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Schlagender Beweis von Walthers Besserung, mit Hilfe eines kirchlichen Zeugnisses. Walthers erste Einladung und Studie in der Liebe.

Walther war bedrückt und niedergeschlagen. Selbst Leentje gab sich vergebliche Mühe ihn aufzuheitern, und das ging um so schlimmer, als sie, offen gesagt, aus ihrem Schützling nicht recht klug wurde.

Ihr Fassungsvermögen reichte für Walthers vertrauliche Mitteilungen nicht aus, und sie konnte sich nicht enthalten, den Jungen mit einem teilnehmenden Blicke anzusehen, der Zweifel an seinem gesunden Verstande verriet. Vergeblich sparte sie sich ein paar Deute von ihrem knappen Wochengeld ab, um ihn mit den früher so willkommenen Pfeffernüssen zu beglücken – Walthers Seele war ihren Pfeffernüssen entwachsen, und diese Entdeckung verursachte Leentje bitteren Schmerz.

»Aber, lieber Junge, sei doch nur verständig und laß dir nicht mit solchem Zeug den Kopf verkeilen! Diese Fancy, oder wie das Mensch heißt, hat dich gefoppt ... oder du hast geträumt.«

»Nein, nein, nein, Leentje ... alles ist die Wahrheit! Ich weiß ganz genau, alles, was sie gesagt hat, ist die reine Wahrheit.«

»Aber Walther ... die Geschichte mit deinem Schwesterchen ... das hättest du doch früher wissen müssen.«

»Ich wußte es auch, aber ich hatte es vergessen. Alles, was Fancy sagte, wußte ich. Es war mir bloß entfallen. Wie sie sprach, kam's mir wieder deutlich zum Bewußtsein.«

»Ich werde mal zu den Mühlen gehen,« sagte Leentje.

Und das that sie. Nach Walthers Beschreibung fand sie den rechten Fleck, wo die wichtige Begegnung stattgefunden hatte. Sie sah die Balken, den Schmutz, die Enten, das Grün ... alles war da, auch die Asche, alles ... außer Fancy und ihren Geschichten.

Und auch Walther fand Fancy nicht mehr. Vergeblich ging er mit den anständigen Hallemännchen spazieren, so oft man ihn zu Hause für überflüssig erklärte. Vergebens stand er stundenlang an der Brüstung seiner Brücke und horchte nach dem Geklapper seiner Mühlen. Sie erzählten ihm nichts und sangen nicht, und es kam keine Fancy.

»Sie wird zu viel Dienst haben am Hofe meiner Mutter,« seufzte Walther und ging betrübt heim.

Als er aber durchs Fenster all die schönen Sterne sah, die ihm so freundlich zufunkelten und ihm Mut einsprachen, wurde er besser gestimmt. Die Traurigkeit blieb, aber sie war weniger bitter. Sie ging vom Schmerz über in Heimweh, in süßes Verlangen »nach Hause,« und Thränen im Auge, aber nicht mehr verzweifelnd, flüsterte er:

»Omikron, Omikron!«

Wer hörte das Rufen? Wer verstand die Klage über die Verbannung? Wo und durch wen wurde der Seufzer nach dem Höheren, das feurige Begehren, in einen edleren Stand zu kommen, beachtet?

Nach langen Beratungen, und auf Walthers ausdrückliches Versprechen der Besserung, hatte endlich Meister Pennewip sich erbitten lassen, der Räuberhauptmann und Frauenschänder war wieder in Gnaden aufgenommen, oder wenigstens nahe dran. Walther durfte wieder in die Schule gehen und sich in Versemachen, Schönschreiben, Zeitwörtern, holländischen Grafen und dergleichen Wissensschätzen vervollkommnen.

Der Lehrer sagte, daß jener Junge zu Muiderberg noch verdorbener gewesen war, und er hatte selbst dafür Rat gewußt. Es würde wohl auch mit Walther noch gehen, aber Jüffrau Pieterse müßte den Hauspastor wechseln, denn der jetzige »gehörte in die Klasse der Weinsäufer.« Nun, das that sie. Walther wurde bei einem wirklichen Pfarrer in Unterricht gegeben, der nach der Kirchenzeit aus einem Buche »Fragen überhörte.«

Den Titel des Buches weiß ich nicht mehr, aber die ersten Zeilen waren:

Erste Frage: Von wem hast du und alles, was ist, deinen Ursprung?

Walther hätte gern sagen wollen: von meiner Mutter – aber in dem Buche stand:

Antwort: Von Gott, der alles aus dem Nichts geschaffen hat.

Zweite Frage: Woher weißt du das?

Antwort: Aus der Natur und aus der Offenbarung.

Das verstand Walther nicht, aber gutmütig und folgsam, wie er war, antwortete er treuherzig, was da im Buche stand. Es war ja ärgerlich, daß der schöne schulfreie Sonntag, so recht zum Bummeln geeignet, durch das »Aufsagen« der Könige Israels zunichte gemacht wurde, auch war er auf die Juden neidisch, die immer »weggeführt« wurden – ein Unglück, das ihm ganz famos vorkam – aber er gab sich drein mit frommer Geduld und war nicht der Geringste unter den Seligkeitslehrlingen. Wie nun das Jahr um war, bekam er ein Buch mit dreihundertfünfundsechzig Bibeltexten, einundzwanzig Gebeten, ebensoviel Danksagungen, einem Vaterunser, den zehn Geboten und den Artikeln des Glaubens. Es war auch eine Anweisung drin, wie das alles gebraucht werden mußte, eins auf den Tag, ein Jahr lang ... dreimal täglich, eine Woche lang zur Wiederholung ... und der Rest nach Bedarf. Vorn stand auf einem eingeklebten Blatt:

Zur Belohnung
für Walther Pieterse,
weil er
die Lektionen in der Noorderkerk
gut
aufgesagt hat,
und
zur Ermutigung,
um
zur Ehre Gottes
auf
dem eingeschlagenen Wege
fortzufahren.

Und darunter standen die Namen von Pfarrer und Kirchenältesten, mit Schnörkeln, die Pennewip beschämen konnten.

Der Anstand der Hallemans nahm zu. Die Eltern dieser Kinder mieteten einen Garten an dem »Overtoom.« Das war so »ganz draußen,« sagten sie, und »man konnte doch nicht immer in der Stadt bleiben.« Außerdem: »die Kosten waren so groß nicht,« denn es war ein Gärtner für die ganze Geschichte, und es standen wohl dreißig Beerensträucher da, und das war doch immer eine Annehmlichkeit. Auch wäre wohl Gras genug, um die Wäsche zu bleichen, und das macht für die Wäsche viel aus: denn, so sagte die Stammfrau der Hallemannen, kürzlich war in Betsys Kleide ein Eisenfleck gewesen ... darum war es ganz gut, den Garten zu mieten, und wenn Leute drüber redeten, wäre es der reine Neid. Auch war eine Regentonne da ... und die Jüffrau Karels hatte gesagt, daß sie leck wäre, aber das war Verleumdung, denn jeder mußte selber wissen, was er thut, und wenn man was thut, hat man immer so viel Rederei bei den Menschen ... und wenn man sich daran kehrte, konnte man überhaupt nichts thun ... und für die Kinder war es eine rechte Erholung ... die Jüffrau Karels konnte sich um sich selber kümmern ... und wenn Gustav Geburtstag hätte, so könnte er »junge Herren« einladen ...

Gustav hatte Geburtstag. Es sollten junge Herren eingeladen werden, und – o Glück! Walther war unter den Auserwählten.

Es würde mich zu weit führen, hier zu untersuchen, was eigentlich Gustav und Fränzchen bewog, ihren ehemaligen Compagnon von dem Pfefferminzgeschäft für die Festlichkeit in Vorschlag zu bringen. Die Liste der Geladenen wurde aufgestellt und genehmigt, und da Jüffrau Pieterse sich geschmeichelt fühlte, daß ihr Sohn mit Leuten verkehrte, die in einer Villa wohnten, so wurde auch von dieser Seite keine Einwendung gemacht. Walther mußte natürlich versprechen, »ganz anständig zu sein, sich nicht schmutzig zu machen, nicht zu balgen, seine Kleider nicht zu zerreißen« und dergleichen mehr. Auch meinte Jüffrau Pieterse, »daß es sehr gütig von ihr wäre, ihm das zu erlauben, denn es wäre doch eine Sache mit solchem Besuche!«

Ja, Walther sollte einen Besuch machen! Zum erstenmal essen, trinken, sich unterhalten unter fremdem Dache. Es war ein Hauptereignis in seinem Leben, und er fühlte schon weniger Neid auf die Juden, die so oft auszogen und zuletzt gar nicht wieder nach Hause kamen.

Der herrliche Mittag war angebrochen. Mit unbeschreiblicher Würde stieg Walther aus dem Thorweg. »'n bißchen rechts, links, wieder links, dann über 'ne Brücke, und dann rechtsweg ... 's war nicht zu verfehlen,« hatte Gustav gesagt. Und der Garten hieß »Stadtruhe«, also »Walther sollte nur fragen, er würde es schon finden.«

So war es auch.

Wer zum erstenmal zu Besuch geht, kommt immer zu früh. Walther kam vor den übrigen Gästen auf Stadtruhe an, aber Gustav und Fränzchen empfingen ihn sehr nett und stellten ihn ihren Eltern vor, die sagten, Walther hätte ein hübsches Gesichtchen, wenn er bloß nicht so blaß wäre.

Die anderen Spielgenossen kamen dann auch heran, und das Laufen und Werfen nahm seinen Anfang, wie es bei Knaben der Brauch ist. Das wurde dann mit Waffeln und Limonade unterbrochen, »die ganz langsam getrunken werden mußte, weil die Kinder so geschwitzt waren.«

Als die Stammmutter der Hallemannen von den Beerensträuchern und der böswillig verleumdeten Regentonne sprach, hätte sie unter den Vorzügen von Stadtruhe auch die Laube erwähnen können, in der Betsy saß mit jenem Herrn ...

»Wer ist das?« fragte Walther die kleine Emma, die mit den Jungens mitspielte.

»Na, das ist Betsys Schatz ...«

Wir wissen aus der rührenden Geschichte der langen Cecil, daß Walther seine erste Liebe schon hinter sich hatte, aber doch erschien ihm Emmas Mitteilung als etwas Neues. Bis dahin war ein Schätzchen, seiner Meinung nach, ein Mädchen, dem man Schieferstifte und Bonbons schenkte. Aber Betsy schien über so etwas erhaben. Walther begriff sofort, daß er die lange Cecil nicht richtig behandelt hatte, und auf einmal kam ihm die Lust, zu wissen, wie ein erwachsener Herr mit einem Mädchen umgeht, das nicht mehr zur Schule geht.

»Ihr Schatz?«

»Na ja ... engagiert!«

Das Wort war Walther zu modern, und wenn der Leser scharfsinnig genug ist, kann er nun wohl berechnen, in welchem Jahre jenes Mädchen ihre Ehe mit dem Barbiergesellen schloß. Man stelle sich einfach die Frage: Wann ist in der Klasse Bürgerstand III, 7, a¹ (Pp)das alberne »Engagiert sein« aufgekommen für das herzliche »Freien«?

»Wie?« fragte Walther.

»Engagiert ... sie gehen miteinander.«

»Was ist das?«

»Na ... sie wollen sich heiraten. Weißt du nicht?«

Walther schämte sich, daß er so etwas Einfaches nicht wußte, und wie das öfter vorkommt, er schämte sich noch einmal darüber, daß er sich schämte.

»Gewiß, das wußte ich wohl ... ich hatte bloß nicht recht verstanden. Emma ... willst du mich heiraten?«

Emma konnte ihm für den Augenblick nicht den Gefallen thun, weil sie mit ihrer Mama »engagiert« war. Aber sobald sie wieder frei sein würde, wollte sie es sich überlegen, und dann hatte Walther Aussicht. Denn sie sah ihn recht freundlich an, ehe sie weglief, weil das Spiel sie in die andere Ecke des Gartens rief.


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