzten Worte eingetreten war. Die Stille gab den leisen Ton fünffach zurück.

Maria fuhr zusammen und schaute nach der Richtung der Laube. Der Chefredakteur folgte der Richtung ihres Blickes, stand auf und kam näher. Er horchte angestrengt, rührte sich aber nicht vom Fleck. Wir erstarrten und duckten uns. Er machte noch einen Schritt zu uns hin und stand wieder still.

»Was treiben Sie?« fragte Maria.

»Es ist nichts!« sagte er, froh, den unliebsamen Zwischenfall beenden zu können.

»Mir war, als hätte jemand gelacht.«

»Es war Täuschung. Diese erste Herbstnacht ist so unendlich still, daß man Töne hört, die aus der weitesten Ferne zu uns dringen.«

163 Als er sich setzte, erhoben sich die beiden letzten Gäste, als hätten sie sich verabredet, gleichzeitig.

Die Terrasse war verödet. Sie verschwamm allmählich, denn die Stehlampen der beiden Tische erloschen. Sie dehnte sich ins Dunkel, und es drang von allen Seiten auf die beleuchtete Stelle ein, wo Maria und der Chefredakteur plötzlich zu kleinen Figuren zusammenschrumpften. Es war mir, als sähe ich das Paar aus unermeßlicher Ferne.

»Wie seltsam hier alles ist!« sagte Maria traumverloren.

»Der alte Kellner?«

»Er scheint uralt zu sein! Und diese Gäste . . .«

»Gespenster! Trinken Sie, Maria!«

Sie leerte rasch das Glas. Dann hing sie wieder ihren Gedanken nach.

»Seit vielen Jahren komme ich ein-, zweimal im Sommer heraus. Im Herbst war ich noch nie hier . . .«

»Ein hübscher Ausflug.«

»Zum erstenmal im Herbst . . .« – träumte Maria. Sie dachte in diesem Augenblick an mich, an unsere erste Nacht hier draußen. Ich fühlte es. Herbst . . . Dachte sie auch damit an mich? Daran, daß sie mich nicht so fortwerfen konnte, wie die anderen, und daß zwischen scharfem Verstand und Leidenschaft ein Drittes ihr Leben zu beeinflussen begann? Das Mütterliche . . . Das unbekannte Gefühl, das mit dem Herbst zusammenklang . . . die tiefsinnige Trauer des Abschiednehmens von etwas Gewesenem? Eben war ihr gelungen, mir mein Leben noch einmal in meine Hand zu drücken! An der äußersten Grenze, wo die Leidenschaft gespenstisch und mit kranker Glut aufgeflammt war, zwang sie ein 164 fremdes Schicksal, mir hold zu sein: lebenspendende Tat der Mutter . . . Warum? dachte ich, warum tat sie das? Spürt sie die Reife des Herbstes und die Wärme der schräg fallenden Sonnenstrahlen, die den Winter und seine langen Einsamkeitsabende verkünden? Maria im Herbst . . .

Der Chefredakteur hatte sie nicht gestört.

»Schenken Sie mir ein!« rief sie plötzlich mit einer Stimme, in der noch die letzten Tränen, die nach innen rannen, perlten.

Er schoß einen Blick auf sie ab.

»Ja, trinken Sie! Es wird Ihnen gut tun!«

Sie erwiderte den Blick. Er merkte sofort ihre Veränderung. Alle Hindernisse waren aus dem Weg geräumt, er hatte nichts weiter zu tun als zuzugreifen, doch er blickte sie starr an und schwieg.

»Erzählen Sie!« – und eine Röte jagte über ihre Wangen, während in ihre Augen das kranke Licht sprang. Die Lippen waren von mattglänzender Feuchte bedeckt.

Wir in der Laube hielten den Atem an. Jetzt drängte alles in rasender Hast dem Ende zu. Er hatte ihren Wunsch, auf den er gefaßt gewesen sein mußte, mit einer Geste erfüllt. Die kleine Szene von Wunsch und Erfüllung war schattenhaft vorübergehuscht. Sie entschied wohl mein Leben und war für mich und Maria von unendlicher Bedeutung. Um so treffsicherer hatte er seine Eroberungstaktik gehandhabt, und indem er die Wichtigkeit zu übersehen schien und sich dabei nicht aufhielt, zeigte er sich von der besten Seite. Maria war das keineswegs entgangen. Jeder weniger geschickte Fraueneroberer hätte irgendwie das 165 Gegenteil getan und zum mindesten versucht, die Wichtigkeit zu unterstreichen.

Mit der einen Aufgabe war Maria fertig. Sie hätte abbrechen können. Das Wort des Chefredakteurs verpflichtete, er würde sicher dafür einstehen. Wollte er doch den Fortgang dieses Anfangs!

Sie blieb sitzen und wartete noch auf irgend etwas.

Als Frau hatte sie gesiegt und die schwierigste Aufgabe spielend vollbracht. Was war's noch? Hatte er sie gefangen genommen? Interessierte sie nicht nur der Chefredakteur, der mächtige, einflußreiche Mensch, sondern auch der Mann? Wollte sie ein zweites Problem lösen?

Sie machte eine Bewegung zu ihm hin.

»Bitte . . .«

In seinen Augen war in diesem Augenblick eine Drohung zu lesen.

»Was . . . wollen Sie, Maria?« fragte er schwer.

»Reden Sie . . . erzählen Sie . . . bitte . . .«

Da sprang er auf.

»Gleich, Maria! Ich werde erzählen!«

Er stürzte nach rückwärts. Schaute zurück. Maria blieb regungslos. Er verschwand im Hotel.

Minuten strichen plump dahin. Ein leuchtender Punkt auf der unendlichen Nachtterrasse: die Frau. Das gespenstische Licht verstärkte sich in ihren grauen Augen, die Nase sog einen Duft ein, den nur sie spürte.

Ein Windhauch glitt durch den Raum, aber nichts bewegte sich. Alles hielt den Atem an und wartete auf den nächsten Augenblick.

Der Chefredakteur trat aus dem Haus. Sein Blick faßte die Frau und ließ sie nicht mehr los. Die Augen 166 standen offen, starr und kalt. Wortlos setzte er sich an den Tisch.

Wieder verstrichen zwei Minuten.

Da fuhr das Auto geräuschlos vor.

Er stand auf:

»Im Hotel ist alles erledigt. Steigen Sie ein, Maria!«

Sie erhob sich, ohne ihn anzusehen. Rasche Schritte zum Chauffeur. Und ihr Atem flog, als sie sagte:

»Fahren Sie in die Stadt zurück! Wir brauchen Sie nicht mehr, wir erwarten den nächsten Zug!«

Der Chefredakteur hatte es erwartet. Das Auto sauste davon und verschwand an der Ecke.

»Und nun?!«

In ihrer Stimme lag Triumph, Hohn und Niederlage. Sie forderte den Mann an ihrer Seite heraus. Sie mußte sein Geheimnis um jeden Preis ergründen und erfahren, ob wirklich seine unterirdische Macht die Frau in den Tod getrieben hatte. Sie forderte diese Macht heraus.

Noch immer waren seine Blicke kalt und ausgebrannt. Seine Macht war die vorgetäuschte Kälte, mit der er bis zur Entscheidung durchhielt. Aber schon glomm hinter ihr das Feuer auf, und auf seiner Stirn zeigten sich blutigrote Flecke.

»Wir erwarten also den ersten Zug!«

»Hier draußen?«

»Es ist spät. Es lohnt sich nicht mehr . . .«

»Nein?«

Eine Pause klaffte nach ihrer Frage, in der sein unhörbares Keuchen hörbar wurde.

»Die Zimmer sind bereitet . . .« murmelte er.

»Und der erste Zug ist nicht – – der letzte!«

167 Noch nicht! Er wußte es: noch nicht! Er schwieg. Sein Gesicht durchfurchten plötzlich Züge, die sich tief ins Fleisch eingruben. Es kostete ihn eine übermenschliche Anstrengung.

»Was wollen Sie, Maria?«

Sie antwortete nicht. Ihre Blicke drangen tief ineinander. Der eine entkleidete den anderen. Die Zähne, die durch die offenstehenden Münder schimmerten, bissen ins Fleisch: zwei Raubtiere.

»Wollen Sie jetzt hineinkommen??« – Es klang schon Rost in der verhaltenen Stimme.

Er griff nach ihrer Hand und faßte sie hart. Es war, als wäre sie eine Leitung, die seine Glut, seine Begierde in sie hinüberleiten sollte.

»Willst du, Maria?«

Ihr Gesicht war bleich. Die Brust wogte. Sie ließ ihm die Hand und saß hypnotisiert.

Ich durfte mich nicht rühren. Jetzt nicht. Das war ein Augenblick, wie er nie wiederkehren würde. Unzusammenhängende Bilder jagten an mir vorüber . . . ich flog in einer Jacht über das weite Meer einer herrlichen Küste entgegen. Schon war sie erreicht . . . da krachte ein Donner, der Brückenheilige hob sich aus den Fluten . . . die Jacht rannte ihn an und zerbarst . . .

Er riß sie mit einer brutalen, tierischen Bewegung an sich. Seine rechte Hand verkrampfte sich in ihrem Haar.

Sie stöhnte leise auf, und der Kopf gab nach . . . er sank tief unter den seinen hinab, der wie ein Richtbeil über ihm stand. So hielt er sie sekundenlang fest und bohrte seinen Blick in den ihren. Dann stürzte er auf ihre Lippen hinab . . .

168 Ich entwand meine Hand Alexanders Griff und wollte zum Sprung ausholen. Da geschah etwas Unerwartetes.

Ihr Körper, der auf seinen Knien lag, zuckte einige Male konvulsivisch.

Dann ließ er sie plötzlich los und richtete sie auf.

»Komm jetzt!«

Sie war in ihren Stuhl geglitten und zitterte am ganzen Körper. Ihre Augen waren geschlossen. Es war geschehen: sie war ihm verfallen!

Jetzt trägt er sie ins Haus! . . .

Beim Klang seiner Stimme schlug sie die Augen auf. Eine Sekunde lang saß sie regungslos und blickte ihn unverwandt an. Ihre Augen waren grau, hart und der Blick spöttisch.

»Wohin? Sie haben das Auto nicht in erreichbarer Nähe!«

Plötzlich sprang eine Koboldschar aus ihrem Blick:

»Rufen Sie den Ober! Ich möchte wissen, wann der erste Zug fährt! Es ist kühl geworden hier draußen . . .«

Dem Chefredakteur war die Maske vom Gesicht gefallen. Er sah alt und müde aus, während Maria in unüberwindlicher Jugend vor ihm stand und lachte. Er verbeugte sich tief.

»Der erste Zug,« sagte der Ober, »fährt erst in zwei Stunden. Aber zufällig übernachtet ein Chauffeur im Haus. Wenn also die Herrschaften befehlen, werde ich ihn wecken.«

»Er soll vorfahren!« befahl der Chefredakteur.

Sie warteten auf das Auto: er mit gesenktem Kopf, sie nachdenklich lächelnd. Sie wechselten kein Wort.

169 Das Auto, in dem ich mit Alexander gekommen war, fuhr nach zehn Minuten vor.

»Kommen Sie!« sagte sie dem still Dasitzenden. Er stand auf, rührte sich aber nicht. Da reichte sie ihm über den Tisch, an dem sie gesessen hatten, die Hand. Sein Gesicht war ruhig, als er sie ergriff. Dann küßte er sie lange.

Der Wagen fuhr tutend davon.

Ich sprang aus der Laube:

»Höchste Zeit! Jetzt besorge ich die Reportage!«

*

Der große indische Dichter, dessen Siegeszug über Europa der eines anderen Napoleon zu sein schien, lächelte:

»Sie haben während der ganzen Zeit über die Frauen gesprochen. Glauben Sie mir, daß wir die Frauen nie verstehen werden; denn sie sind wie die Muttererde, die das wogende, goldene Ährenfeld hervorbringt, dann plötzlich erbebt und den Gottessegen vernichtet, während ein Vulkan, der aus unbekannten Meerestiefen hervorbricht, ein fruchtbares Land zeugt, auf dem ein goldenes Ährenfeld wogt, der große, mystische Gottessegen . . . Wir werden es nie verstehen!«

Dann fügte er gütig hinzu:

»Sie machen Reportage für Ihr Blatt! Es wird Sie also gewiß interessieren, von mir zu hören, daß Englands Politik in Indien . . .«

*

170 »Ich danke Ihnen!« sagte der Chefredakteur. »Sie haben es ausnehmend gut und verständnisvoll gemacht.«

Und in seiner Stimme klang etwas Undefinierbares mit, das ein anderer nicht herausgehört hätte: Marias Stimme und die des großen indischen Dichters. 171

 


 


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