Helmuth von Moltke
Unter dem Halbmond
Helmuth von Moltke

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52.
Die Winterquartiere

Malatia, den 23. Dezember 1838

Nichts von dem fröhlichen Treiben, das bei uns eine große Truppenversammlung bezeichnet, darfst du hier suchen. Es ist, als ob diese Leute den kriegerischen Geist ihrer Väter ganz abgestreift hätten; vor ein paar Tagen haben wir einen Tschausch erschossen, der sechs Schildwachen von ihrem Posten mitgenommen hat und mit ihnen desertiert ist, die anderen sahen zu und dachten: »Armer Teufel!« Der Pascha zahlt 250 Piaster für jeden eingebrachten Deserteur.

Täglich erblicke ich zwei, drei traurige Gestalten an einem Halfterstrick, die Hände auf den Rücken gebunden, geduldig von irgendeinem Kurden hergetrieben. Ich habe sie zuweilen gefragt: »Eure Nahrung ist reichlich, eure Wohnung gut, eure Kleidung ist warm, ihr werdet nicht misshandelt, wenig angestrengt, gut bezahlt... Warum desertiert ihr?« – »Ischte beule olmüsch.« – »So ist es gekommen.« – »Ne japalym!« – »Was können wir tun!« Der Mann nimmt seine zweihundert Schläge seufzend hin und desertiert bei der nächsten Gelegenheit wieder. Von dem Regiment Boli sind auf dem Hermarsch dreihundertundvierundsechzig Mann ausgerissen.

Sehe ich zum Fenster hinaus, so habe ich im Vordergrund den Begräbnisplatz, auf dem vom Morgen bis zum Abend Leute arbeiten, um die vielen Gräber in die harte Erde zu hacken, die unsere Hospitäler verlangen. Wenn ich unsere Bataillone bei lustiger Musik in Parade vorüberziehen sehe, fallen mir zuweilen die seltsamsten Gedanken ein: Im Hintergrund erhebt sich eine der abscheulichsten Städte, die man sich wünschen kann, eine Stadt ohne Straßenjungen, ohne Laternen und ohne Droschken, eine Stadt ohne Frauen, ohne Bälle, ohne Theater, ohne Cafés, ohne Lesezirkel, nichts wie Himmel und Soldaten. Darüber freilich steigen stolze Berge von prachtvollen Formen und mit glänzendem Schnee empor und ich sage mir zuweilen, um mich aufzuheitern: Das ist Armenien und hier rollt der Euphrat, dessen Quellen ich in der Geographiestunde niemals anzugeben wusste, weil sie mir weiter als der Welt Ende schienen.

Doch darfst du, trotz dieser Schattengemälde, nicht glauben, dass ich mich in einer sehr melancholischen Stimmung befinde; innerhalb meines Hauses ist, Gott Lob, alles wohlauf, meine Leute sind guter Dinge und mir zugetan; die mutigen Rosse tragen mich täglich im Flug über die weite Ebene; das ist mein Familienleben, und die Paschas sind nicht allein sehr höflich, sondern wirklich so freundlich gegen mich gesinnt, wie sie es gegen einen Giaur nur immer sein können. Ein Hauptgenuss für mich ist es, hier an den Ufern des Euphrat regelmäßig meine Augsburger Allgemeine Zeitung zu lesen; ich erhalte sie alle vierzehn Tage mit dem Tataren aus Stambul und sie ist dann gewöhnlich 21 bis 28 Tage alt; das versetzt mich plötzlich über Berge und Meere weg nach Europa und ich habe Gelegenheit die Parallele zwischen den dortigen Zuständen und denjenigen zu ziehen, welche uns hier umgeben.

Ach, lieber Freund, könnten wir die Missvergnügten und Frondeurs doch von Zeit zu Zeit auf vierzehn Tage nach Malatia hinzaubern, wie würden sie sich nach den Institutionen zurücksehnen, die sie jetzt mit der ganzen Schärfe und Bitterkeit ihrer Kritik herabsetzen. Der Pascha lässt sich gern das Interessanteste aus der Zeitung erzählen; er spricht von einer Reise mit mir nach Stambul; früher kam das Städtchen mir vor, als ob es ein wenig aus der Welt läge, jetzt würde ich glauben, dort au beau milieu de Paris zu sein. Überhaupt, wie wird es uns vorkommen, wenn wir einmal wieder ein Gericht Kartoffeln, einen gewichsten Stiefel mit blank geputzten Sporen oder eine ähnliche europäische Erscheinung zu sehen bekommen.

Nun gute Nacht, das Feuer ist ausgegangen und die Tinte friert an. Nur noch herzliche Grüße.

N. S. Wenn es übermorgen, am Weihnachtsabend, bei dir spukt, so bin ich's gewesen.


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