Paul Neubauer
Maria
Paul Neubauer

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V.
Masken des Frühlings

Der Mai hielt seine Schlußfermate aus. Gewaltig steigerten sich alle Stimmen und Farben zu einer Harmonie, die ins Blau des Himmels entströmte, um von der Himmelskuppel mit verzehnfachter Gewalt auf die Erde niederzudröhnen. Ich stand betäubt im Stadtpark am Rande des großen Teiches und lauschte der gigantischen Fermate. Ein Auferstehungschor aller Atome . . . Ein flammender Abendsonnenstrahl, der Dirigentenstock Gottes, stand hoch erhoben am Horizont, und seine Ruhe riß die Stimmen der Instrumente des Lebens empor, damit sie das Letzte ihrer Kraft und Innigkeit hergaben . . . Hocherhoben und in vollkommener Ruhe stand der Dirigentenstock . . . ich wußte, er müsse im allernächsten Augenblick niedersausen, die Millionen Stimmen 106 verstummen machen; denn dies war des Maies letzter Augenblick. Ich wartete, meine Nerven waren zum Reißen gespannt . . . Jetzt, dachte es in mir . . . im allernächsten Augenblick saust der göttliche Dirigentenstock, der flammende Abendsonnenstrahl, nieder, und die Fermate aller Stimmen fällt kopfüber in die Leere . . . und schon zuckte der Strahl, doch da geschah das Unglaubliche . . . Die Fermate erreichte das letzte Fortissimo, und in dem Augenblick, da der Dirigentenstab die kurze Bewegung ausführte, an der Grenze der Allharmonie und Totenstille, erreichte mein Sehfeld ein Mensch . . . Maria.

»Komm morgen nachmittag zu mir!«

Ich erkannte die Stimme: sie war heiß und begehrend wie bei der ersten Begegnung.


Rosen. Langstielige weiße Rosen. Das Auto sauste zum Stadtviertel empor. An der Tür ein Zettel: Ich möchte sie entschuldigen, sie konnte nicht länger auf mich warten, sie habe einen dringenden Besuch zu machen.

Der Zettel mit Bleistift geschrieben, hastig und nervös. Rechts fehlte ein Stück, sie mußte ihn ungeduldig abgerissen haben.

In der Linken die Rosen, in der Rechten den Zettel, so stand ich ratlos vor der Tür und las die wenigen Worte mehrere Male, als wollte ich sie auswendig lernen.

Langsam schritt ich die Treppen hinunter. Zu meinem größten Ärger war das Auto schon weg. Inmitten dieses Villenviertels hielt sich zäh eine kleine Proletarierinsel, halbverfallene Hütten und 107 Zinskasernen des Elends. Sie reichten bis an Marias Villa – eine Folge von der Wohnungsnot der Nachkriegszeit. Die Proletarier, Frauen, Kinder, Mädchen und Zuhälter standen auf der Straße. Es war ein Spießrutenlaufen, als ich, den sie im Auto hatten ankommen sehen, mit den Rosen in der Hand ihre Phalanx abschreiten mußte. Sie hatten gewiß auch meinen Rivalen kommen gesehen; denn sie lachten, grinsten und machten in ihrem Vorstadtdialekt Bemerkungen, die ich nicht verstand.

Ich verlor meine sichere Haltung und schaute instinktiv zu Marias Fenster empor.

Und mir war, als bewegten sich Silhouetten hinter der Gardine . . .

Dieser Augenblick, ich fühlte es deutlich, schweißte mich mit Maria zusammen. Mein Schicksal biß sich tief in das ihre hinein. Sie blieb in meiner Schuld für diesen Augenblick, und sie mußte die Schuld tilgen!

Ich ging auf ein schlankes Proletariermädchen zu, die Rosen in der Hand wie einen Schild. Aus dem Tor des Stadtparkes kam gerade ein leerer Wagen gefahren, dessen Räder, mit Gummi überspannt, lautlos rollten. Auf meinen Wink blieb er stehen. Auf einen zweiten stieg das Mädchen glücklich lächelnd ein, ich überreichte ihr die Rosen, der Wagen kehrte um und fuhr langsam und federnd an Marias Fenstern vorüber. Die Proletarier waren verblüfft und verstummt, von ihren Gesichtern leuchtete große Befriedigung. Maria mußte es gesehen haben!

Dem kleinen Proletariermädchen, das ich nach einer ausgiebigen Spazierfahrt und einem Abendessen im Stadtpark nach Hause gebracht hatte, kaufte ich 108 einige Tage danach ein hübsches Kleid, das erste Paar Seidenstrümpfe und Antilopenschuhe – Beginn der Karriere des Frauenkörpers. Sie besuchte mich in der Redaktion, und wieder danach erzählte mir der Nachtredakteur von ihrem Glück, das auch diesmal als der alte, lebenslustige Mann aufgetreten war, reich genug, um das Leben arm zu machen und ein kleines Mädchen reich und glücklich.

Am Vormittag des nächsten Tages klingelte Maria an und bat mich, vor ihrem Lieblingsrestaurant auf sie zu warten. Um sieben Uhr abends, pünktlich. Wir sollten das Abendbrot zusammen einnehmen. Um sieben Uhr sah ich sie kommen. Der weite russische Kasack fiel leicht über den kurzen, plissierten Cremerock. Das Blondhaar lugte unter einem kecken, roten Trotteurhut hervor. Links von ihr der Student, rechts ein hochgewachsener Offizier. Der Student spielte das Kind; seine einzige Waffe dieser Frau gegenüber war die empfundene oder gutgespielte Naivität. Er war eine ihrer Launen. Der Offizier bewahrte Haltung. Er – Rivale eines Studenten?

Als sie mich erblickte, leuchteten ihre Augen auf, und ohne sich zu verraten, beschleunigte sie ihre Schritte. Masken des Frühlings . . . dachte ich, während ich das Bild betrachtete. Vor mir angelangt, blieb sie erstaunt stehen.

»Ach, ein netter Zufall! Sonst sieht man Sie nie! Sie stecken ewig in der Redaktion!«

Die beiden Herren verbeugten sich steif. Ich lachte:

»Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitten!«

109 Der kleine Student kannte das Goethewort und versuchte mitzulachen. Der Offizier war nicht auf der Höhe und machte ein fragwürdiges Gesicht.

»Kommen Sie noch einmal über den Corso!« forderte mich Maria auf.

»Wer von uns soll zurücktreten?« fuhr ich im angeschlagenen Ton fort. »Sie haben nur zwei Seiten!«

»Das wird sich sofort entscheiden. Man muß nicht vorgreifen!« sagte sie.

Eine Frauenwendung, zwei unabsichtlich klingende Fragen, die uns in ein animiertes Gespräch verwickelten, dem sie sich ganz überließ, und ich ging an ihrer linken Seite. Der Offizier, steif und entschlossen, das Feld nicht zu räumen, an ihrer Rechten. Der Student trippelte links von mir. Maria sprach nur mit mir, scherzte und lachte. Die beiden Rivalen waren zur Dauerstummheit verurteilt. In der Mitte des Korsos schwenkte der Student zum Offizier hinüber und versuchte ein Gespräch. Da dieser aber vor der Öffentlichkeit zur Hauptfigur gehören wollte, hielt er den Kopf zu uns gewendet und markierte mit festgefrorenem Lächeln das Interesse an unserer Konversation. Der Student gab das Spiel auf und lief schweigend nebenher. Auf meinen Vorschlag tauschten wir die Plätze, als wir umkehrten, damit die ausgerenkten Hälse sich wieder einrenken konnten.

Vor dem Restaurant fragte mich Maria:

»Wollen Sie mit mir essen?«

Die beiden Herren verbeugten sich tief vor ihr und steif vor mir und entfernten sich nach entgegengesetzten Richtungen.

Das war Marias Antwort auf meine Augenblicksproduktion mit dem Proletariermädchen.

110 Während des Essens hielten wir die Fechterklingen gekreuzt.

Ich durfte nicht nachgeben. Sie wollte keine Gefühle, sie wollte Spiel, dessen Instrument der Körper war. Sie löste das uralte Problem der Geschlechter ganz nach eigenem Willen, der originell und bedeutend erschien. Ich ahnte, sie würde diese Lösung reichhaltig und neu, vielleicht sogar entscheidend, gestalten, wenn ich mich als geschickter Partner erwies. Auch muß man sich in diesen Dingen dem Zufall mehr anvertrauen als der Logik, die ein Substrat der alltäglichen Erfahrung ist und heute nicht mehr ausreicht, das baufällige Gebäude der Ehe zu halten, und noch weniger, um in das Verhältnis von Mann und Frau Licht zu bringen, ein Licht, das neue, bessere Wege zeigt als die bisherigen.

Sie stellte mich auf die Probe und erzählte mir vom Nachmittag. Einem telephonischen Anruf zufolge habe sie fort müssen.

»Du mußtest nur wenige Minuten später gekommen sein!« bedauerte sie.

»Und mit langstieligen weißen Rosen!« sagte ich vollkommen ruhig.

»Wo hast du sie hingetan? Nicht einmal mein Stubenmädchen war zu Hause.«

»Sie stehen in meiner Wohnung, ich habe sie aufbewahrt.«

»Kann ich sie mir noch heute abend holen?«

»Gewiß, Maria!«

»Wir trinken also hier noch eine Flasche, und ich hole mir dann die Rosen.«

»Bist du auf die Rosen so erpicht?«

111 »Was mir zugedacht war, gehört mir, und ich will es haben!«

»Du sollst sie haben!«

Meine Ruhe verwirrte sie, aber der Sekt kam, und das Gespräch sprang auf ein anderes Thema. Als sie sich für einen Augenblick entfernt hatte, winkte ich einen Kellner heran und gab ihm den Auftrag, an mein Hotel zu telephonieren, man möchte mir weiße Rosen auf meinen Tisch stellen; da aber Maria in diesem Augenblick den Saal betrat, beantwortete ich die Frage seiner welterfahrenen Augen mit einem raschen Nein. Ich hatte ihn dahin verstanden, daß er jetzt telephonieren wolle, aber mein Blick fiel auf Maria.

In meinem Zimmer standen keine Rosen, die ihr zugedachten hatte ich dem Mädchen geschenkt und hatte es vor ihren Augen getan. Darum vielleicht überließ ich mich in diesem Augenblick dem Zufall, wollüstig, herausfordernd, hasardierend.

Maria kam mit kleinen Schritten und zögernd an den Tisch. Sie lächelte noch immer, als sie sich zu mir setzte.

»Noch dies Glas, und wir gehen.« – Ich bewahrte mit größter Anstrengung meine Ruhe. Auf dem Weg zum Hotel überraschte mich ihre Versonnenheit und Schweigsamkeit, die ich nach einigem Nachdenken als Verstimmung auffaßte.

Vor der Zimmertür warf sie mir einen großen, erstaunten Blick zu. Sie wunderte sich über die Frechheit, womit ich die Rolle zu Ende spielte, und ich glaubte eine Warnung herauszulesen: ich sollte umkehren und mich lieber geschlagen geben, als mich einer Blamage aussetzen. Doch mein Trotz gab nicht nach.

112 Ich lachte unmotiviert auf und drehte den Schlüssel im Schloß um.

Das Herz schlug mir wild in der Brust. Maria legte ihre Hand auf meine Faust, die den Schlüssel hielt. Sie wollte mich zurückhalten . . . Ich wußte, sie würde mir die Enttäuschung, die männliche Ungeschicklichkeit, nie verzeihen. Jede Frau, die einfachste, hätte in diesem Fall entgegengesetzt gehandelt. Dies alles wußte ich und fühlte den Trotz, der mich in die Arme des Zufalls warf und brachte dennoch den Mut auf, sie verhalten zu fragen:

»Hast du kein Vertrauen zu mir, Maria?«

Da gab sie meine Faust frei, und ich drückte die Türklinke nieder. Das Zimmer war dunkel.

Als wir eintraten, faßte sie mit eisernem Griff meine beiden Hände und hielt mich fest. Sie wollte mich am Lichtmachen verhindern, um den Augenblick hinauszuschieben. Unsere Augen bohrten sich im Dunkel ineinander. Sie sahen das Zimmer nicht; denn sie suchten das Innerste ihres Gegenübers. Das plötzliche Erblinden schmerzte und steigerte die Qual der Entscheidung . . .

Jetzt stirbt der Frühling, dachte ich, dies ist seine letzte Maske . . . Und ich umschlang Maria zum Abschied. Sie schmiegte sich an mich. Zum Abschied, dachte ich . . .

Doch ihrem kaum merklichen Druck nachgebend, stand ich plötzlich dem Tisch gegenüber. Ein verschwommener Lichtstreifen aus einer fernen Glühbirne der Straße fiel darauf, und ich sah das Wunder: auf der Platte standen in einer hohen Vase weiße Rosen auf ungewöhnlich langen Stielen! Ich durfte nicht fragen . . . und nur Marias Stimme erklang.

113 »Meine Rosen! Du hast sie mir aufbewahrt, hast sie nicht weggeworfen . . .«

Schritt für Schritt gingen wir zum Tisch dem Wunder entgegen, an das ich in dieser Stunde inniger glaubte, von dem ich überzeugter war als von meinem Leben und allem, was es mir bisher beschert hatte.

Maria bettete ihr Gesicht in die Rosenköpfe. Langsam beugte sie sich darüber. Sie breitete die Arme aus und stützte sich auf die Tischkante. Die kleine Bewegung hatte etwas tief Religiöses, etwas von orientalischer Weihe. So verneigt sich der Muezzin, Allahs Macht vom Minarett verkündend, wenn über dem goldenen Horn die Sonne untergeht. Maria beging eine Zeremonie, ich erfühlte es, ohne den Grund zu kennen: sie verneigte sich tief vor einer geheimnisvollen Macht. 114

 


 


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