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Dichtübungen, Perückenfreude, Perückenverdruß und Perückenverzweifelung.

Die Schule war aus, und die Bänke sahen aus, als ob die Schüler ihre ganze Langeweile dagelassen hätten. Die Karte von Europa sah verdrießlich auf den Stapel Schreibhefte nieder, neben dem die Gänsefedern lagen, die bis ans Zahnfleisch durch alle die Striche und Häkchen abgeknabbert waren, womit seit undenklichen Zeiten der Zutritt zu aller Gelehrtheit erschlossen wird. Zwar prangte noch das schwere Resultat der Bruchrechnung in aller Pracht auf der schwarzen Tafel, aber doch, die Schule war keine Schule mehr, der Geist war fort, es war eine Leiche.

Ja, der Geist war mit den Kindern ausgezogen, denn daß diese eine große Menge von diesem Artikel mit sich herumtrugen, wird der Leser gleich sehen.

Wir wissen schon, daß heute der große Tag war, da Meister Pennewip die dichterischen Erzeugnisse des Genies seiner Schüler beurteilen sollte. Da saß er. Sein vielbewegtes Perückchen teilte die Gefühle, die ihn beim Lesen der Poesien bewegten, und wir sind unbescheiden genug, über seine Schulter zu sehen, um auch unserseits durch Eindrücke unschätzbaren Kunstgenusses bewegt zu werden.

Perücke: in der Mitte, in Ruhe.

Lukas de Bryer, auf das Vaterland.

Vaterland, Kuchen und Mandeln,
Ich gehe im Mondschein wandeln,
Kuchen, Vaterland und Branntewein,
Ich wandele in dem Mondenschein,
Fünf Finger hab' ich an der Hand
Zur Ehre von's liebe Vaterland.

»Melodisch,« sagte der Lehrer, »sehr melodisch! Es ist Tiefe drin. Kuchen und Branntwein und das Vaterland in der Mitte.«

Perücke: rechts.

Lieschen Webbelar, über den Beruf ihres Vaters

Die Katze ist kein Narr,
Mein Vater handelt mit Kar-
Toffeln und Bollen.

»Ursprünglich, unmittelbar... aber das Durchschneiden der Kartoffeln kann ich nicht billigen.«

Perücke: links.

Jeanette Nast, auf den Wetterhahn.

Er steht auf dem Schornstein, innen voll Ruß,
Und zeigt dem Wind, wie er wehen muß.

»Nicht ganz richtig ... denn, genau besehen ... aber als dichterische Freiheit mag es durchgehen.«

Perücke: nach vorn.

Leendert Snelleman, auf den Lenz.

Im Lenz, da ist es fein,
Meines Bruders Geburtstag ist im Mai,
Aber jetzt hat er kalte Füße,
Sodaß wir den Lenz loben müssen.
Wir wollen ihn auch feiern,
Zu Ostern giebt's Ferien und Eier.

»Schade, daß er den Reim so vernachlässigt. Seine Phantasie ist wirklich ungewöhnlich gut entwickelt ... der Übergang zu den Eiern ist sehr eigenartig.«

Perücke: im Nacken.

Schlachterskeesje, Lobgedicht auf den Lehrer.

Mein Vater hat manchem Ochsen den Todesstreich gegeben,
Aber Meister Pennewip ist noch am Leben.
Manche sind mager und manche fett jetzt,
Und er hat die Perücke auf die Seite gesetzt.

Die Perücke ging in der That auf die Seite, und noch ein bißchen weiter.

»Hm ... es ist sonderbar ... was soll ich dazu sagen?«

Die Perücke ging hinüber auf die andere Seite.

»Was habe ich mit den Ochsen zu thun?«

Die Perücke protestierte durch lebhafte Bewegungen gegen alle Verwandtschaft mit den Ochsen.

»Hm ... sollte das das sein, was die neumodischen Buchschreiber Humor nennen?«

Die Perücke senkte sich bis auf die Augenbrauen, was Zweifel bedeutet.

»Ich werde mir den Jungen mal vornehmen ...«

Die Perücke stieg wieder auf den Zenith, um Zufriedenheit auszudrücken über des Meisters Absicht, Schlachterskeesje mal vorzunehmen.

Lukas de Wilde, auf die Religion.

Die Religion sehr schön sein muß,
Sie giebt der Menschheit viel Genuß.

»Die Grundidee ist richtig und schön,« sagte der Lehrer» »aber sie hätte mehr ausgearbeitet werden müssen.« Die Perücke nickte sehr deutlich, daß sie das auch fand.

Trudchen Gier, auf Frau Pennewip.

Den Tugendpfad läßt sie uns sehn,
Wer wollt' nicht gerne mit ihr gehn?
Und in verlornen Augenblicken
Lehrt sie uns nähen, stopfen, stricken.

Die Perücke machte einen Freudensprung, und die Locken umarmten einander. Der Lehrer konnte sich's nicht enthalten, seine Frau sofort zur Mitgenießerin von Trudchen Giers Herzensausfluß zu machen, der aufgeklebt und über den Schornstein gehängt wurde, zur Ehre der Sängerin und der Besungenen.

Es folgte ein erhabenes Gedicht »auf Gott« von Klaasje van der Gracht, dem Sohn des Katechisiermeisters, über dem Topfladen, in der Peperstraat, dreizehn Jahr alt, ungeimpft zur Ehre der Prädestination, wo der Theekessel aushängt.

»Wenn ihm nur sein Vater nicht geholfen hat!«

Die Perücke staunte: sie rührte sich nicht.

Louwtje de Wilde, auf die Freundschaft.

Die Freundschaft sehr schön sein muß,
Sie giebt der Menschheit viel Genuß.

Die Perücke schien nicht zufrieden. Die »Religion« von Lukas de Wilde wurde hervorgeholt, zur Vergleichung mit Louwtjes »Freundschaft«.

»Hm ... so ... 's ist möglich. Man sieht wieder einmal, wie ein Gedanke in zwei Köpfen zugleich entstehen kann. Es kann sein.«

Wimpje de Wilde, auf das Angeln. Das Angeln ...

»Wie, was ist das?« Ja wirklich, da stand es:

Das Angeln sehr schön sein muß,
Es giebt der Menschheit viel Genuß.

Die Perücke war in fortwährender Bewegung. Es sah aus, als ob sie mitangelte.

Der Lehrer blätterte die noch nicht durchgesehenen Gedichte durch, suchte die Sprossen der ganzen Wilde-Familie zusammen, und ... ja wohl! Mieze de Wilde, Kees de Wilde, Piet und Jan de Wilde, alle erklärten einstimmig, daß Religion, Freundschaft, Angeln, Träumen, Blumenkohl und Betrügerei sehr schön sein muß und der Menschheit viel Genuß giebt! Eine Sturzflut von sehr schönen Sachen und Genüssen.

Was sollte die Perücke thun? Sie that, was unter den Umständen das Beste war, und mehr kann man nicht verlangen. Nachdem sie die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen eingesehen hatte, einen Unterschied zu finden zwischen Angeln und Freundschaft, Betrügerei und Träumen, Religion und Kohl, that sie, als ob sie es nichts anginge, und hielt die richtige Mitte, mit einem Ausdruck in den Locken, als ob sie erwartungsvoll nach dem Folgenden ausspähte.

Wie auch der Leser.

Leentje de Haas, auf Admiral de Ruhter

Er ist aus den Turm geklommen,
Und hat ein Tau gedreht,
Dann ist er auf See gekommen,
Und ward mit Ruhm besät.

Er that noch viel auf Erden,
Und hat Saleh gefällt,
Draus haben die Behörden
Ihn angestellt als Held u.s.w.

Die Perücke hob sich beifallspendend in den Locken. Sie schien erfreut.

Grete Wanzer, auf eine Raupe.

Die Raupe ohne Kummer
Kriecht in den Bäumen 'rummer.

»Beschreibende Dichtung. Es liegt etwas Kühnes in der Idee der in den Bäumen ohne Kummer herumkriechenden Raupe.«

Perücke: ruhig.

Ach, die Freude einer Perücke dauert nicht lange! Auch die ihre sollte bald...

Aber ich will nicht vorgreifen. Bald, allzubald werden wir sehen...

Walther Pieterse, Räuberlied.

»He? was ist das? Und die Tugend... wo ist die Tugend?«

Der Lehrer traute seinen Augen nicht. Er wandte das Blatt und besah die Rückseite, ob am Ende die Tugend sich da versteckt hielt...

O... o... keine Spur von Tugend war auf Walthers Blättchen zu sehen!

Arme Perücke!

Ja, arme Perücke! Denn nachdem sie erlebt hatte, was nie eine Perücke erlebte, nachdem sie gezerrt, zerpflückt, gezaust und gemartet worden war, auf eine Weise, die selbst die Phantasie der Familie de Wilde überstieg, riß Meister Pennewip sie herunter, preßte sie zwischen die krampfhaft gerungenen Hände, stammelte ein kurzes »Himmel-Menschen-Christenseelen-gute-gnädige-Tugend-meines-Lebens ... wie ist das möglich!« ... klappte sie mit einem Faustschlag wieder auf seinen Schädel ... deckte sie zu mit seinem ehrwürdigen Dreispitz, und stürmte wie ein Besessener aus der Thür.

Er schlug den Weg nach Walthers Wohnung ein, wo wir ihn bald ankommen sehen werden, – nachdem wir als gewissenhafte Geschichtschreiber unsere Pflicht gethan haben in betreff der Ereignisse, die dort vorgefallen waren.


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