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Ein sehr prosaisches Kapitel, voll lauter Realismus. Gymnastische Übungen einer kastalischen Nymphe. Ein Ritter, der einen Brief aus dem Himmel empfängt.

Als Waltherchen sich ins Gras setzte, hatte er die Absicht, da zu warten, bis er in Femkes Häuschen Leben spürte. Er war sich ja ganz unsicher, ob sie da wäre, aber irgend etwas mußte doch sein. Er wußte nicht, ob sie nicht noch bei den Holsmas war.

Ach! er war so müde! Drei Bäume hätten ihn nicht genügend stützen können, und er hatte nur einen. Er fiel denn auch bald um und lag da gar nicht anständig. Sein Mützchen rollte in den Graben und ging allmählich im Modder unter. Ging hin und wieder einer vorbei, so meinte der, daß da ein Betrunkener läge. Ja, die Jugend fängt früh an! Es konnte ja freilich auch ein Kranker sein – aber dazu ist die Polizei. Also that ihm keiner etwas.

Da hörte er in seinen Träumen eine Stimme:

»Lieber Gott, Junge, wie kommst du hierher?«

Erst hörte er diese Stimme etwas entfernter, dann näher und schließlich ganz nahe. Er hatte den unbestimmten Eindruck, als ob jemand ihn aufrichte.

»Sietske!« flüsterte er noch schlafend.

»Ja, so heiß ich. Woher weißt du das?«

»Sietske ... Holsma!«

»Na gewiß. Wer hat dir das gesagt? Und was machst du hier? Sehr anständig ist das nicht! Bist du betrunken? Sehr schlimm, so'n junges Blut!«

Gewiß, er war – schlaftrunken, und er sprach noch einmal Sietskes Namen aus.

»Na, mir macht's nichts, wenn du mich beim Vornamen nennst. Aber wie kommst du dazu? Hat Femke dich so klug gemacht? 's ist 'ne wahre Schande, hier so zu liegen wie'n ...Schwein, das sag' ich! Und noch vor keiner Stunde saßest du hoch wie 'n Ritter ...«

Die Person, die so zu ihm sprach, war niedergekniet und stützte ihn. Aber er fiel regungslos auf sie. Sie ließ ihn ins Gras gleiten.

»Ach, lieber Gott!« rief sie plötzlich, »wie kann ich so reden! Das Kind ist vom Pferde gefallen, der Arme! Himmel, was bin ich schlecht! Sage, bist du vom Pferd gefallen? Was thust du denn auch auf so 'm Beest? Wo ist deine schottische Mütze? Sie stand dir so nett. Und das Säbelchen. O Gott – bist du tot?«

»Sietske,« hauchte Walther.

»Gut, gut, nenne mich ruhig bei meinem Namen. Ich bin nicht stolz. Sag mir bloß, ob du tot bist! Wenn doch Femke hier wäre!«

»Femke?« klärte sich etwas in dem Schläfer auf. »Femke ... nicht Sietske?«

»Sietske bin ich, Frau Claus!«

Er öffnete die Augen, aber er schloß sie auch sofort wieder.

»Nenn mich, wie du willst ... ich bin 'ne Waschfrau ... wenn du mir bloß sagen wolltest, ob du dir Schaden gethan hast! Schande von deiner Mutter, dich auf so 'n Tier zu lassen ... gewiß hast du Arme und Beine gebrochen. Und die Rippen? Vielleicht auch 'n Hals. Eben sahst du noch so hübsch aus – 's ist keine Stunde her! Was wird Femke sagen?«

Walther rieb sich die Augen.

»Soll ich Pater Jansen holen lassen? Ach, der arme Wurm kann nicht sprechen. Was hast du gebrochen?«

»Gebrochen, ich?«

»Ja, du Ärmster, sag's nur!«

Walther befühlte sich. Als er an die Stelle kam, wo die Baumwurzel ihre Knorren eingedrückt hatte, nahm sein Gesicht einen fragenden Ausdruck an.

»Gebrochen? Ich!«

»Wer sonst?«

»Wer soll's gethan haben?«

»Wer? Du selber!«

»Ich?«

»Was thust du denn auch auf so 'm Tier?'

»Ich? Auf'm Tier?«

»Weißt du denn nicht, daß du vom Pferde gefallen bist? Bist du vielleicht ein bißchen ... betrunken gewesen?«

»Ich?«

Er legte die Hände mit aufgespreizten Fingern auf die Brust, um genau festzustellen, von welchem Ich die Rede war.

»Gott, o Gott, wie ist das möglich?«

Er betastete die Rippe, die den Eindruck der Baumwurzel bekommen hatte, noch einmal. Dann faßte er Frau Claus am Arm und fragte jetzt ganz deutlich:

»Sie sagen ... daß ... ich ... vom Pferd ... gefallen ... bin?«

»Ja, so sag' ich!«

Walther faßte mit beiden Händen nach seinem Kopfe. Endlich brachte er heraus:

»Ich möcht' mich gern waschen!«

»Das ist gut!« rief Frau Claus vergnügt. »Ist wirklich nichts kaputt an dir? Und wo ist deine Mütze?«

»Waschen,« sagte Walther vor sich hin, »mit ganz kaltem Wasser.«

»Gut, Junge! Komm nach der Pumpe! Kannst du auch laufen? Hast du nicht die Beine gebrochen?«

Walther faßte hin und sagte ohne die mindeste Übereilung:

»Ich ... glaube ... nicht ...«

»Und die Rippen?«

»Auch nicht.«

Frau Claus führte ihn durch ihr Häuschen hindurch nach dem Hofe, auf dem eine große Pumpe stand.

»Zieh dich nur ruhig aus, mein Junge! Hier kann dich keiner sehen! Aber wie kam es denn, daß du mich so auf einmal mit dem Vornamen nanntest ... nicht, daß ich's übel nähme ...«

Ganz wach war unser Schläfer noch nicht, und er war sich absolut nicht klar, was in den letzten Stunden mit ihm passiert war. Er sagte also, er hätte Kopfschmerzen und müsse sich erst ordentlich waschen.

Frau Claus merkte, daß er sich genierte, sich auszuziehen. An sich selbst dachte sie dabei nicht. Sie hängte ein paar Bettlaken über den Zaun, sodaß keiner hindurchsehen konnte, und machte so den Hof zu einer Kammer. Ach, Walther hätte es gestern noch ganz gern gethan. Aber seit gestern dachte er über manches anders.

»Ja, ich merke wohl,« sagte Frau Claus, »du hast deine Glieder nicht in der Gewalt. Wozu gehst du auch auf so'n Tier?«

Sie faßte flott zu und zog ihn aus, und Walther ließ es geschehen, als ob er fünfzehn Jahre jünger gewesen wäre. Frau Claus dachte darüber auch nicht anders.

Sie legte ihn dann auf ein Bänkchen vor der Pumpe und erfaßte den Schwengel. Bei dem ersten Tropfen schüttelte er sich, und dann kam ein breiter Wasserstrahl über Kopf und Schultern. Er konnte nicht sehen noch sprechen. Frau Claus faßte seine Sprechversuche als Zustimmung auf.

»Ja, siehst du, nach so 'm Fall ...«

»Brr!«

»Da steigt einem 's Blut in' Kopf ...«

»Brr!«

»Aber wenn du dir nichts gebrochen hast ...«

»Brr!«

»Sonst hilft's nichts ...«

»Brr!«

»Was meinst du, ob's genug ist?«

»Brr!«

»Ich kriege schon Seitenstechen!«

»Brr!«

»Aber wenn du meinst ...«

»Brr!«

Da hörte sie plötzlich auf, hielt aber den Schwengel fest, als ob sie ihre Bereitwilligkeit zeigen wollte.

»Ich hab' ja ganz vergessen ... am Ende hättst du's lieber ...«

»Brr!«

»... daß ich dich mit grüner Seife abstruppte! So wäscht sich Femke immer. Das macht's Fell glatt! Du müßtest ihren Rücken mal sehen ... wie 'n Spiegel!«

Walther wollte gern etwas sagen, konnte aber nicht. »Ja, und ihre Stirn auch! Hast du das noch nicht gemerkt? Alles von der grünen Seife. Deine Mutter wäscht dich wohl nicht mit grüner Seife? Und dann ... schrubben, weißt du, scheuern, reiben, flott! Aber wenn du's ohne Seife gewöhnt bist ...«

Und sie hob den schrecklichen Schwengel wieder.

»Ich ... glaube ... fast ... 's ist nun wohl genug,« bibberte Walther.

Da bekam er einen Schuß Wasser in den Mund, sodaß sie ihn wieder nicht verstehen konnte.

»Grüne Seife ist auch gut für Hühneraugen und ... für Rheumatismus...«

»Brr!«

»Aber wenn du nicht kaputt bist...«

»Brr!«

»Dann ist nichts zu machen.«

Nicht ohne Anstrengung gelang es endlich Walther, sich und das Bänkchen von dem Wasserstrahl loszumachen. So konnte er denn verständlicher um Gnade bitten. Aufzustehen brachte er noch nicht fertig. Und dann ... die gute Frau hatte seine Kleider aufgehängt – und er schämte sich. Er blieb also sitzen.

»Willst du noch was?« fragte seine Quellnymphe.

»Nein, nein, o nein!« antwortete er schnell – der Schwengel hob sich schon wieder. »Aber ...«

Die unschuldige Frau verstand ihn nicht. Und da er wie ein Klümpchen Unglück dasaß, fragte sie:

»Thut dir was weh?«

»Nein, weh nicht ...«

»Bist du vielleicht müde vom Reiten?«

»Vom Reiten? Ach ja, ich bin sehr müde!«

»Das ist's!« rief Frau Claus. »Und ich habe das Wurm im Schlaf gestört! Weißt du was? Du mußt schlafen!«

Und ganz vergnügt trocknete sie Walther ab. Sie holte ein Bettlaken von der Leine wickelte ihn ein und trug ihn weg wie ein Stück Wäsche.

Er fühlte, wie sie ihn hinlegte und warm zudeckte.

»Streck nun die Beine recht aus, mein Junge, wenn sie nur nicht gebrochen sind!«

Walther that, wie sie sagte, und fühlte ein unbeschreibliches Wohlbehagen. Es stieg zum Entzücken, als sie ihn »bestopfte« und dabei sagte:

»Na, nun schlaf nur, armes Kind. Du liegst da gut. 's ist Femkes Bett, weißt du!« – –

Als er etwa um vier Uhr nachmittags drauf erwachte, hörte er flüsternde Stimmen. Er strengte sich an, zuerst, um zu wissen, wo er eigentlich wäre, und dann, um zu verstehen, was gesprochen wurde.

Es schien darauf angelegt, der wunderlichen Verwirrung zwischen Femke und Sietske, die in seinem Gemüt entstanden war, neue Nahrung zu geben.

»Ja, Sietske ... aber was thut er auf so 'm Pferd! Wenn ich seine Mutter wäre ...«

Und die Antwort:

»Base, ich glaube, seine Mutter weiß nichts davon. Hermann hat's auch mal gemacht, die Jungens sind so.«

Aha! Sietske war da ... und Frau Claus war ihre Base und hieß auch Sietske! Und das Mädchen ... da in dem Geneverladen?

Seine Gedanken waren immer noch wirr. Aber körperlich fühlte er sich wohl.

»Wenn ich ein Stückchen aus dem Laken knipste,« dachte er, »um es morgen besehen zu können und sicher zu sein?«

Er war leider nicht an sehr feines Bettzeug gewöhnt, sonst hätte er diesmal einen ganz besonderen Genuß an grober Wäsche gehabt ... hm ... er hatte in seinen Träumen die Prinzessinnen immer auf gestickter Seide schlafen lassen, zwischen scharfgeschliffenen Diamanten und auf Perlen. Er wußte noch nicht, daß man sich eine Kaiserlich-königliche Hoheit bei Nacht anders vorstellen konnte, und daß vielleicht einmal eine Prinzessin sich zu niedrig schätzen würde, um Femkes Bett zu schütteln.

Er sah sich in der Kammer um. Nach Juwelen suchte er nicht. Dagegen sah er noch eine Bettstelle. Da schlief also Femkes Mutter. An der Wand lief der Schornstein empor, mit Delftschen Täfelchen verkleidet. Die Erweckung des Lazarus war darauf zu sehen. Vier Mattenstühle standen da, einer stand vor seinem Bett, seine Kleider darauf, geordnet und gesäubert.

In der Mitte des Zimmers stand ein Tisch mit etwas herausstehender Schublade. Sie war zu voll. Die bekannten wollenen Strümpfe Pater Jansens guckten heraus und warteten auf Ausbesserung. Sollten auch die ... Unterhosen ...?

An der Wand, am Kopfende seines Bettes, hing ein Kruzifix mit einem kleinen Weihwasserbecken. »Damit segnet sie sich,« dachte er und steckte die Hand hinein; es war aber trocken. Aber wie er daran rührte – das kleine Becken hing nicht gerade an der Wand, sondern es war ein viereckiges Pappschildchen darunter gelegt mit etwas Häkelei daran – da bewegte sich dies Pappschildchen – und – was war das?

Ein Brief von ziemlich großem Format, oder etwas, was so aussah, fiel hinter dem Papptäfelchen heraus und auf sein Bett. Walther nahm ihn in die Hand und sah nach der Adresse ... es war ihm, als ob es ein Brief von ihr an ihn sein müßte. Er schalt sich dann selbst thöricht ... bebend vor Rührung steckte er das Papier wieder an seinen Platz. Er hatte es gegen das Licht gehalten: es war seine Ophelia, die er ihr nach seiner Krankheit geschenkt hatte! Das Bildchen bewahrte sie bei dem Heiligsten, was sie hatte!

Jetzt war er wach. Wer sollte nicht wach werden, wenn er so einen Brief aus dem Himmel empfängt!


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