Helmuth von Moltke
Unter dem Halbmond
Helmuth von Moltke

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62.
Sultan Mahmud II.

Konstantinopel, den 1. September 1839

Heute besuchte ich das Grab des verstorbenen Großherrn. Auf dem Bergrücken zwischen dem Marmarameer und dem Hafen, unfern der Moschee Nuri-Osman, überschaut man das ganze Panorama von Städten und Meeren, Gebirgen, Inseln, Schlössern und Flotten, das sich an keinem anderen Punkt des Erdballs so reich zusammenstellt; dort, hatte einst Sultan Mahmud geäußert, wolle er begraben sein und dahin hatte man seinen Sarg gebracht; ein Zelt war über demselben aufgeschlagen und das Türbeh oder Grabmal wird nun über das Zelt gewölbt, denn die Asche des hingeschiedenen Herrschers darf nicht noch einmal gestört werden. Ruhe und Friede sei mit ihr! Sultan Mahmud hat ein tiefes Leid durchs Leben getragen: Die Wiedergeburt seines Volkes war die große Aufgabe seines Daseins und das Misslingen dieses Planes sein Tod.

Man hat erzählt, die Mutter Sultan Mahmuds sei eine Europäerin gewesen: Diese Behauptung möchte sehr schwer zu beweisen sein; so viel ist gewiss, dass der Großherr nicht eine Silbe Englisch, Französisch oder Deutsch verstand; er konnte daher auch die Kenntnis der Weltverhältnisse aus Büchern nicht schöpfen und seine wissenschaftliche Bildung beschränkte sich auf den Koran und auf die Kenntnis der arabischen und persischen Sprache, so weit beide nötig sind, um türkisch zu schreiben. Der osmanische Prinz verkehrte nur mit den wenigen Personen, welchen die Eifersucht des Despotismus Zutritt gestattete, und dies waren Weiber, Verschnittene oder Mullahs.

So war Mahmud 23 Jahre alt geworden, als eine Empörung ihn in die Welt hinausrief, die er bisher nur durch die vergoldeten Gitter des Serajs erblickt hatte. Als man ihn in dem weißen Kiosk über dem Eingangstor an der Gartenseite des Serajs unter einem Haufen Binsenmatten hervorzog, glaubte er, es geschehe, um ihn auf Geheiß seines Bruders zu erdrosseln; stattdessen umgürtete man ihn mit dem Säbel Ejubs und machte ihn zum unumschränkten Beherrscher eines weiten Reichs, von dem er gerade nur die Lustgärten am Bosporus kannte.

Was der neue Großherr überhaupt von den inneren und äußeren Angelegenheiten seines Landes wusste, das verdankte er unstreitig seinem unglücklichen Oheim, dem entthronten Sultan Selim, zu dessen Gunsten eben die Empörung eingeleitet war, welche ihm das Leben kostete und Mahmud zum Padischah erhob. Von Selim hatte dieser unstreitig die Anerkennung europäischer Überlegenheit, die Liebe zur Reform, den Hass gegen die Janitscharen geerbt.

Sultan Mahmud erkaufte den Thron durch Unterhandlung mit Empörern, denen er alle Forderungen bewilligen musste, und durch das Todesurteil seines Bruders. Die Familienbande sind im Orient lockerer als bei uns und zerreißen auf dem Thron leichter als in der Hütte; Mustapha war für Sultan Mahmud nur der Sohn seines Vaters mit irgendeiner Sklavin und sein Todfeind; selbst wenn er ihm das Leben hätte schenken wollen, so würde er es gegen den Willen des empörten Volkes nicht vermocht haben. Indem Mahmud nachgab, opferte er den Mustapha seiner Sicherheit und war der letzte und einzige noch übrige Sprössling vom Stamm Osmans.

Die Regierungsperiode Sultan Mahmuds ist bezeichnet durch das Erwachen zum Selbstbewusstsein der christlichen Völkerschaften, die seit Jahrhunderten unter dem Druck der Türkenherrschaft geschmachtet hatten, und der neunundzwanzigste Enkel Osmans büßte für das Unrecht seiner Vorfahren. Die Rajahs in Serbien, Moldau, der Walachei und Hellas griffen zu den Waffen; unter den Moslems selbst tauchte eine puritanische Sekte (die Wachabiten) feindselig auf; der Erbfeind, der Moskowiter, bedrängte die Nordgrenzen des Reiches, und die Paschas von Rumelien und Widdin, von Bagdad, Trapezunt und Akre, von Damaskus und Aleppo, von Latakia und Janina pflanzten einer nach dem anderen das Banner der Empörung auf, während die Hauptstadt selbst von den Meutereien der Janitscharen unaufhörlich bedroht war.

Die herbe Erfahrung von achtzehn Regierungsjahren hatte in Sultan Mahmud die innige Überzeugung erweckt, dass er bei den bestehenden Staatseinrichtungen nicht fortregieren könne und dass er Herrschaft und Leben an eine Umgestaltung der Verhältnisse setzen müsse, zu welcher er die Muster in den Einrichtungen des glücklichen Abendlandes suchte. Wie unvorbereitet er auch die Bahn der Reformen betrat, so hatte er gesunden Verstand genug, um ihre unabwendbare Notwendigkeit zu erkennen, und Mut genug sie durchzuführen. Zur Erreichung seines Zieles gehörte unerlässlich, dass er jede zweite Gewalt im Reich zu Boden warf und die ganze Fülle der Macht in seiner Hand vereinte; dass er den Bauplatz freimachte, bevor er sein neues Gebäude errichtete. Den ersten Teil seiner großen Aufgabe hat der Sultan mit Klugheit und Festigkeit gelöst, an dem anderen ist er zugrunde gegangen.

Zunächst war es die zügellose, mutwillige Gewalt der Janitscharen, die gebeugt werden musste. Dieses Unternehmen, bei dem bereits vier Großherren Thron und Leben eingebüßt hatten, wurde durch Sultan Mahmud jahrelang klug und beharrlich vorbereitet und an einem Tag, in einer Stunde kühn und glücklich vollendet. Am Mittag des 14. Juni 1826 hörte man in Pera den Donner der Kanonen von Konstantinopel herüberschallen und die nächste Nachricht war schon, dass die türkischen Strelitzen, die Prätorianer des Islam, nicht mehr existierten. Gestützt auf die unter allerlei Namen und Verkappungen gebildeten regulären Truppen und ganz besonders auf einen großen Teil der türkischen Bewohner der Hauptstadt selbst, ausgerüstet mit dem heiligen Banner des Propheten und einer Verdammungsfetwa des Scheich-ül-Islam, trat der Großherr aus dem Seraj hervor; Hussein-Pascha, der Janitscharen-Aga, war das tätigste Werkzeug ihrer Vertilgung. Aber während man die Kaserne auf dem Atmeidan frontal mit Kanonen beschoss, ließ man die Türen der Rückseite zur Flucht offen, und obwohl Ströme von Blut innerhalb der alten Mauern von Rumeli-Hissar und an vielen anderen Punkten des Reiches flossen, war man froh, die Kinder Hadschi-Becktaschs nicht zu sehen, welche sich verbergen wollten; denn die Janitscharen, die 199 Orta oder Bataillone zählten, bildeten den streitbarsten Teil des osmanischen Volkes selbst. Nur die am höchsten Stehenden, die Gefährlichsten und Trotzigsten wurden mit schonungsloser Strenge geopfert, so die berüchtigte Otuss-bir oder 31. Orta, welche in den europäischen Dörfern am Bosporus hauste, bis auf den letzten Mann vertilgt. Die bei weitem größere Menge der Janitscharen blieb im Land verborgen und noch heute siehst du in allen Provinzen des Reiches alte, kräftige Gestalten, denen das Abzeichen ihrer Orta auf dem rechten Arm mit unverlöschlichen blauen Zügen eingeätzt ist. Die Individuen blieben, aber das Korps ist vernichtet.

Die Ulemas waren stets mit den Janitscharen gegen die Willkür der Sultane verbündet gewesen; jetzt war es möglich geworden, zwar nicht jene geistliche Körperschaft zu unterwerfen, aber doch so weit einzuschüchtern, dass sie den Neuerungen nur eine verhehlte Abneigung und heimlichen Widerstand entgegenstellte.

In seinem eigenen Volk fand Sultan Mahmud auch nicht einen erleuchteten Mann, der ihm bei seinen Neuerungen leitend oder helfend zur Seite gestanden hätte; es ist den Europäern fast unmöglich, sich den Stand der Intelligenz im Orient so niedrig zu denken, wie er wirklich ist. Ein Türke, der lesen und schreiben kann, heißt »Hafiz«, ein Gelehrter; die Kenntnis des ersten und letzten Verses aus dem Koran vollendet seine Bildung und die vier Spezies sind den wenigsten geläufig. Einer der türkischen Würdenträger, den ich den Aufgeklärtesten nennen möchte von allen, war dennoch ein eifriger Anhänger von Wahrsagungen und Traumdeutereien; von der Kugelgestalt der Erde konnte er sich keine Vorstellung machen und nur aus Höflichkeit und weil wir so hartnäckig auf diesen Punkt bestanden, gab er nach, dass sie nicht flach wie ein Teller sei. Niemand spricht irgendeine europäische Sprache, außer etwa die Renegaten, und viele Türken in hohen Ämtern müssen sich die Briefe, die sie in ihrer eigenen Sprache erhalten, vorlesen lassen.

Es blieb demnach nichts weiter übrig, als sich Rat bei den Fremden zu holen; aber in der Türkei wird die beste Gabe verdächtig, sobald sie aus der Hand eines Christen kommt. Peter der Große hatte 500 Offiziere, Ingenieure, Artilleristen, Wundärzte und Künstler für seinen Dienst persönlich angeworben; sie teilten seine Mühe und ernteten die Früchte derselben. In Russland konnten die Fremden gehasst sein, in der Türkei sind sie verachtet. Ein Türke räumt unbedenklich ein, dass die Europäer seiner Nation an Wissenschaft, Kunstfertigkeit, Reichtum, Kühnheit und Kraft überlegen seien, ohne dass ihm entfernt in den Sinn käme, dass ein Franke sich einem Moslem gleichstellen dürfte. Wenige Europäer werden unter so günstigen Verhältnissen in der Türkei aufgetreten sein wie wir; die ersten Würdenträger des Reiches waren von der größten Aufmerksamkeit, sie erhoben sich bei unserem Eintritt, wiesen uns den Platz auf dem Diwan an ihrer Seite an und reichten uns ihre Pfeife zum Rauchen; die Obersten räumten uns den Vortritt ein, die Offiziere waren noch leidlich höflich, der gemeine Mann aber machte keine Ehrenbezeigungen mehr, und Frauen und Kinder schimpften gelegentlich hinter uns her. Der Soldat gehorchte, aber er grüßte nicht. Wir waren höflich ausgezeichnete Individuen einer äußerst gering geschätzten Kategorie.

Als Russland seine Regeneration unternahm, befand sich dieses Land in einer solchen Isolierung von Europa, dass die Staaten des Abendlandes fast gar keine Kenntnis nahmen von Maßregeln, deren Wichtigkeit sie erst in ihren gewaltigen Folgen erkannten. Wie ganz anders ist das im Osmanischen Reich; man möchte sagen, Europa nimmt mehr Anteil an der Türkei als die Türkei selbst. Der gemeine Mann lebt noch immer in der Meinung, dass die Eltschis oder Gesandten da sind, um vom Padischah eine Krone für ihre Könige zu erbitten. »Warum«, sagte ein Mullah in der Versammlung zu Biradschik, »sollten nicht heute noch zehntausend Osmanly aufsitzen und mit festem Glauben an Allah und scharfen Säbeln bis Moskau reiten?« – »Warum nicht?«, antwortete ein anwesender türkischer Offizier. »Wenn ihre Pässe von der russischen Gesandtschaft visiert sind, immerhin.« Dieser Offizier war Reschid-Bey, der seine Erziehung in Europa erhalten hat; aber er sagte es auf Französisch, wo er freilich das Kühnste sagen durfte, denn niemand verstand ihn.

»Ne sarar var!« – »Was schadet's«, meinten die Leute nach der Katastrophe von Nisib, »der Padischah ist reich genug, um hin und wieder eine Schlacht und ein paar Provinzen zu verlieren!« Die europäischen Kabinette haben darüber eine andere Ansicht, alle sprechen den Wunsch aus das Osmanische Reich möglichst gestärkt und gekräftigt zu sehen, aber jeder versteht unter diesem Ausspruch etwas anderes.

Seitdem der Großherr mit einem Schlag das Gewicht vernichtet hat, das die Türkei bisher in die politische Waagschale Europas geworfen, seit der Vernichtung der Janitscharen, büßte er Länder und Reiche an Feinden und Untertanen ein. Hellas, Serbien, Moldau und die Walachei entzogen sich seiner Macht, Ägypten, Syrien, Kreta, Adana und Arabien fielen einem aufrührerischen Vasallen zu; Besarabien und das nordöstliche Kleinasien wurden von den Russen erobert; Algier durch die Franzosen besetzt; Tunis machte sich unabhängig; Bosnien, Albanien und Tripolis gehorchten fast nur noch dem Namen nach; zwei Flotten gingen verloren, die eine im Kampf, die andere durch Verrat; ein russisches Heer überschritt den Balkan und erschien unter den Mauern der zweiten Hauptstadt des Landes; ja, um das Unglück voll zu machen, mussten die Waffen der Ungläubigen den Padischah in seiner eigenen Residenz gegen ein moslemisches Heer beschützen.

So viele und so große Hindernisse stellten sich dem Plane des Sultans entgegen. Die Reform bestand meist in Äußerlichkeiten, in Namen und Projekten. Die unglücklichste Schöpfung war die eines Heeres nach europäischen Mustern mit russischen Jacken, französischem Reglement, belgischen Gewehren, türkischen Mützen, ungarischen Sätteln, englischen Säbeln und Instrukteuren aus allen Nationen; zusammengesetzt aus Lehnstruppen oder Timarioten, aus Linientruppen auf Lebenszeit und Landwehren mit unbestimmter Dienstzeit, in welchem die Führer Rekruten, die Rekruten kaum besiegte Feinde waren. In der Zivilverwaltung hatte man einen schwachen Versuch gemacht die Steuern nicht mehr zu verpachten, sondern unmittelbar für den Staat zu erheben. Die Ausfälle in den Finanzen, die hierdurch zu Anfang unausbleiblich entstehen mussten, und mehr noch der Mangel an redlichen Beamten hinderten die weitere Durchführung dieser wichtigsten aller Verbesserungen. Die Titel der Staatsmänner wurden gewechselt, aber die Männer, die sie bekleideten, blieben von derselben Untüchtigkeit.

Sultan Mahmud hinterließ seinem jungen Nachfolger das Land im traurigsten Zustand, denn abgesehen von der augenblicklichen Verwicklung, ist das Osmanische Reich mit Bezug auf die neuen Einrichtungen, die noch nicht Wurzel geschlagen haben, schwach wie ein Kind und hinfällig wie ein Greis in den älteren Institutionen, welche sich überlebt haben. Die unparteiische Beurteilung wird Peter dem Großen einen sehr viel höheren Platz in der Geschichte anweisen als Mahmud dem Zweiten; sie wird aber auch einräumen müssen, dass die Aufgabe des Sultans, wenn sie überhaupt zu lösen, noch unendlich schwieriger war als die des Zaren.


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