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Ariadne auf Naxos und die Unbrauchbarkeit von Wundern. Wie Stoffel die Sache ansah, und Kaatjes Auffassung von der Vererbung.

Jüffrau Laps war das »unglücklichste der Weiber« und das Zimmerchen, aus dem Walther so plötzlich geflüchtet war, der Tempel der verschiedenartigen Schmerzen, die ein Romanschreiber bei solchen Gelegenheiten zur Verfügung hat.

Ich will Walther nicht über Josef, Theseus, Jason oder Hippolytos stellen. Apollo bewahre mich vor dieser Affenliebe; ich sehe in meinem Helden durchaus nicht den interessantesten Sterblichen, der je ein Weib im Stich gelassen hat. Nein, nicht in Walthers Wert suche ich den Maßstab für die Verzweiflung der Verlassenen. Und sie selbst nährte ihren Schmerz nicht ausschließlich damit, daß sie auf den Wert des verlorenen Schatzes hinstarrte. Es gab noch etwas anderes dabei, was ihren Schmerz zum Entsetzen, zur Wut anstachelte. Alle Achtung vor den Schmerzen der übrigen verlassenen Damen, vor Asnath, Ariadne, Medea, Phädra – aber Jüffrau Laps mußte die Geschichte vor Walthers Familie vertreten. Das war es!

Die wunderbarsten Pläne gingen durch ihren Kopf. Wie wäre es, wenn sie erzählte, er wäre vor den Augen des Volkes weggenommen und aufgefahren im feurigen Wagen, wie weiland der Prophet Elias? Sie ließ diese Idee fallen, aus Besorgnis, daß ihr kein Mensch glauben würde. Nicht einmal Polizei und Justiz ist für dergleichen zu haben.

Sie begann damit, daß sie wartete, ob ihr kleiner Theseus vielleicht wiederkäme. Sie hatte nicht deutlich sehen können, ob er in die Schenke geraten oder irgendwo unter der Volksmenge geblieben war, die davor stand.

Vielleicht hatte diese oder jene Strömung der johlenden Menge ihn mit sich gerissen. Wohin? nach ... Amerika oder ins Pfefferland? Das wäre gar nicht so schlecht, fand sie, denn eigentlich hatte sie mehr Furcht vor Walthers Rückkehr zu den Seinen, als daß sie nach seiner Rückkehr zu ihr Sehnsucht hatte.

Das ist leicht zu begreifen. Was würde wohl Walther zu Hause erzählen? Zu ihrer großen Enttäuschung war seine Mitschuld nicht so weit gediehen, daß er hätte schweigen müssen, im eigenen Interesse, und andere Gründe für solche Keuschheit verstand sie nicht, dazu stand sie zu tief.

Sie dachte an die Methode Asnaths, der Frau des biederen Potiphar. Ach, dazu ist aber die entzückende Naivetät Potiphars nicht zu entbehren, und sie hatte Menschenkenntnis genug, um zu wissen, daß weder Stoffel noch selbst Walthers Schwestern unschuldig genug waren, sich in solchen Netzen fangen zu lassen. Man hätte wohl Verdacht gegen die Anwendung ihrer Bibelkunde gehabt.

Da wollte sie sich doch lieber auf Walthers ... Kinderhaftigkeit verlassen.

Aus Ärger und Wut biß sie ihre Fingernägel ab und fluchte auf all das Volk, das da unter ihren Fenstern noch immer die Nachfeier eines Festes beging, das gar nicht stattgefunden hatte. Einige Augenblicke schmeichelte sie sich mit der Hoffnung, ihren Deserteur noch einmal ins Auge zu fassen, und wenn es glückte, wollte sie ihn mit Krallen und Zähnen in ihr Nest schleppen – nicht um des Vergnügens seiner Gesellschaft willen, sondern um zu verhindern, daß er nach Hause ging und dort mehr erzählte als ihr lieb war.

Aber sie hatte kein Glück damit. Ermüdet von dem langen Hinstarren, schob sie endlich ihr Fenster zu, gerade einen Augenblick zu früh, um den Wagen noch wegfahren zu sehen, der Prinzeß Erika nach dem Schlosse auf dem Damm bringen sollte.

Die Morgenstunde war schon angebrochen, aber unsere Jüffrau Laps begriff wohl, daß es noch zu früh war, um zu den Pieterses zu gehen.

Und obendrein ... was sollte sie da sagen? Daß ihr Ritterchen mitten in der Nacht davongelaufen war? Warum? Wohin? Wer gab ihr Sicherheit, daß nicht die ganze Geschichte schon durch ihn selbst bekanntgegeben war? Sollte Frau Asnath hinter Josefs Netz fischen? O, wie scheußlich!

Sie beschloß ... nichts zu beschließen, und die Sache noch ein paar Stunden dem Herrn zu befehlen. Mit diesem Seufzer bestieg sie ihr jungfräuliches Lager, und vor dem Einschlafen stöhnte sie noch vor sich hin: »Hätte doch der Bengel das Genick gebrochen, wie der Hohepriester Eli, 1.Samuelis 4!«

Aber mit den wohlthätigen Wundern ist es heute nichts. Der verd... Schwärmer!

Und nun, gütige Muse, führe uns zurück nach der Pietersburg! Blase mir ein, was dort geschah während Walthers romantischer Verzauberung, und sorge, daß meine Sprache nicht zu tief unter der Würde des Gegenstandes zurückbleibe!

Wir wissen schon, o Klio, wie die Schloßherrin ihren Sproß ausziehen sah zum Schutze seiner improvisierten Dame, und wie sie zwar keine Segenswünsche und keine geweihte Schärpe mitgab, aber doch die bekannte Nachtmütze. Wir wissen auch, wie Junker Stoffel, der Erbstatthalter des Familienruhms ...

Ach, wir wollen doch lieber die Sache einfach behandeln. Lassen wir die Muse.

Jüffrau Pieterse war den bewußten Freitagabend zu Bett gegangen wie gewöhnlich. Und die anderen auch. Von schrecklichen Träumen hatte sich nichts gezeigt. Keine Spur von Angst über die schreckliche Gefahr hat sich erhalten, der sich Walther so unbedacht preisgegeben hatte, vielleicht, weil eine solche Gefahr den Angehörigen des armen Jungen ganz unbekannt war. Jüffrau Laps hätte es gar nicht nötig gehabt, ihre Absicht so schlau zu verstecken. Walthers Namen bei dem Aufruf der Ritter so sorgfältig wegzulassen – ein überflüssiger Luxus an Politik. Dank der Dummheit der Familie hätte sie ihr Ziel bei gröberer Behandlung der Sache auch erreicht.

Der Samstagmorgen brach an, jener Morgen, an dem Walther bei der guten Frau Claus so kräftig unter die Hand genommen wurde.

»Ich weiß um die Welt nicht, wo bleibt bloß der Junge so lange?« sagte die Mutter.

»Er wird nicht so früh aufgestanden sein, und vielleicht läßt sie ihn beim Frühstück ein Kapitel aus der Schrift lesen.«

So Stoffel. Und dabei beruhigte sich die Familie wieder auf ein halbes Stündchen.

»Wie wär's, wenn du selbst mal hingingst?« schlug endlich Jüffrau Pieterse vor.

»Geht nicht, Mutter! Du weißt, es liegt nicht auf meinem Wege nach der Schule.«

Das war ein gültiger Grund. Man muß nie thun, was nicht auf dem Wege liegt. Einer der lieblichen Grundsätze wohlverstandenen Konservatismus. Stoffel selber wußte nicht, wie tief der Sinn seiner politischen Grundregel war.

»Aber ... wenn wir Leentje mal hinschickten ... fragen, wo der Junge bleibt?«

Das fand Anklang.

Leentje ging und kam bald mit der Botschaft zurück, daß Walther »wohl ein bißchen spazieren ginge.«

So hatte Jüffrau Laps in ihrer Herzensangst gesagt.

Und es war ja auch nicht ganz unrichtig. Der Leser weiß es. Jüffrau Laps unterließ bloß, hinzuzufügen, warum er spazieren ging, und zu welcher Stunde er von ihr weggegangen war. Leentje hatte kein Arg und fragte nicht, denn es schien zu selbstverständlich, daß er nicht im Dunkel der Nacht ausgezogen sein würde.

So kam also schließlich weiter nichts heraus als die absonderliche Gewohnheit Walthers, sich herumzutreiben, über die man sich ja schon öfters gewundert hatte.

»Da hat man's wieder!« sagte die Mutter. »Der Ärger, den ich mit dem Jungen habe! Ein anderer macht ein Schläfchen nach dem Essen, nicht? Und er – was thut er? Am frühen Morgen läuft er herum! Ich frage dich selber, Stoffel, hat das 'ne Art?«

»Nee, Mutter!«

»Und uns in der Angst sitzen lassen!«

»Ja, Mutter!«

»Siehst du, das ist nun wieder so'n Stück von ihm. Er müßte doch wissen, daß wir hier alle miteinander in tödlicher Unruhe ... Gott weiß, wo er sich wieder herumtreibt!«

»Gewiß, Mutter! Und nun ist's Zeit für meine Schule ... 'n Morgen, Mutter!«

Stoffel zog ab.

Von der Angst und der Unruhe war kein Wort wahr. Das gehörte so dazu, meinte die Familie, die im übrigen nicht die geringsten Anzeichen von sich gab, daß sie etwa über Walthers Schicksale bekümmert war. Auch hier spielten wieder einmal Dummheit und Trägheit ihr gewöhnliches Spiel. Es konnte ja sein, daß dem Knaben ein Unglück zugestoßen war ... seine Mutter fand es bequemer, ihn eines ungezogenen Betragens zu beschuldigen, als sich ernstlich darum zu kümmern, wo er eigentlich geblieben wäre.

Und dabei blieb es auch, bis Doktors Kaatje kam.

Der Leser weiß wohl, wie Holsma seinem Kutscher auftrug, vor Walthers Wohnung einen Augenblick zu halten, damit das Mädchen aussteigen könne.

Alles war schleunigst ans Fenster gestürzt.

»Da ist er! Da ist er!« rief die ganze Familie, so laut sie konnte. »Er sitzt fürwahr in Doktors Kutsche!«

Diese Wahrnehmung verscheuchte alles andere, und Kaatje hatte es leicht mit ihrer Aufgabe, die Familie zu beruhigen. Es kam gar nicht mehr darauf an, wo Walther gewesen war ... er fuhr ja in der Kutsche! In Himmels Namen, was will man mehr?

»Bei Doktors gefrühstückt? Mensch, was sagen Sie? Und ... und ... warum hat der Kutscher seine Bärenmütze nicht auf?«

Die erstaunte Kaatje berief sich auf die Jahreszeit und fand den Empfang, der ihr zu teil wurde, sehr komisch. Der Verdacht, den sie gegen Walthers geistige Gesundheit hatte, empfing neue Nahrung durch die sonderbare Art und Weise, wie ihre Botschaft aufgenommen wurde. Am Ende war die ganze Familie ... ein bißchen ...

»Und hat er wirklich bei Doktors gefrühstückt? Trude, verstehst du ... gefrühstückt?«

»Ja, Jüffrau, er hat bei uns ... gefrühstückt! O ja, gewiß, gefrühstückt ... der Herr Doktor hat's selber gesagt!«

»Beim Herrn Doktor! Und ... gefrühstückt, sagen Sie! Auf dem Kolveniersburgwall?«

»Na gewiß! Wo denn sonst?«

»Und ist er auch manierlich gewesen?«

»Ja doch. Jüffrau ... aber ...«

»Und nun sitzt er beim Herrn Doktor in der Kutsche!«

»Gewiß doch, Jüffrau ...«

»Hören Sie mal, meine Liebe, ich will Ihnen mal was sagen, aber Sie müssen es keinem weiter erzählen. Er ist ein ungewöhnliches Kind, wissen Sie ...«

»Ja,« seufzte Kaatje, vollkommen überzeugt, »das weiß ich!«

»So? Wissen Sie? Und wissen Sie auch, warum? Das will ich Ihnen sagen. Er ist ein ungewöhnliches Kind, weil – geh mal ein bißchen beiseite, Petro, und du auch, Mine... Trude kann da bleiben, aber guck auf deine Arbeit! – er ist so ein ungewöhnliches Kind, wissen Sie, weil ... wie ich mit ihm ging, verstehen Sie ...«

»Ach, Jüffrau!«

»Ja, ja, meine Liebe, da habe ich von 'm Schmetterling, geträumt, der 'n Elefant wegzog. Verstehen Sie nun?«

»Ach ja, ja, ja, Jüffrau! Ich verstehe es ganz wohl!«

»Sehen Sie, und darum... Machen Sie meine Empfehlung an den Herrn Doktor, und ich lasse mich schön bedanken. Es ist bloß, wenn er nur artig ist ... Walther, meine ich. Ach, trägt der Kutscher so 'ne Mütze immer bloß im Winter?«

Kaatje machte, daß sie hinauskam. Sie nahm sich vor, niemals von Schmetterlingen und Elefanten zu träumen. Solch eine Ausschweifung kam ihr höchst gefährlich vor, denn sie fing jetzt allen Ernstes an zu glauben, daß die ganze Familie verdreht wäre, und daß sie bei Walther erst eine kleine Probe davon gesehen hätte.

Als ein paar Stunden darauf der Doktor selbst kam, um Jüffrau Pieterse zu beruhigen, kannte die Freude über Walthers Erhöhung keine Grenzen. Holsma achtete wohl auf diese und andere Narrheiten, und er machte Gebrauch von diesen Bemerkungen, als er sich vornahm, Walther eine gewisse geistige Diät vorzuschreiben, die er nach dem Vorfall im Theater angebracht hielt.

Jüffrau Laps wußte selber nicht, wie gut alles abgelaufen war. Den ganzen Tag bangte sie noch um ihre »Ehre« – aber die Muse schien ihr keine Tragik zu gönnen.


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