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Walther tritt in die wirkliche Welt. Die Firma Motto, Handel & Co. Über die Technik des Romans und die Schnupftabaktöpfe der Römer.

In einem gediegenen Geschäft wird ein junger Mensch (p. G.) von ehrbarer Familie gesucht. Bedingungen sind: Ehrlichkeit, gutes moralisches Betragen, und nicht unter fünfzehn Jahren. Bei Lust und Liebe zum Geschäft Aussicht auf Gehalt. Anständige Behandlung zugesichert. Bewerber wollen sich mit frankierten und selbstgeschriebenen Briefen unter dem Motto »Handel« melden bei dem Buch- und Kunsthändler E. Maaskamp, Nieuwendyk beim Dam zu Amsterdam, wo zu haben ist ...«

Was für Kunstprodukte zu jener Zeit bei Maaskamp von der Presse kamen, weiß ich nicht mehr. Ich will auch darüber keine Vermutungen äußern, um den Leser nicht in chronologische Schwierigkeiten, betreffend den Zeitpunkt der Geschichte, zu verwickeln. Ich will mich an so etwas nicht binden. Wenn es mir, um Walthers Geschichte zu schreiben, in den Sinn kommen sollte, die Republik nach Ludwig und Willem I. vor die Republik zu setzen, ich würde es ohne Gewissensbeschwerden thun.

Auch das »p. G.« in jener Anzeige macht mir keine Sorge. Ich weiß wohl, daß der »protestantische Glaube« als Bedingung für Dienstmädchen, Hausdiener und Lehrjungen erst nach der Blütezeit der Maaskampschen Bilderbogen eingeführt ist. Aber ich dekretiere kraft meiner poetischen Allmacht, daß das »p. G.« wirklich in der Anzeige stand, die das Interesse der Familie Pieterse in hohem Maße in Anspruch nahm.

»Besser kann sich's gar nicht treffen,« sagte die Mutter. »Was sagst du, Stoffel?«

»Ja. Mutter, besser kann sich's nicht treffen.«

»Was mir besonders gefällt, ist die Bedingung: gutes Betragen.«

»Gutes moralisches Betragen, Mutter.«

»Ja, gutes moralisches Betragen ... hörst du, Walther? Ganz wie ich immer gesagt habe. Und Aussicht auf Gehalt. Wie findest du das, Stoffel?«

»Ja, Mutter, aber ... er muß Lust und Liebe zum Geschäft haben.«

»Siehst du, Walther, das mußt du haben. Lust und Liebe zum Geschäft. Hab' ich s nicht immer gesagt? Und ... sie verlangen: p. G. Das bist du, Gott sei Dank.«

»Ja, Mutter, das ist er.«

»Und Stoffel, wenn du nun den Brief schriebst. Was meinst du?«

»Aber es steht ja da: selbstgeschrieben.«

»Ganz richtig! Wenn du nun einen selbstgeschriebenen Brief schriebst, – es ist doch besser, als wenn so 'n Kind es thut!«

Stoffel machte der Mutter nicht ohne Mühe begreiflich, daß es auf Walthers Eigenhändigkeit ankäme. Also wurde Walther an den Tisch gesetzt.

»Ja ... was schreib' ich nun oben?«

»Weißt du das wieder nicht? Ist doch ganz einfach. Du schreibst: Hochgeehrte Herren! Es steht doch da, daß es ein gediegenes Geschäft ist.«

»Ja,« sagte die Mutter. »Und schreib' dazu, daß dein Vater auch 'n Geschäft hatte, 'n Geschäft, verstehst du. Wir verkauften Schuhe aus Paris. Sonst denken sie, daß er ein Schuhmacher gewesen ist.«

»Und schreib', daß du der Erste in der Schule bist ...«

»Und daß du protestantischen Glaubens bist...«

»Und von gutem sittlichen Betragen ...«

»Und daß du Lust und Liebe zur Sache hast. Siehst du, dann kriegst du vielleicht gleich Gehalt.«

Endlich war das Ding fertig. Nun frankieren! Ging es nicht, wenn der junge Handelskandidat den Brief selber hintrug? Stoffel meinte auch, daß die hochgeehrten Herren »Motto: Handel« in diesem Falle wohl auf die Frankierung verzichten würden. »Aber sage es, wenn du Herrn Maaskamp siehst.«

Mit schwerem Herzen machte sich Walther auf den Weg. Alle Menschen mußten ihm ja ansehen, daß er nun in die wirkliche Welt eintrat und im Begriff stand, den »Handel« sich unterthan zu machen. Die geringe Ansicht, die er von sich hatte, drückte ihn sehr. Er fand es unbescheiden, sich bei hochgeehrten Herren anzumelden, die gediegene Geschäfte hatten.

Bei jeder Mannsperson, die ihm begegnete, und die nach etwas aussah, fragte er sich: ob dieser da wohl auch ein gediegenes Geschäft hat? Und nie fiel ihm die Frage ein, was denn eigentlich ein gediegenes Geschäft wäre.

Na, er wird es ja bald erfahren.

Stotternd entschuldigte er sich bei dem Ladenjüngling, daß der Brief nicht frankiert wäre. Der verstand ihn gar nicht und warf achtlos den Brief in einen Kasten, in dem schon ein paar Dutzend solcher Briefe auf die gnädige Entscheidung der Herren Motto, Handel & Co. warteten.

Auf weiteres Gerede ließ sich der junge Mann nicht ein. er hatte gerade mit grellfarbigen Türkenschlachten zu thun. Walther lief das Wasser im Munde zusammen nach so einer bunten Zeichnung griechischer Tapferkeit. Aber was half's? Er hatte kein Geld, und außerdem war er auf dem Wege zum Handel und nicht auf Heldenthaten aus.

Später! dachte er.

Zu Hause wurde er, wie gewöhnlich, wieder angebrummt. Seine Mutter behauptete, daß er gewiß nicht anständig genug in den Laden eingetreten wäre, sonst hätte ihm der junge Mann wohl freundlicher Antwort gegeben. Sie fürchtete, daß das bei der Beurteilung seines guten Betragens durch die Herren Motto, Handel & Co. ins Gewicht fallen könnte.

»Und was sagst du? es waren schon viel Briefe da? Siehst du, Stoffel, wenn er bloß nicht zu spät kommt! Was haben die Menschen sich so hastig zu melden? Jeder will der erste sein, Gott weiß, ob da nicht am Ende Katholische dabei sind, und ob auch alle auf das gute moralische Betragen geachtet haben. Ich sag's ja, so sind die Menschen!«

Walther mußte noch einmal zu Maaskamp gehen und fragen, welches die Adresse der Firma wäre. Da könnte er sich dann gleich vorstellen, und die anderen bliesen durch den Kamm. Dies Vordrängen ging doch nicht, denn es war immer sehr die Frage, ob sie auch gehörig protestantisch waren und die vorgeschriebene Lust und Liebe hatten. Auch wollte Jüffrau Pieterse ihre Nase verwetten, daß keiner sich darauf berufen konnte, daß sein Vater Pariser Schuhe verkauft hätte ...

»Sag' das den Herren! Dein Vater that keinen Stich. Er konnte es nicht mal. 'S ist bloß, daß wir beweisen, daß wir auch 'n Geschäft hatten, ein effektives Geschäft! Er nahm nie die Ahle zur Hand. Ist's wahr, Stoffel, oder nicht?«

Die hochgeehrten Herren Motto, Handel & Co. wohnten ... wo sie wohnten, weiß ich nicht, aber sie hatten auf dem Zeedyk einen Cigarren- und Tabaksladen gegründet, verbunden mit einer Leihbibliothek – wahrscheinlich nicht weit von der Stelle, wo sechs oder acht Jahrhunderte früher durch ein Paar Fischersleute »die größte Handelsstadt Europas« gegründet worden war.

Walther fand einen von den hochgeehrten Herren in Hemdsärmeln hinter dem Ladentisch; er wog ein Paar Lot Schnupftabak ab, auf das ein altes Mütterchen wartete. Es wurde also wirklich da Handel getrieben.

Walther hatte sich von einem gediegenen Geschäft eigentlich bisher keine rechte Vorstellung gemacht, und er war daher weit entfernt zu finden, daß der Schnupftabaksmann sich zu hoch betitelt habe. Ja, mit der eigenartigen Weichheit seines Gemüts machte er sich sogar Vorwürfe, daß er den Begriff »Handel« nicht früher gefaßt hatte.

Jetzt wußte er es. Handel bedeutet: in Hemdsärmeln hinter dem Ladentisch Schnupftabak wiegen. Und noch dazu auf dem Zeedyk!

Der Tabaksladen nahm bloß die halbe Breite des Hauses ein und stand durch eine Seitenthür in Verbindung mit der Leihbibliothek. Die Firma Motto, Handel & Co. hatte ihr Geschäft auf zwei Industrien zugleich gegründet. Wer nicht rauchen oder schnupfen mochte, konnte Lektüre haben, und umgekehrt.

Über den Fächern der Tabaks- und Schnupfhälfte stand die Versicherung, daß hier etwas »fabriziert« würde. Man schien also, ganz anders als bei Pieterses, hier der Ansicht zu sein, daß das Fabrizieren oder Zurechtmachen von etwas mehr bedeute als das Verkaufen. Lassen wir die Streitfrage unentschieden.

Ob es wahr war, daß in diesem gediegenen Geschäft etwas fabriziert wurde? Eigentlich nicht, wenn wir die papierenen Tüten ausnehmen, die durch den jungen Mann protestantischen Glaubens, von gutem moralischen Betragen, mit Lust und Liebe zum Geschäft geklebt werden sollten.

Die Ware, die da vorrätig war, betrug mit knapper Not die Jahresmiete, und die böse Welt auf dem Zeedyk behauptete sogar, daß die beiden blauporzellanenen Vasen, auf denen in altmodischer Schrift » Rappee « und » Zinking « zu lesen war, von einem Althändler in der Nachbarschaft geliehen waren. Der gute Mann kam alle Tage nachsehen!

Der Laden war sehr klein und wurde hinten durch einen grünen Vorhang abgeschlossen, der den Kunden zu dem Verdacht bringen konnte, es stecke noch etwas dahinter. Und genau genommen, war es auch so. Da hing ein verwittertes Spiegelchen, zur Gesellschaft eines einsamen Stuhls – zur Zeit geziert mit der Jacke des hochgeehrten Herrn Motto – und eines halbrunden Tischchens, das gegen die Wand lehnte, und auf dem eine Pomadenbüchse einem Kamm Vorwürfe machte, daß er in seinen Jahren sich noch Hoffnung auf Zahnwechsel machte. Der Herr »Chef« Motto nämlich widmete die wenige Zeit, die ihm der »Handel« übrig ließ, gern der Verfeinerung seiner natürlichen Schönheit, und es war ihm gelungen, rechts und links von seinem Gesicht eine schöne Haarlocke zu entwickeln, auf die er viel Mühe und Fett verwendete, und die denn auch die Bewunderung aller weiblichen Wesen waren, die in den Laden kamen.

»So, du willst hier in den Handel treten?« fragte Motto, nachdem er dem alten Weibchen noch eine Priese aus dem Topf zugegeben hatte. »Und was kannst du denn schon? Lesen, schreiben, rechnen, französisch ... wie? Und wer sind deine Eltern?«

»Sie machten in Schuhen ... aus Paris, M'neer. Aber französisch kann ich nicht. Rechnen ja ... den ganzen Strabbe.«

»So? Rechnen kannst du? Wie viel ist denn anderthalb Pietje?«

Walther stotterte, daß er es nicht wüßte. So wird es wohl auch allen meinen Lesern gehen.

»Das muß man doch wissen, wenn man rechnen will! Du weißt also nicht, was 'n Pietje ist? Und kennst du den Unterschied zwischen 'nem Sesthalf und 'm Schilling? Und zwischen Thalern und Achtundzwanzigern? Sieh ...«

Der Herr Motto zog die Schublade und schien nach einem Thaler zu suchen, aber aus diesem oder jenem Grunde ließ, er sich an einem »Sesthalf« genügen. Er stellte Walthers Kenntnisse vom Handel auf die Probe, indem er ihn ersuchte, in Gedanken einen »Schilling« daneben zu legen und begründete Rechenschaft über den Unterschied zu geben. Das müßte man im Handel alles genau wissen und kennen, behauptete Motto.

Ja, der Herr Motto hatte wohl recht. Es war damals in den Niederlanden schlimm bestellt mit den verschiedenen Geldsorten, schlimmer noch als in Deutschland. Und um die verschiedenen Geldstücke gehörig zu unterscheiden und miteinander zu verrechnen, dazu gehörte Studium. Gerade als man ein Gesetz in der Kammer vorhatte, die Kassierer nach genügendem Examen zu Doktoren der Numismatik zu ernennen, fand der Minister van Hall, daß man das sparen könnte, indem man die Münze vereinfachte. Er war infolgedessen sehr unbeliebt.

In Walthers Jugendzeit war man noch nicht so weit. Der Gulden hatte zwanzig Stüber. Der holländische Reichsthaler hatte fünfzig Stüber, der zeelandsche zweiundvierzig. Der Thaler war anderthalb Gulden wert, und der Goldgulden wurde Achtundzwanziger genannt, nach der Zahl Stüber, die er betrug. Von Schrift und Rand und selbst von kreisförmigem Umriß war bei den meisten Stücken keine Spur mehr zu finden, was auf die Industrie der Fälscher und Kipper sehr günstig wirkte. Bei Abend war jede Zahlung ein gefährliches Wagstück.

Außer diesen hatten wir noch Dreigulden, Dukatons von dreiundsechzig Stübern, die man gewöhnlich »Reiter« nannte, und noch mehr, deren ich mich nicht mehr recht erinnere. Zum Beweise, wie schwer es war, manche Geldsorten zu unterscheiden, will ich nur erwähnen, daß man sich genötigt sah, den sogenannten Achtundzwanziger, wenn er außergewöhnlich unkenntlich geworden war, noch mit einem besonderen Stempel oder »Poinçon« zu versehen, um sie von den »Thalern« zu unterscheiden. Die Pietjes – Unterabteilungen des zeelandschen Reichsthalers – waren immer krumm gebogen, um sie von den Kindern der holländischen Reichsthaler zu unterscheiden. Wer sich in dem Range und der Geltung der Fünfstüberstücke, der »Sesthalven« und der Schillinge von sechs Stübern, ferner der »Kwaart-Zeeuwen« und der »Dreizehnthalben« niemals irrte, war eine Art Gelehrter. Diese Rasse von unfehlbaren Kassierern wird jetzt wohl ausgestorben sein ... und – die Erde bewegt sich noch!

Das war also für unseren Walther auch ein sehr schwieriges Gebiet.

»Und französisch verstehst du auch nicht?« fragte der Herr Motto in nicht sehr ermutigendem Tone.

»Ach nein!«

»Und würden deine Eltern Kaution für dich stellen?«

Walther verstand diese Frage nicht.

»Kaution, verstehst du? Bürgschaft! Es ist viel Umsatz, und verstehst du, ich muß doch wissen, wem ich den Laden anvertrauen kann. Und ... verstehst du dänisch?«

»Nein ... M'neer!

»So! Dänisch auch nicht? 's ist bloß, weißt du, weil hier manchmal dänische Matrosen kommen und Tabak kaufen. In 'm Geschäft wie dies hier mußt du alle Sprachen kennen ... das ist die Hauptsache! Sonst bist du futsch! Griechen hab' ich auch schon hier gehabt ...«

Walthers Herz sprang. Welche Heldenthaten mochten die wohl bei solchen Gelegenheiten ausführen!

»Ja, Griechen auch. Aber sie waren besoffen und wollten 'n Priem Negerhaar für umsonst. Das giebt's nicht. Denn aufs Kleinste aufpassen ist die Hauptsache. Sonst bist du futsch, verstehst du? Ja, im Handel mußt du alle Sprachen kennen, sonst kannst du nicht Antwort stehen! Das ist die Hauptsache. Na, aber das wird noch gehen, wenn nur deine Eltern Kaution stellen können. Manchmal sind wohl zehn Gulden in der Kasse, weißt du, und im Handel muß der Mensch seine Sicherheit haben. Das ist die Hauptsache. Sonst bist du futsch, das begreifst du wohl selber.«

»Mein Vater ist tot,« sagte Walther, als ob das die Kautionsstellung weniger nötig machte, vor allem aber, weil er nicht wußte, was er sagen sollte.

»So? Tot! Ja, das kommt vor. Tot? Sehr gut! Aber hast du keine Mutter, die für dich einzahlen kann?«

»Ich ... will... sie ... fragen,« stotterte Walther.

»Gewiß. Frag' sie nur sofort. Denn, weißt du, im Handel, da giebt's nicht viel Gefitze. Gesagt, gethan! Das ist die Hauptsache. Sonst bist du futsch. Hier ist noch 'n Laden. Darin hast du auch zu thun ... wenn deine Mutter Kaution stellen kann. Das ist die Hauptsache.«

Der Herr Motto führte Walther in die Leihbibliothek. An den drei Wänden standen einige Schränke mit Büchern, bis an die nicht sehr hohe Decke. Im übrigen befand sich in dem Lokal nicht viel mehr als eine kleine Treppe, die dazu dienen mußte, die zu hoch hängenden Früchte der Litteratur zu pflücken, und ein dickes Buch, in das der protestantische Jüngling, der Lust und Liebe zum Geschäft hatte, die Namen der Leute einzutragen hatte, die für ein Dübbeltje die Woche einen Band entliehen. Jetzt ist es billiger.

»Siehst du,« sagte Herr Motto, »das ist das Buch, sozusagen das Großbuch, Du verstehst doch Buchführung?«

Walther mußte leider zugeben, dies Fach noch nicht studiert zu haben.

»Auch nicht, Junge! Das ist doch die Hauptsache im Handel. Denn, weißt du, wer das nicht kann, ist futsch. Ist ganz einfach. Du schreibst auf, wer 'n Buch holt, mit Tag und Datum dabei, und Hausnummer und Straße und alles. Und wenn sie's wiederbringen, machst du 'n Strich durch. Wär 'ne nette Bescherung, wenn du's nicht thätest. Und wenn du die Leute nicht kennst, mußt du ...«

»Pfand verlangen!« rief Walther schnell, erfreut, daß er doch etwas wußte.

»Ja, Pfand. Ein Gulden den Band und die Woche. Denn, das verstehst du, wenn ein Band weg ist, ist das ganze Werk futsch. Von den Cigarren und dem Schnupftabak werde ich dir später alles genau erklären, aber ich muß erst wissen, ob deine Mutter ... frag' sie nur schnell! Ich hab' dir nun wohl sechsmal alles erklärt. Denn an Jungens, die in den Handel wollen, ist wahrhaftig kein Mangel – wenn's aber auf Moses und die Propheten ankommt, dann ziehen sie Backsegel auf. Und das ist doch die Hauptsache. Sonst ... du siehst auch ein bißchen schwächlich aus... ich muß erst wissen, daß du Kaution stellen kannst. Adjüs!«

Walther ging in eigentümlicher Stimmung nach Hause. Das Verlangen der Kautionsstellung wurde in der Familie zuerst nicht sehr günstig aufgenommen. Als aber Stoffel versicherte, er hatte schon öfters davon gehört, und es wäre im Handel üblich, kam man durch Handeln und Bieten schließlich mit der Firma Motto, Handel und Co. überein, daß eine Summe von hundert Gulden gestellt werden sollte, für die eine Verzinsung von dreieinhalb Prozent zu leisten wäre. Sehr angenehm fand Jüffrau Pieterse das nicht. Sie war an vier Prozent gewöhnt, aber »man muß doch für seine Kinder auch was thun.«

Stoffel, der diese Unterhandlungen leitete, wunderte sich, daß er immer bloß die erste Hälfte der Firma zu sehen bekam, oder besser das erste Drittel. Er war so frei, diese Verwunderung in passenden Worten auszusprechen, und erfuhr auf diese Weise, das der Schwanz »und Co.« eine bloße Verzierung war, und daß man auch den »Handel« als Produkt von Mottos reicher Phantasie aufzufassen hatte. Wie ein Atlas trug er das doppelte gediegene Geschäft auf seinen Riesenschultern. So erklärte es sich auch, daß er in Momenten menschlicher Schwäche daran dachte, einen Teil der Last auf den Nacken eines protestantischen Jungen zu legen, der Lust zum Geschäft hatte und Kaution stellen konnte. Denn das war die Hauptsache.

Einigermaßen zum Nachteile seiner Tabak- und Schnupfkenntnisse umfaßte Walther den anderen Teil seines Wirkungskreises mit einer Liebe – ach, wenn er so viel geschnupft oder geraucht hätte wie gelesen, wäre er gewiß krank geworden! Und gerade gesund wurde er von dem Bücherverschlingen auch nicht!

Mit wahrem Heißhunger schluckte er Reifes und Grünes – viel Reifes war nicht dabei – und las schneller und schneller. Er bekam bald eine sichere Vertrautheit im Voraussehen der endlichen Schicksale von Held und Heldin, mehr, als dem Verfasser lieb sein konnte. Der schlaueste Autor konnte ein Findelkind nicht zehn Seiten lang arm wie eine Kirchenmaus sein lassen – Walther sah doch die Sterne und Ritterkreuze blitzen, mit denen das arme Wurm auf der letzten Seite ausstaffiert wurde! Man sollte meinen, daß er bei dieser Scharfsinnigkeit den Geschmack am Lesen verloren haben sollte; aber nein! er blieb standhaft bis zum offiziellen Triumph, und er hätte es für sündhaft und unritterlich gehalten, eine Sekunde vor der Zeit den Sachsen und Normannen zuzurufen: Seht mal, ob nicht der arme Ivanhoe diesen großmäuligen Brian de Bois-Guilbert flott auf den Kopf schlagen wird! Und doch – beinahe wage ich es nicht zu sagen – ihn beseelte dabei ein Gefühl, als ob er selbst ... – Ivanhoe war? – nein! als ob er, der kleine Walther, die Gottheit vertreten müsse, die dem ausgepumpten Braven Kraft gebe, den wehrhaften Bösewicht zu zerschmettern.

Da klingelte dann auf einmal die Thürglocke dazwischen, und man verlangte von dem hochgemuten Walther ganz andere Dinge.

Das Einzige, was er in solchen Augenblicken thun konnte, war genau zu wiegen, und niemand eine Cigarre »von den zehnen« in die Hand zu stecken anstatt »von den acht.« Freilich hatte dies Gewissenswerk keinen Zweck, denn in den Kisten steckten Cigarren, die eigentlich »von den zwanzig« hätten heißen sollen. Herr Motto meinte, seine Kunden wären meistens betrunken, und man könnte ihnen ruhig Kohlblätter zu rauchen geben. »Du mußt immer sehen, wen du vor dir hast, siehst du, das ist die Hauptsache.«

Das lernte aber Walther niemals. Zehn war ihm zehn, acht war acht, ganz gleich, mit wem er es zu thun hatte. Lügen oder unrechter Vorteil kamen ihm nicht in den Sinn. Höchstens aus Verlegenheit oder aus Angst die Unwahrheit sagen. Und selbst dann, wenn man ihn noch einmal gefragt hätte ...

Diese Abneigung gegen das Unwahre wurde – so sonderbar es scheinen mag – durch seine Lektüre genährt. Der tapfere Ritter focht, bis er Sieger war oder tot. Nur tödlich Verwundete gaben sich gefangen. So gehört es sich und Walther hätte genau so gehandelt. Die allerschönste Schöne wurde von allen geliebt, und die Abgewiesenen starben aus Verzweiflung oder ließen sich bei todgeweihten Kohorten anwerben. So ist es korrekt. Die Tugendhaften blieben brav, trotz Teufel und Hölle und sogar trotz Langeweile. Wer einmal von dem Autor zu einem Tugendhelden ernannt war, hatte kein Fleckchen auf dem Kleide. Ob wohl so einer Leibschmerzen oder Gliederreißen haben konnte? In den Büchern gewiß nicht!

Daß diese Vollkommenheit unwahr ist, wußte er nicht. Ihm genügte es, daß alle Personen in solchen Romanen accurat das thaten, was der Autor von ihnen verlangte. Die Bösewichter thaten nichts als verraten. Die Helden schlugen alles tot. Die schönen Jungfrauen bezauberten die halbe Welt. Und auch Gott, der Romangott, erfüllte in allen den Büchern seine Pflicht viel besser ...

Gestern hatte auf dem Zeedyk ein großer Junge einen kleinen geschlagen. Das sollte einmal im Buche vorkommen! Alle Ritter wären zusammengelaufen! Und auch Walther hatte die Absicht gehabt ... Was konnte er dafür, daß sein Chef ihn in strengem Tone zurückrief? »Was, Donnerwetter, geht dich das an? Du hast deine Arbeit hier im Laden! Da achte drauf! Niemals sich in fremden Krakehl einlassen ... das ist die Hauptsache!«

Eine ganz andere Sorte Weisheit, als in den Büchern stand. Er las aber fleißig weiter. Schon war er beim letzten Fache seines Litteraturvorrates angekommen – als er eines Morgens die Thür des Ladens verschlossen und versiegelt fand!

Der brave Herr Motto war als Matrose nach Amerika – das war gewiß die Hauptsache! – und der unglückliche Eigentümer der beiden Schnupftabakstöpfe hatte einen verdrießlichen Prozeß, ob die beiden Dinger nicht in die »Masse« gehörten.

Nämlich nach römischem Recht, und nach dem muß doch in Prozessen auf dem Zeedyk zu Amsterdam verfahren werden ... leider schnupften die Römer nicht und gaben daher keine Gesetze über » Rappee .« Ich weiß nicht, wie die Sache geendet hat.

Hoffentlich hat jeder das Seine erhalten. Jüffrau Pieterse freilich war ja ihre hundert Gulden los, und sie stöhnte genau wie sonst: »Mit diesem Jungen war doch immer was!«

Walther konnte ihr nicht helfen.

Er hatte so seinen Ärger, daß er in seiner Lektüre so grausam gestört wurde. Die geheimnisvolle Abkunft des jungen Räubers lag ja klar vor seinen Augen, aber man will doch in solchem Falle auch gern wissen, ob man recht geraten hat.


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