Balduin Möllhausen
Die Mandanen-Waise
Balduin Möllhausen

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12

Die Flucht

Ohne weitere Zwischenfälle verstrich der Tag; die beiden Wärter wurden durch einen einzelnen abgelöst, und erst gegen Abend übernahmen wieder zwei Leute, die bereits mehrere Nächte bei mir zugebracht hatten, die Wache.

Diese hatten indes nie eine Ahnung in mir erweckt, daß sie vielleicht um meine beabsichtigte Befreiung wüßten oder gar zur Beteiligung auserkoren gewesen wären. Ich benahm mich daher mit unverminderter Vorsicht; nur hin und wieder richtete ich Fragen über gleichgültige Gegenstände an sie und dann auch mehr, um meine Unruhe und Spannung zu besiegen, als daß ich das Bedürfnis gefühlt hätte zu sprechen. Um acht Uhr erklärte ich endlich, daß ich eine unüberwindliche Müdigkeit empfinde und zu schlafen wünsche; dann drehte ich mich auf die Seite und atmete gleich darauf tief und regelmäßig.

Eine Viertelstunde verrann in tiefem Schweigen. Die Wärter dehnten und reckten sich auf ihren knarrenden Stühlen; offenbar langweilten sie sich, aber erst nachdem der Schließer, seinen gewöhnlichen Abendbesuch gemacht und ihnen die größte Wachsamkeit anempfohlen hatte, fiel ihnen ein, sich durch ein Gespräch die Zeit zu verkürzen.

»Es ist doch ganz anders, wenn reicher Leute Kinder bestraft werden, als wenn unsereins ins Gefängnis gesteckt wird,« begann der eine, der mir zu Häupten saß, mit etwas gedehnter Stimme.

»Wieso?« fragte der andere ebenso gedehnt.

»Hm, mit einem Lumpen, der nicht ein paar Kreuzer zuzusetzen hat, würden sie wahrhaftig nicht soviel Umstände machen und ihn hier wie einen vornehmen Herrn bedienen lassen.«

»Mir ganz gleichgültig, so lange ich keinen Profit von seiner Vornehmheit habe.«

»Ich habe meinen Profit schon davon gehabt,« versetzte der Erste wieder, indem er meine Decke etwas zurückschob und mich prüfend betrachtete; »aber schlafe du und der Teufel, ich glaube ein Kanonenschuß würde ihn nicht wecken; wir werden eine ruhige Nacht haben.«

»Profit?« fragte der zu meinen Füßen Sitzende.

»Ja, Profit, sieh nur her, diesen blanken Taler hat mir ein fremder Herr geschenkt, mit der Bitte, den jungen Mann recht sorgfältig zu pflegen.«

»Wovon mir von rechtswegen die Hälfte gebührt.«

»Hahaha! Wäre ich doch ein Narr, wollte ich mit dir teilen! Aber tröste dich, du sollst nicht ganz leer ausgehen, und schaffst du nur etwas zu trinken herbei, so wollen wir eine lustige Nacht feiern.«

»Wenn du das Geld dazu hergibst, wird sich das andere schon finden.«

Nach dieser Einleitung vernahm ich das Klingen von kleinen Geldmünzen, worauf sich der eine auf den Zehenspitzen entfernte.

Nach zehn Minuten trat er ebenso leise wieder ein, gleich darauf knirschte ein Pfropfen und nach einem herzlichen: »Prosit Bruder« ertönte, das eigentümliche Gurgeln, mit dem von dem Inhalt der Flasche in eine durstige Kehle hinabrieselte.

»Ha, das tut wohl,« sagte der Trinker, »möchten wir unsern Patienten noch recht lange zu bewachen haben.«

»Du hast wohl schon unterwegs getrunken, denn das ist doch nicht für einen halben Gulden?« grollte der neben meinem Bette sitzende Wärter.

»Für einen halben Gulden, nicht weniger und nicht mehr, habe nur die Qualität geprüft und dann dem Posten auf der Straße und dem auf der Hausflur 'nen Schluck gegeben.«

»Um so besser,« versetzte der andere, nachdem er ebenfalls einen Zug aus der Flasche getan, »haben Sie mitgetrunken, werden Sie sich hüten, uns zu verraten.«

Die beiden Freunde rückten nunmehr dichter zusammen; der Branntwein hatte sie gesprächiger gemacht, und indem die Flasche munter zwischen ihnen hin und her wanderte, führten sie eine heitere, harmlose Unterhaltung.

Ich lag unterdessen schwer atmend, mit geschlossenen Augen da. Der Schweiß perlte mir von der Stirn, die Zunge klebte mir am Gaumen, und besorgt lauschte ich auf das Benehmen der beiden Trinker, die mir gerade nicht die rechten Persönlichkeiten zu sein schienen, einen Fluchtversuch zu begünstigen.

So verrann eine Stunde und noch eine, und die Uhr schlug zehn, als die beiden Zecher noch immer gemütlich beieinander saßen. Aber ihre Stimmen waren lebhaft geworden und in geräuschvollerer Weise sprachen sie ihren Unmut über das schnelle Leerwerden der Flasche aus.

Nach einigem Hin- und Herrechnen kamen sie endlich überein, das zweite Drittel des Talers, der doch so leicht verdient war, zu vertrinken, und abermals brach derselbe, der die erste Flasche hatte füllen lassen, auf, um noch schnell, eh die Läden geschlossen wurden, eine neue Auflage zu erstehen.

Er ging, jedoch nicht mehr leise und auf den Zehenspitzen, sondern hart auftretend und sich an Stühlen und Wänden stützend.

Auf der Hausflur wurde er mit schadenfrohem, aber unterdrücktem Gelächter empfangen, doch ließ man ihn ungehindert passieren, wahrscheinlich weil man erriet, zu welchem Zwecke er nach der Straße hinausschwankte.

Noch unbeholfener und schwerfälliger, als er gegangen war, kehrte er zurück. Es war ersichtlich, daß er sich mit Mühe aufrecht erhielt und nur noch ein geringes Maß des berauschenden Trankes dazu gehörte, ihn vollständig zu betäuben. Sein Gefährte schien ihm kaum noch etwas nachzugeben, trotzdem tranken beide, bis sie nicht mehr konnten und der Mann, der den Branntwein herbeigeschafft hatte, zuerst auf seinem Stuhl laut zu schnarchen begann und dann polternd auf die Erde sank, wo er sich lang ausstreckte und ruhig weiterschlief.

Der Anblick seines betäubten Gefährten schien den ersten Wärter wieder etwas zu ernüchtern und an die Strafe zu erinnern, die seiner als des Anstifters im Entdeckungsfalle harrte. Ich schloß es wenigstens daraus, daß er leise zur Tür schlich, diese öffnete und die Schildwache herbeirief.

»Da liegt das unmäßige Vieh,« sagte er trotz seiner Trunkenheit in besorgnisvollem Tone, »da liegt er, und wenn ich meinen Posten verliere, ist es seine Schuld.«

»Könnt Ihr ihn nicht heimlich fortschaffen und hinterher melden, er sei krank geworden?« fragte der Soldat lachend.

»Ja, wollt ihr ihn vielleicht nach seiner Wohnung tragen?« lautete die Gegenfrage.

»Ich nicht,« lachte der Soldat wieder.

»Wenn er nur auf der Straße wäre, möchte meinetwegen aus ihm werden, was da wolle. Aber hört, Freund, Ihr könnt mich retten; wir lassen ihn nämlich eine Stunde schlafen – denn vor Mitternacht ist keine Gefahr, daß der Patient erwacht – und dann suche ich ihn soweit zu ermuntern, daß ich ihn wenigstens aus der Tür bringe. Es bleibt Euch dann weiter nichts zu tun übrig, als ihn etwas in den rechten Weg hinein, zu stoßen, so daß er die Haustür nicht verfehlt.«

Der Soldat gab lachend seine Zustimmung, bat sich als Belohnung für seine Dienste im voraus einen wärmenden Trank aus, der ihm auch bereitwillig verabreicht wurde, worauf er langsam davonschritt.

Der Wärter schloß die Tür und lauschte eine Weile. Als das Geräusch des sich entfernenden Soldaten endlich auf dem andern Ende der Flur verhallte, schob er den Riegel des Schlosses vor und hastig, aber leise trat er zu mir ans Lager.

»Herr Wandel,« flüsterte er mir dringend zu und zwar mit dem Ausdruck eines vollkommen nüchternen Menschen.

Blitzschnell richtete ich mich empor, den Wärter fragend anstarrend.

»Schnell, schnell,« fuhr dieser dringend fort, »wir haben keine Minute Zeit zu verlieren; stehen Sie auf und helfen Sie mir.«

»Aber ich bin ja ohne Kleider,« bemerkte ich, von einem jähen Schrecken befallen.

»Richtig, damit Sie nicht entlaufen sollen; aber hier, fassen Sie an; Sie brauchen nicht zart mit ihm umzugehen; er hat nicht mehr Gefühl, als der Pfosten Ihres Bettes.«

So sprechend richtete er den betrunkenen Wächter auf, und indem ich nach besten Kräften Beistand leistete, gelang es uns ihn zu entkleiden. Aber ebenso schnell, wie wir ein Stück von seinen schlaffen Gliedern streiften, zog ich es an, und kaum zehn Minuten waren verronnen, da lag der Trunkenbold sorgfältig zugedeckt in dem Bett, während ich noch dieses und jenes an dem mir ziemlich passenden Anzug ordnete.

»Soweit wären wir fertig,« sagte der Wärter, mich zufrieden von allen Seiten musternd, »aber nun Haare und Bart; setzen Sie sich und halten Sie eine Minute still.«

Vor Aufregung keines Wortes mächtig setzte ich mich auf den nächsten Stuhl nieder, der Wärter trat hinter mich, eine Schere knirschte nach allen Richtungen über meinen Kopf hin, und bald darauf lagen meine braunen, verwirrten Locken auf einem über das Bett ausgebreiteten Taschentuch.

»Sie müssen die ganze Geschichte mitnehmen,« sagte er, indem er auch meinen Bart, so gut es eben gehen wollte, abschor und zu dem Haupthaar warf; »hier dienen sie nur als Mittel, Ihnen auf die Spur zu kommen. Schade, daß kein Spiegel bei der Hand ist, Sie würden sich selbst kaum wieder erkennen; Jesus, Maria, Joseph! Wie ist es möglich, daß der Mensch sich so verändern kann!«

Dergleichen Bemerkungen vor sich hinmurmelnd, beeilte sich der brave Mann, die auf den Fußboden gefallenen Haare zu entfernen, und nachdem er sodann das meine Locken enthaltende Bündel in die Brusttasche meiner weiten wollenen Jacke geschoben und eine alte Mütze tief über meinen Kopf gezogen hatte, erklärte er, daß ich nunmehr zur Flucht fertig sei.

»Noch haben wir eine Viertelstunde Zeit,« sagte er, auf das Schlagen der Turmuhren lauschend, »Sie dürfen ebensowenig zu früh, wie zu spät von hier aufbrechen; aber hören Sie, sind Sie jemals in Ihrem Leben betrunken gewesen? Ich meine, was man so recht ordentlich betrunken nennt?«

»Das dürfte ich gerade nicht behaupten, doch bezweifle ich nicht, daß ich einen schwer Betrunkenen sehr täuschend nachahmen kann.«

»Das meine ich eben, das sollen Sie auch nur – aber Maria, Joseph! Was ist das?« fragte er plötzlich erbleichend, indem er nach der Tür hinlauschte.

Sein Schrecken teilte sich mir augenblicklich mit, und ein ohnmachtähnliches Wehgefühl ergriff mich, als ich auf der Hausflur die Tritte von mehreren Männern vernahm, die sich langsam der Tür näherten.

»Also nur ein Kranker?« fragte eine befehlende Stimme.

»Der wachthabende Offizier,« flüsterte der Wärter bebend, und Todesangst prägte sich auf seinen Zügen aus.

»Nur einer, und der schläft,« lautete die Antwort der Schildwache.

»So wollen wir ihn nicht weiter stören,« hieß es, und ich glaubte, vom Rande des Grabes zurückgerissen zu sein, als Schritte und Stimmen, nach einer erneuerten Mahnung, scharfe Wache zu halten, sich entfernten.

Aber noch hatten wir es nicht gewagt, miteinander zu sprechen, da klopfte es leise an die Tür.

»Legen Sie sich genau so hin, wie mein Kamerad gelegen hat,« riet der Wärter und zugleich ergriff er eine Decke, um sie nachlässig über mich zu werfen, worauf er laut fluchend nach der Tür hintaumelte, den Riegel zurückschob und öffnete.

»Was ist los?« fragte er rauh und mit dem Benehmen eines Berauschten.

»Dankt Eurem Schöpfer, daß es mir gelang, die Ronde von Euch fern zu halten,« antwortete der Wachtposten vertraulich.

»Und was nun?«

»Na, ich denke der Dienst, den ich Euch leistete, wäre wohl einen Trunk wert.«

»Bei allen Teufeln, den sollt Ihr haben,« entgegnete der Wärter, schwankenden Schrittes die Flasche herbeiholend und sie mit unsichern Bewegungen dem Soldaten einhändigend.

Er hatte die Türe weit aufgelassen, so daß der Soldat mich sehen konnte.

»Der ist gut,« bemerkte dieser, indem er mit der entkorkten Flasche auf mich wies.

»Hol ihn der Teufel,« grollte mein Freund ächzend.

»Aber auch Ihr scheint etwas schief geladen zu haben,« fuhr der Soldat spöttisch fort; »übrigens will ich Euch den guten Rat erteilen, Eurem Kameraden recht bald auf die Strümpfe zu helfen, wenn er überhaupt während meiner Wache fort soll. Noch eine halbe Stunde und ich werde abgelöst.«

»Ja ja ja,« antwortete der Wärter, die Tür hinter dem Davonschreitenden zudrückend.

Bei diesem Geräusch sprang ich empor, aber bevor ich noch eine Frage an meinen Freund richten konnte, zog dieser mich neben sich auf den Rand der Bettstelle. Nachdem er mich noch einmal dringend zur größten Vorsicht ermähnt hatte, bezeichnete er mir nicht nur aufs genaueste den einzuschlagenden Weg, sondern er schrieb mir auch ebenso genau das den mir etwa begegnenden Leuten gegenüber zu beobachtende Verfahren vor. Sobald er mich dann hinlänglich instruiert und auf alle Fälle vorbereitet glaubte, begleitete er mich noch bis an die Tür.

»Möge Gottes und aller Heiligen Segen Sie begleiten,« sagte er mitleidig, »ich hoffe, das Glück wird Ihnen günstig sein; ein junges Blut wie Sie paßt schlecht in die Gefängnisräume.« Tief ergriffen preßte ich die Hand meines Retters, meinen Dank aber wies er zurück.

»Mir gebührt kein Dank,« versetzte er ausweichend, »ich werde für meine Dienstleistung hoch bezahlt; denn hätte ich auch Neigung verspürt, Ihnen zu helfen, mir allein wäre es nicht möglich gewesen, und ohne für meine Zukunft einigermaßen sichergestellt zu sein, durfte ich es nicht darauf ankommen lassen, für grobe Versehen im Dienst meines Postens enthoben zu werden.«

Noch wollte ich fragen, von wem meine Befreiung ausginge, da öffnete er schon die Tür, und mit einem leise geflüsterten: »Gott geleite Sie,« gab er mir einen Stoß, daß ich wohl fünf Schritte weit in den vor mir liegenden Gang hineintaumelte.

Der Weg, den ich zu verfolgen hatte, war nur spärlich erleuchtet, dabei aber breit und bequem. Eingedenk meiner Aufgabe stellte ich mich aber, als ob für mich daselbst die undurchdringlichste Finsternis herrschte und meine Füße bei jedem Schritt an ein schwer zu besiegendes Hindernis stießen. Bald auf der einen, bald auf der ändern Seite mich an den Wänden hintastend, aber jederzeit die Augen unter der tief über die Stirne gezogene Mütze offen, gelangte ich langsam weiter. Da bei jeder Biegung des Ganges eine düstere Laterne brannte, so wurde mir das Auffinden des mir so genau bezeichneten Weges erleichtert, und nur einmal, als ich über einen kleinen dunkeln Hof kam, war ich zweifelhaft, in welche der gegenüberliegenden, stets von selbst wieder zufallenden Türen ich einzutreten habe.

Aber gerade hier in der Dunkelheit war es, wo mir die bekannte und zufällig in der Nähe befindliche Schildwache Hilfe leistete. Mit einem schadenfrohen Lachen mich ins Genick fassend, stieß der Mann mich nämlich mit solcher Gewalt gegen die rechte Tür, daß ich mit derselben ins Haus hineinflog und auf der ändern Seite zu Boden stürzte.

»Immer geradeaus,« rief er mir zu, »immer geradeaus der Nase nach. Hahaha! Bin Viehtreiber geworden! Warte, Freundchen, Mutter wird dir den Kopf so lange waschen, bis dir vor Verwunderung die Augen übergehen, hahaha!«

Was ich empfand, als der durch den Genuß des Branntweins aufgeheiterte Soldat in den düsteren Gängen seine brutalen Scherze gelegentlich mit einem nicht allzu sanften Stoß begleitete, vermag keine Feder zu schildern. Doch bei aller Furcht vor einer Entdeckung vergaß ich keinen Augenblick, der übernommenen Rolle treu zu bleiben. Den Kragen meiner Jacke zog ich mir, wie fröstelnd, bis über die Ohren hinauf und taumelte meines Weges, vorsichtig darauf achtend, daß ich nicht in den vollen Schein der matt brennenden Laternen gelangte.

Endlich lag die Haustür vor mir. Auf der Straße war es dunkel, denn die beiden nächsten Laternen vermochten in der nebeligen Atmosphäre keine große Helligkeit zu verbreiten. Gereichte mir dies zum Trost, so erfüllte es mich auf der andern Seite wieder mit wahrem Entsetzen, eine Schildwache zu bemerken, die mit geschulteter Muskete kaum zwei Schritte weit vom Hause gerade mitten vor der offenen Doppeltür stand.

Aber der Mann hinter mir setzte den Kolben seiner Muskete zwischen meine Schulterblätter, und mich dann vor sich herschiebend, rief er jenem lachend zu, sich nicht überfahren zu lassen.

Letzterer ging auf den Scherz ein, und ebenfalls in ein unterdrücktes Lachen ausbrechend, trat er bis fast an sein Schilderhaus heran.

Ich mußte jetzt dicht bei ihm vorüber, und mehr einem unbestimmten Instinkt als einem überlegten Plane folgend, strauchelte ich scheinbar und lag in der nächsten Sekunde stöhnend auf der Straße.

»Verdammt!« rief mein Retter wider Willen mir nach, »in seiner Haut möchte ich nicht stecken, wird wohl nicht ohne Strafe davonkommen!«

»Ist ihm gesund, warum macht er solche Streiche,« antwortete der Soldat; »willst du ihm nicht auf die Beine helfen?«

»Oder ihn gar nach Hause begleiten!« rief der erstere höhnisch, »laß ihn nur liegen, er wird sich schon selbst emporhelfen« –

Was die Beiden noch Weiter sprachen, entging mir, denn aus Furcht, daß der eine oder der andere von ihnen sich dennoch menschenfreundlicher zeigen würde als ich wünschte, raffte ich mich anscheinend sehr mühsam empor, und bald nach der linken, bald nach der rechten Seite der Straße hinüberschießend, gelangte ich schnell aus dem Bereich ihrer Stimmen.

Ehe ich die nächste Straßenecke erreichte, begegnete mir die Ablösung. Es war also die höchste Zeit gewesen.

Ohne weiteren Unfall traf ich auf der mir durch den Wärter bezeichneten Stelle ein. Ein in einen Mantel gehüllter Mann erwartete mich daselbst.

»Sind Sie es?« fragte er mich, sobald ich mich ihm gegenüber befand.

»Doktor, ich bin frei!« war das einzige, was ich hervorzubringen vermochte, indem ich ihm aus überströmendem Herzen beide Hände drückte.

»Ruhig, junger Mann,« entgegnete mein wohlwollender Freund; »noch dürfen Sie nicht triumphieren; folgen Sie mir in einiger Entfernung, die Straßen sind noch belebt,« und so sprechend, trennte er sich von mir, in die nächste Querstraße einbiegend.

Nachdem wir ungefähr eine Viertelstunde in dieser Weise fortgewandert waren, blieb mein Führer plötzlich vor einem großen Hause stehen. Sobald ich bei ihm eintraf, blickte er noch einmal scheu die Straße hinauf, hinunter, und dann schweigend meinen Arm ergreifend, zog er mich nach der Haustür hin, die sich auf ein leises Klopfen mit dem Knopf seines Stockes geräuschlos öffnete. Wir schritten über einen dunklen, mit Decken belegten Hausflur und dann eine breite bequeme Treppe hinauf, auf deren oberster Stufe wir von einer älteren Dame, der Gattin des Arztes, mit Licht empfangen wurden.

»Außer meiner Frau und meinem Sohne, der uns die Tür öffnete, weiß niemand in diesem Hause um Ihre Anwesenheit und Ihre Flucht,« sagte der Arzt, nachdem er mir Zeit gelassen, der freundlichen Dame, die mich mit trauriger Teilnahme betrachtete, statt jeder weitern Begrüßung die Hand zu küssen; »auch ich muß auf meiner Hut sein,« fuhr er fort, seiner voranleuchtenden Gattin nach dem Hinterhause hin folgend, »und ebenso heimlich, wie Sie in mein Haus gekommen sind, müssen Sie dieses wieder verlassen. Bis dahin sind Sie selbstverständlich mein Gast, und ich stelle Ihnen nur die einzige Bedingung, deren genaue Beobachtung ich von Ihrer Ehre erwarte, daß Sie nie nach denjenigen forschen, denen Sie Ihre Befreiung verdanken.«

»Es ist eine schwere Bedingung, nicht einmal den Namen meiner Wohltäter wissen zu dürfen,« versetzte ich, indem ich mit meinen Gastfreunden in ein reich ausgestattetes Wohnzimmer trat.

»Gewiß,« versetzte der Arzt freundlich, »Sie müssen sich indessen in das Unvermeidliche fügen, sprechen Sie auch nicht von Dank. Dadurch, daß Sie der Kerkerhaft entrissen wurden, ist andern Leuten ein fast ebenso großer Dienst wie Ihnen geleistet worden –«

»Meinem Vormund vielleicht,« unterbrach ich den Arzt hastig.

»Fragen Sie nicht!« antwortete dieser mit milder Strenge. »Sie haben nur mit mir zu tun; sogar die Sie betreffenden Vormundschaftsangelegenheiten sind in meine Hände niedergelegt worden.«

Neue Fragen an meinen Wohltäter zu richten war unmöglich, da seine Gattin bat, uns zu dem in einem Nebengemach bereit gehaltenen Mahl niederzusetzen.

Bis zu den ersten Morgenstunden saß ich mit dem Arzt in seiner Arbeitsstube, vertieft in die ernstesten Gespräche; und als er mir dann ein kleines Kabinett dicht neben seinem Schlafgemach zu meinem vorläufigen Aufenthalt anwies, war ich vertraut mit allem, was Bezug auf die Fortsetzung meiner Flucht hatte, deren Endziel Amerika sein sollte.

Über meinen Vormund erfuhr ich nur, daß er die Vormundschaft dem Arzte übertragen und diesem anheimgestellt habe, den Rest meines kleinen Vermögens zur Erleichterung meiner Lage im Gefängnis zu verwenden. Danach mußte ich annehmen, daß er nichts von der beabsichtigten Flucht wisse.

Auch Johannas Namen kannte er und knüpfte daran die Mahnung:

»Sie sind ein Mann, und werden den Schicksalsschlag, der Sie so hart trifft, zu tragen wissen. Die Nichte ihres Vormundes dagegen ist eine hinfällige, zarte Natur. Ich spreche als Arzt, und als Arzt rate ich Ihnen, denken Sie nicht etwa daran, sich auf der Oberförsterei im Siebengebirge zu zeigen. Später werden Sie einsehen, wie recht ich habe. Um des Oberstleutnants willen, um seiner Nichte, ja, um Ihrer selbst willen, befolgen Sie meinen Rat; bedenken Sie, daß nicht persönliche Vorteile mich, wie die meisten unserer Helfershelfer, bestimmten, Ihre Befreiung zu erwirken, sondern andere, tiefer liegende Gründe. Meine Bekanntschaft mit Ihnen hat am allerwenigsten dazu gedient, Reue über mein Tun in mir zu erwecken, im Gegenteil, mich in meinem Vorsatz, Ihnen Beistand zu leisten, bestärkt; gönnen Sie mir daher das wohltuende Bewußtsein, meine Mühe nicht nutzlos verschwendet zu haben, und ziehen Sie hin in Frieden, um sich eine neue Heimat zu gründen.«

Unter dem Druck dieser Worte suchte ich mein Lager; die ununterbrochene geistige Spannung der letzten Tage hatte mich erschöpft, doch der Schlaf blieb mir fern; ob wachend oder träumend, überall und zu jeder Zeit trauerte ich um meine Jugend, um mein verlorenes Paradies.–

Vier Tage später, als die erste Aufregung über die unerklärliche Flucht des gefährlichen Demagogen sich etwas gelegt hatte und man mich an jedem andern Punkte der Erde eher vermutet hätte als in Frankfurts Mauern, wanderte ich am hellen Tage frei und offen durch das Eschenheimer Tor, um auf einem Umwege in die nach Mainz führende Straße zu gelangen.

Auf meinen kurz geschorenen Haaren ruhte ein verbogener, weißer Filzhut; ein olivenfarbiger, sehr verschossener und mit mancherlei Flicken geschmückter Jagdrock umschloß meinen Oberkörper, alte gelbe Nankingbeinkleider und ein Paar schiefgetretener Stiefel bildeten den übrigen Teil meines Anzuges. Auf meinem Rücken hing ein alter Ranzen, der im Innern etwas grobe Wäsche und einen nicht mehr ganz modischen Anzug barg, während auf einer Außenseite, in Nebentäschchen und unter den Riemen, eine Kleiderbürste, eine Stiefelbürste, ein Paar gestickte Morgenschuhe und ein Reservepaar von Stiefeln angebracht waren.

In meinem linken Mundwinkel hing eine kurze Pfeife mit langen Quasten und zusammengekittetem Porzellankopf, auf dem ein in Dolche und Pistolen förmlich eingehüllter Rinaldo sehr gemächlich in den etwas zu feuerrotgeratenen Armen seiner schielenden Rosa ruhte. Am rechten Handgelenk hing mir an einem zähen Riemen ein eigenartig geformter Stock, der in seiner Jugend jedenfalls einer Ranke Halt gegeben hatte, und von dem einzigen noch nicht ausgerissenen Knopfloch meines Jagdrockes baumelte an fettig glänzenden, einst grün gewesenen seidenen Schnürchen eine mit rauchbarem Tabak wohlgefüllte Schweinsblase nieder.

Wenn ich so in meinem Äußern das Urbild eines wandernden Handwerksburschen zeigte, so waren meine Taschen nicht minder vorsichtig mit allen Emblemen des edlen Gerbergewerkes versehen worden.

Ein abgegriffenes Wanderbuch, auf den schönen Namen Peter Herpenhof lautend, ragte zur Hälfte aus der äußeren Brusttasche meines Jagdrockes hervor, wie um den auf Legitimationen abgerichteten Gendarmen das gestrenge Ausfragen zu ersparen. Eine kalbslederne Börse mit ungefähr fünf Talern in Pfennigen, Silbergroschen, vereinzelten Kreuzern und Fünfgroschenstücken blähte meine linke Westentasche auf, während eine große Schnupftabaksdose das Gleichgewicht der andern Westentasche wieder einigermaßen herstellte.

Ich reiste also als Handwerksbursche, als Peter Herpenhof, als derselbe Peter Herpenhof, der im Hause meines edlen Wohltäters, des Arztes, so lange bleiben sollte, bis ich ihm sein Wanderbuch und seine Pfeife wieder zurückgesendet haben würde; denn auf den Ranzen samt seinem Inhalt und auf seine Reisekleider hatte er gegen eine angemessene Summe willig verzichtet.

Außerdem, daß ich vollständig als Handwerksbursche ausgerüstet worden war, hatte mir der Arzt auch noch achthundert Taler in Gold eingehändigt. Dieses trug ich in einem festen Gurt unter meinen Kleidern; es war die größte Summe, die ich jemals in meinem Leben auf einmal besessen hatte, doch welchen Reiz hatten jetzt noch blinkende Schätze für mich? Ich wanderte dahin, äußerlich das Bild eines leichtsinnigen, unordentlichen Gesellen, während ich innerlich mich zu verbluten meinte und, erfüllt von den schwärzesten Ahnungen, Johannas gedachte.

Obgleich der Arzt mir bis zum letzten Augenblick dringend abgeraten hatte, meinen Weg durch das Siebengebirge zu nehmen, obgleich seine Gattin, während Tränen in ihren wohlwollenden Augen perlten, ihre Bitten mit denen des Doktors vereinigte und ich sogar versprochen hatte, ihre Ratschläge zu beherzigen, beschloß ich dennoch alles zu wagen, um noch einmal mit Johanna zusammenzutreffen. Ich mußte sie wiedersehen, und wenn mir auch weiter nichts vergönnt sein sollte, als heimlich einen Blick auf ihr liebes, treues Antlitz zu erhaschen, ehe ich auf ewig von ihr scheiden mußte.

Einesteils hoffte ich alles von einer Zusammenkunft mit ihr, die mir so oft und so feierlich ewige Treue gelobte, andernteils hätte ich nicht vermocht, mein Vaterland zu verlassen, ohne aus ihren Augen die Gemütsstimmung herausgelesen zu haben. Mir auch in der Ferne ein wahres, ungeschminktes Bild von ihr entwerfen zu können, von ihr, die dereinst zu besitzen ich die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben hatte, war der tröstende Gedanke, der meine Schritte lenkte.

So wanderte ich denn meinem Ziele zu, durch die herbstliche Landschaft dem Rhein entgegen und endlich an dem stolzen Strom hinunter. Die Sehnsucht trieb mich zur Eile, die Meilen schienen unter mir fortzufliegen und wie ein wunderbar schönes Panorama glitten zu beiden Seiten die rebengeschmückten Ufer mit ihrem mittelalterlichen Schmuck an mir vorüber.

Das Laub der Reben und in den Waldungen war schon zum Abfallen bereit, die Zugvögel wanderten dem wärmeren Süden zu. Allein ich war wie blind für alles. Unbesiegbare Schwermut lastete auf mir.

Wie war es anders früher, wenn ich der Oberförsterei zuwanderte und frischer Jugendmut mir die Brust schwellte!

Jetzt war ich geächtet, verbannt und verfolgt; für mich gab es keinen Freund mehr, vor den ich unbesorgt hätte hintreten dürfen; und Johanna? O, ich durfte nicht daran denken – – –


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