Balduin Möllhausen
Die Mandanen-Waise
Balduin Möllhausen

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33

Auf der Farm

Die liebe freundliche Farm, wie sich ihr Bild meinem Gedächtnis so tief, so unauslöschlich eingeprägt hat! Wie strahlte dort die Sonne so lieblich, wie berührten die bald melancholischen, bald heiteren Melodien des Spottvogels, der sanfte Ruf des glühend roten Kardinals und das Girren der Wandertauben so traulich mein Ohr, wie duftete der Wald so süß und prangten die Blütenkelche in so prächtigen Farben!

Und doch lachte die Sonne nicht lieblicher als zu andern Zeiten vom blauen Himmel nieder, jubelten die Vögel nicht fröhlicher und blühten die Blumen nicht schöner als in andern Zonen. Aber eine freundliche Hand hatte mein Kissen geglättet, ein biederes Herz mir in aufrichtiger Freundschaft entgegengeschlagen, und wieder und immer wieder spiegelte ich mich in den schönen unschuldigen Augen holder, zutraulicher Kindheit. Der Kontrast, den das Leben in der Urwildnis zu den Tagen friedlicher Ruhe bildete, war ja zu groß, zu wohltuend, als daß mir nicht alles hätte wie im schönsten Festkleide prangend erscheinen müssen. –

Wir saßen wieder in der Laube, die uns den besten Schutz gegen die noch immer heiße Nachmittagssonne gewährte, und Frau Jeannette war mit der kleinen Johanna ihren häuslichen Verrichtungen nachgegangen, als Wandel das Gespräch noch einmal auf seine Lebensgeschichte lenkte.

»Sie fragten mich nach dem Vater meiner Jeannette,« hob er an, indem er einen Brief aus der Tasche zog und vor sich auf den Tisch legte. »Lassen Sie mich jetzt meine Berichte vervollständigen.

Werker hat sich bis zu seinem Ende nicht mehr von uns getrennt. Er begleitete uns nach der Mission und von dort hierher, und stets war er mir bei meinen Arbeiten ein treuer Gefährte und Gehilfe. In seinen Tiefsinn verfiel er nicht wieder, doch war in seinem ganzen Wesen ein wehmütiger Ernst zurückgeblieben. Er sprach nur wenig, aber im Ausdruck seiner wohlwollenden Augen stand deutlich geschrieben, daß er sich glücklich fühle. Dagegen erinnere ich mich nicht, ihn in den ersten Jahren unseres Zusammentreffens jemals lächeln gesehen zu haben.

Erst als unsere kleine Johanna einzelne Worte zu lallen begann und ihn einst, für ihn ganz unerwartet, ›Großvater‹ nannte, erhellte ein glückliches Lachen sein Antlitz zum ersten Male wieder. Von jener Stunde an lebte er von neuem auf, und in ähnlicher Weise wie das sich wunderbar schnell entwickelnde Kind wendete auch er der Außenwelt eine größere Teilnahme zu.

Er sprach mit Ruhe und Ergebung von der Vergangenheit und gedachte mit heiterer Zuversicht der Zukunft, und fast kein Tag verging, an dem er nicht wenigstens einmal wiederholt hätte, daß unsere kleine Johanna das getreue Ebenbild seiner ältesten dahingeschiedenen Tochter sei, wie ihm diese doch lebhaft als kleines Kind in Gedanken vorschwebte.

So kann ich behaupten, daß unsere kleine Tochter vorzugsweise dazu beitrug, den Lebensabend des alten Werker zu Versüßen. Das Kind liebte den freundlichen Greis über alle Beschreibung, und er wieder war sogar heiteren Gesprächen zugänglich, wenn er die Kleine auf seinen Knien schaukelte oder sie auch nur in seiner Nähe sich lustig umhertummeln sah.

In solchen Stunden gelang es mir zuweilen, ihn zum Schreiben an seinen Bruder, den greisen Oberstleutnant, zu bewegen. Waren es auch nur wenige Worte, die er an ihn richtete, so zeugten diese doch von seiner unwandelbaren, treuen Anhänglichkeit an den besten aller Brüder.

In der Hauptsache aber ging die Korrespondenz zwischen den alten Herren durch meine Feder, und da ich beide genügend kannte, um ihre Eigentümlichkeiten wiedergeben zu können, so betrachteten sie die Briefe als Dokumente, bei denen ich nur die Rolle eines Abschreibers übernommen habe. Besitze ich doch noch Briefe, in denen mein alter gütiger Vormund sagt: »Schreibe dem Hans in meinem Namen einen recht herzlichen Brief, in dem du am Schluß hinzufügen kannst, wie sehr ich mich über sein von dir verfaßtes Schreiben gefreut habe. Der alte Knabe scheint mit jedem Jahr jünger zu werden, und es sollte mich gar nicht wundern, wenn er noch einmal auf Heiratsgedanken käme.«

Der Vater meiner Frau dagegen, als ich ihm einst einen im Auftrage des Oberstleutnants von mir an ihn gerichteten Brief vorlas, äußerte kopfschüttelnd: »Man sollte wirklich denken, daß er viel jünger als ich sei. Ich könnte den alten Burschen um seine eiserne Konstitution beneiden; sollte mich gar nicht wundern, wenn er eines Tages hier einträfe, um uns einen Besuch abzustatten.«

Und so gelang es mir denn, die beiden lieben, alten Leute vollständig übereinander zu täuschen; im Geiste sahen sie sich gegenseitig im rüstigsten Mannesalter; einer freute sich über den andern, sie vergaßen, daß seit ihrem letzten Zusammensein wenigstens dreißig Jahre verstrichen waren, und es vermochte daher sich einer von dem andern nur ein Bild zu entwerfen, wie es ihnen noch immer aus einer glücklichen Vergangenheit in der Erinnerung vorschwebte.

Die Zeit ging dahin; Werker wurde von Tag zu Tag heiterer, während seine körperlichen Kräfte merklich abnahmen. Das Alter, mehr aber noch die Leiden und Entbehrungen, die er während seines abgeschiedenen Lebens unter den Eingeborenen erduldet hatte, machten sich geltend, und so ereignete es sich denn vor zwei Jahren an einem schönen Frühlingsmorgen, daß er, anstatt, wie er am Abend vorher versprochen hatte, mit Johanna, seinem Liebling, einen Spaziergang in den Wald zu unternehmen, zur ewigen Ruhe eingegangen war.

Der Tod hatte freundlich und unfühlbar seine erstarrende Hand auf das treue Herz gelegt. Er war im Schlafe gestorben, und auf seinen bleichen Zügen ruhte das glückliche Lächeln, mit dem er unsere Johanna zu begrüßen pflegte.

Was er in seinen letzten Lebensjahren so oft gewünscht, ging in Erfüllung: es flossen an seinem Grabe heiße Tränen der Trauer, und treue Kindesliebe pflegt heute noch und so Gott will noch viele kommende Jahre hindurch sorgfältig die Blumen, die seiner Decke in Fülle entsprießen.

Ein seltsames, ein freundliches Geschick waltete über den beiden Brüdern. Keiner erfuhr den Tod des andern, denn als die traurige Nachricht von dem Dahinscheiden seines Bruders auf der Oberförsterei eintraf, da war mein Vormund bereits tot. Ich hätte es ahnen können; sein jüngster an mich gerichteter Brief trug das Gepräge eines letzten Willens, eines gefaßten, vertrauensvollen Hinüberblickens in das Jenseits.«

»Dann ist die Gattin des Oberstleutnants wohl vor dem alten Herrn gestorben?« fragte ich nach einem längeren feierlichen Schweigen, das dem Andenken der beiden Brüder galt.

»Sie starb vier Jahre früher,« entgegnete Wandel, »innig beweint von ihrem Gatten und allen Dorfbewohnern, war sie doch stets bereit gewesen zu helfen, wo sie sah, daß Hilfe not tat.

Doch indem ich der ehrwürdigen alten Dame gedenke, tauchen noch so manche Gestalten in meiner Erinnerung auf, für die Sie, da Sie meine Lebensgeschichte kennen, sich nicht minder interessieren dürften.

Der Oberstleutnant liebte es nicht, lange Briefe zu schreiben; er wählte daher den Ausweg, da, wo sich ihm ein geeigneter Grund dafür bot, mir Zeitungen zu übermitteln und diejenigen Stellen, auf die er meine Aufmerksamkeit hinlenken wollte, mit Rotstift zu bezeichnen. Aus einer solchen Sendung erfuhr ich denn auch, daß meine geheimnisvolle Flucht damals kein geringes Aufsehen erregt hatte.

Auch der plötzliche Tod meiner armen, in religiöse Überspanntheit hineingeängstigten Johanna war viel besprochen worden. Vielleicht um nicht verdächtigt zu werden, waren die beiden Jesuiten in der Gegend geblieben, doch sollte ihnen daraus kein Segen erwachsen.

Meinem Vormunde sowohl als auch andern Leuten war es aufgefallen, daß seit meiner Flucht im Hause von Antons Mutter ein ganz neues und verhältnismäßig üppiges Leben geführt wurde. Manche neigten sogar zu dem Glauben hin, daß der Überfluß bei der sich keines guten Rufes erfreuenden Familie mit meinem glücklichen Entkommen in Verbindung gebracht werden dürfe und es mein Geld sei, für das sie sich Tag für Tag gütlich taten.

An meinen Freund, den armen Anton, dachte dabei niemand, wenn ich auch nicht bezweifle, daß sein Bruder Andres alles ausspioniert hatte und sich nur deshalb scheute, öffentlich als Ankläger gegen ihn aufzutreten, weil Anton seit dem Tage, an dem ich auf dem Ufer des Rheins Abschied von ihm genommen hätte, auf der Oberförsterei und unter dem persönlichen Schütze meines Vormundes lebte.

Der arme Schelm hatte daselbst ein Los gefunden, wie er sich in seinen bösen Tagen vielleicht den Himmel vorgestellt haben mag. Er wurde gekleidet und gespeist und dabei übertrug man ihm solche Arbeiten, die seine Kräfte nicht überstiegen und viel zu seinem körperlichen und geistigen Wohlbefinden beitrugen. Er sorgte für die Hunde und das Federvieh, er schleppte Holz für Küchenherd und Ofen herbei, er beaufsichtigte meines Vormundes Pfeifen, die ein ganzes Brett ausfüllten, und wie der alte Herr selbst in einem Briefe versicherte, hatte Anton es im Stopfen der Pfeifen zu einer Fertigkeit gebracht, daß sogar der alte Blücher seligen Angedenkens daran nichts zu tadeln gefunden haben würde.

Überhaupt betrachtete der alte gute Herr den treuen Burschen samt seinem Raben, der ihm schimpfend und scheltend auf Schritt und Tritt überallhin folgte und mit Federvieh und Hunden auf leidlich gutem Fuße lebte, als eine Art Vermächtnis von mir.

Derartig waren also die häuslichen Verhältnisse auf der Oberförsterei, auf der der alte treuherzige Krieger bis an das Ende seiner Tage den nach allen Richtungen hin freundlich und wohltuend wirkenden Mittelpunkt bildete.

Daß Anton auf der Oberförsterei ein so gutes Unterkommen gefunden hatte, gereichte ihm auch noch in anderer Beziehung zum Glück. Wer weiß, wäre er im Hause seiner Mutter geblieben, dann, hätte er in der schrecklichen Katastrophe, die über die einsame Hütte hereinbrach, vielleicht ebenfalls seinen Untergang gefunden.

In den ersten Wochen nach meiner Flucht herrschte also in Antons elterlicher Hütte ein Überfluß wie wahrscheinlich noch nie. Doch nicht allein dort, sondern auch in den umliegenden Schenken, wo nur immer der böse Andres sich zeigte, erhielt man die untrüglichsten Beweise, daß es ihm nicht an Geld mangle. Er spielte, er feierte nächtliche wilde Gelage mit seinen Gesinnungsgenossen, er veranlagte blutige Raufereien, und dabei führte er solch übermütige Reden über die Unerschöpflichkeit seines Reichtums, daß sogar die Behörde Argwohn gegen ihn faßte und ihn durch die Gendarmen schärfer beobachten ließ.

Diesen gegenüber war er indessen zu listig; er berief sich darauf, seine Geldmittel von einem reichen Manne, dem er einen großen Dienst geleistet, empfangen zu haben, und da er sich standhaft weigerte, einen Namen zu nennen, so gewann das Gerücht, daß er mir bei meiner Flucht behilflich gewesen sei, unter den Leuten immer mehr Glauben.

Man konnte ihm aber nichts beweisen und beschränkte sich daher vorläufig darauf, ihn und sein Treiben aufmerksamer zu beobachten.

Wer hätte auch geahnt, daß er, der Vagabund, in so naher Beziehung zu den beiden frommen Priestern stehe, die noch immer in dem nahen Kirchdorf wohnten, dort mit zündendem Glaubenseifer die Menschen zur Beichte und Buße ermahnten und darauf hinwiesen, wie Gott seine verirrten und ihm entfremdeten Schafe selbst auf ihrem Sterbebett noch zu finden und der von ihm einzig und allein eingesetzten wahren Religion in den Schoß zu führen wisse? Wer hätte ferner geahnt, daß diese frommen Männer gezwungen waren, durch klingende Münze das tiefste Schweigen von dem zu erkaufen, den sie so lange als ihr Werkzeug benutzt hatten und dem ein geschworener Eid nicht heiliger war als ihnen selber, wenn sie dadurch ihren Zwecken zu genügen hofften? Aber sie hatten sich getäuscht, getäuscht ebensowohl über die Tragweite ihrer Lehren und ihrer religiösen Androhungen, wie über den Charakter des wilden Andres, an dessen verstocktem Gemüt Lehren wie Drohungen gleich machtlos abprallten.

Die ersten Kränze, die man auf Johannas frischen Grabhügel gelegt hatte, waren noch nicht vollständig verwittert, als die beiden Priester endlich Anstalt trafen, eine Gegend zu verlassen, in der sie sich, des bösen Andres und seiner unverschämten Forderungen wegen, nicht mehr ganz heimisch fühlen mochten.

Sie bereiteten sich im stillen zur Abreise vor, und um weniger Aufsehen zu erregen, begab sich der Ältere von ihnen, derselbe, der einst als Bernhards Onkel aufgetreten war, mit ihren Sachen einige Tage früher auf den Weg, es seinem Genossen anheimstellend, zu gelegener Zeit nachzufolgen. –

Es war ein kalter, aber klarer Novemberabend, an dem Bernhard aufzubrechen gedachte. Gegen niemand hatte er ein Wort über seine Absicht geäußert, aus Besorgnis, die Kunde von seiner Abreise würde den wilden Andres erreichen und dieser ihm infolgedessen vorher noch einen Besuch abstatten. Aus denselben Gründen scheute er sich auch, einen Wagen zu mieten. Er kannte die Wege und Landstraßen ja genau, und da nach der Abreise seines Gefährten sein ganzes Gepäck nur aus einem kleinen Koffer bestand, so hatte er beschlossen, zu Fuße nach Königswinter zu wandern und von dort aus am folgenden Morgen in aller Frühe seine Reise auf bequemere Art fortzusetzen. –

Wochen gingen dahin. Des wilden Andres Mutter sah man häufig in berauschtem Zustande auf der Landstraße ihrer Hütte zuschwanken, während er selbst es toller als je trieb.

Da traf plötzlich die Nachricht ein, daß man Bernhard an dem Ort seiner Bestimmung vergeblich erwartet habe und deshalb vermute, er sei entweder erkrankt oder von irgendeinem Unglück ereilt worden.

Nachforschungen wurden angestellt, und es ergab sich, daß er in Andres Gesellschaft an jenem Abend das Dorf verlassen hatte.

Andres wurde infolgedessen sogleich gefänglich eingezogen, beharrte aber bei der Aussage, daß er sich auf der Landstraße von dem Priester getrennt habe.

Da kehrte eines Tages Anton atemlos und mehr tot als lebendig von einem seiner planlosen Ausflüge auf die Oberförsterei zurück und erzählte zitternd vor Angst und Entsetzen, daß er in seinem alten Schloß einen fremden toten Menschen angetroffen habe.

Selbstverständlich wurden sogleich die entsprechenden Nachforschungen angestellt, und es ergab sich, daß die Leiche des ermordeten Priesters samt allen Sachen, das Geld ausgenommen, in der Höhle verborgen worden war.

Sein Tod mußte ein qualvoller gewesen sein, denn sein seidenes Halstuch, mittels dessen man ihn erdrosselt hatte, schlang sich außer um den Hals auch noch um die Finger seiner linken Hand, mit denen er sich augenscheinlich von dem tödlichen Griff hatte befreien wollen. In seiner rechten, krampfhaft geschlossenen Faust befand sich ein Büschel roter Haare.

Die nähern Umstände, die Bernhards gewaltsames Ende begleiteten, sind nie bekannt worden; ebenso blieb es dunkel, ob er durch irgendwelche Vorspiegelungen von Andres in die Höhle gelockt oder erst als Leiche dorthin gebracht wurde; jedenfalls aber starb er, als wenn die Vorsehung selber für sein finsteres verbrecherisches Treiben ihre rächende Hand nach ihm ausgestreckt habe.

Der arme Anton erhielt nie einen klaren Begriff von dem, was man seinem Bruder zur Last legte. Er wußte nur, daß dieser im Zuchthause sein Verbrechen abbüßte.


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