Balduin Möllhausen
Die Mandanen-Waise
Balduin Möllhausen

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Der Medizinmann

Am folgenden Morgen in aller Frühe, noch eh' es zu dämmern begann, waren die Blackfeet bereits wieder in Bewegung.

Einige entfernten sich, um die in einer abgelegenen Schlucht weidenden Pferde herbeizuholen, andere trugen den Leichnam des erschossenen Gefährten davon, um ihn unten am Fluß zu verscharren und die Grabstätte durch eine Anhäufung von Steinen gegen die Wölfe zu schützen, und diejenigen, die zurückgeblieben waren, teilten ihre Aufmerksamkeit zwischen mir und den zur Reise unerläßlichen Vorbereitungen.

An eine Flucht war vorläufig nicht zu denken; die Indianer wußten dies und scheuten sich daher nicht, Schanhatta von allen Banden zu befreien und auch meine Fesseln so weit zu lösen, daß ich die Hände notdürftig gebrauchen konnte.

Bald nach Tagesanbruch trafen die ausgesandten Krieger mit den Pferden bei uns ein. Es waren deren vierzehn, also genug, um nicht nur alle beritten zu machen, sondern auch die erbeuteten Gegenstände mit fortzuschaffen.

Eine Stunde nach Sonnenaufgang waren wir endlich reisefertig. Die Sachen hatten auf den Rücken von drei Mustangs Platz gefunden, und da Schanhatta und ich ebenfalls beritten gemacht worden waren, die Pferde aber der in den Prärien einheimischen, sehr dauerhaften Rasse angehörten, so waren wir imstande, mit großer Schnelligkeit zu reisen.

Dank den Bemühungen meiner treuen Gefährtin fand ich auf der Reise keinen Grund, über harte Behandlung zu klagen; und wenn auch der eine oder der andere Blackfoot mich hin und wieder verhöhnte und mit ausgesuchter Bosheit die Martern beschrieb, die ich zu erdulden haben würde, so erfreute ich mich doch einer gewissen Freiheit, die nur insoweit beschränkt wurde, als während des Marsches meine Füße unterhalb des Pferdes mittels starker Riemen zusammengefesselt waren, während ein anderer Riemen von dem Zaum meines Pferdes nach dem Sattel eines meiner Wächter hinüberlief. Zur nächtlichen Stunde mußte ich mir dagegen gefallen lassen, daß ich an Händen und Füßen gefesselt zwischen zwei Kriegern lag und ein anderer Krieger mit geladener Büchse in meiner Nähe weilte, um mich bei dem geringsten Fluchtversuch niederzuschießen.

Schanhatta, obgleich mit mißtrauischen Augen von Blackbird bewacht, blieb sich immer gleich; sie pflegte mich, soweit es eben möglich war, mit der Sorgfalt einer Mutter, und die wenigen Worte, die sie notgedrungen mit den Blackfeet wechseln mußte, brachte sie mit einem so unerschütterlichen Ernst hervor, daß diese zuletzt kaum noch wagten, sie anzureden, aus Furcht, wegen der ihnen zuteil werdenden beleidigenden Antworten von ihren Gefährten verlacht zu werden.

Eines Morgens, wir mochten uns wohl gegen drei Wochen unterwegs befunden haben, bemerkte ich, daß die Indianer sich mit größerer Sorgfalt als gewöhnlich zum Aufbruch rüsteten. Sie reinigten und polierten ihre Waffen, die Skalplocken wurden mit Federbüschen und sonstigen Zieraten versehen, und die kupfrig glänzenden Gesichter und Oberkörper bemalten sie sich mit roter, gelber und schwarzer Farbe so gräßlich und wild, als wären sie im Begriff gewesen, einen Skalptanz aufzuführen oder sich auf den Kriegspfad zu begeben.

Auch Schanhatta reichte man Farben und Bärenfett, um sich festlich zu schmücken und ihr schönes Haar zu ordnen, doch wies sie nicht nur diese indianischen Aufmerksamkeiten mit unverhohlener Verachtung zurück, sondern sie streute sogar, um ihren Abscheu auf eindringliche Art an den Tag zu legen, zum größten Mißvergnügen Blackbirds noch eine Handvoll Asche auf ihr Haupt. Sie wußte, was die festlichen Vorbereitungen zu bedeuten hatten, und nicht als die auserkorene Lebensgefährtin eines indianischen Kriegers wollte sie in das Dorf der Blackfeet einziehen, sondern als eine trauernde Gefangene.

Ein Marsch von zwei Stunden brachte uns auf eine etwas höhere, wellenförmige Anschwellung der Prärie, und als wir dann auf der andern Seite wieder hinabritten, lag das große und reich bevölkerte Dorf der Blackfoot-Indianer vor uns.

Ein Flüßchen mit bewaldeten Ufern, dessen Windungen sich nach beiden Richtungen hin in weiter Ferne am Horizont verloren, zog sich durch das Dorf hin; ich entdeckte von unserm erhöhten Standpunkte aus, daß auf beiden Seiten zahlreiche Zelte und Hütten, durch kleinere und größere Zwischenräume voneinander getrennt, bedeutende Flächen bedeckten und in allen Richtungen Herden von Maultieren und Pferden weideten.

Ein Grausen ergriff mich, indem ich der nächsten Zukunft gedachte, und vergeblich versuchte ich, mich damit zu trösten, daß die mir bestimmten Martern nicht ewig dauern und auch die Stunden der Qual zuletzt ihr Ende erreichen würden. Schanhatta, dieses liebe treue Wesen, als Sklavin und Spielball eines grimmigen Wilden auf Erden zurücklassen zu müssen, dieser Gedanke peinigte mich indessen noch mehr als die bestimmte Aussicht auf das über mich verhängte gräßliche Ende, und so sehr hatte ich mich meinem traurigen Grübeln hingegeben, daß ich gar nicht darauf achtete, wie meine Begleiter ihre Gewehre abfeuerten, um sich im Dorfe anzumelden und den glücklichen Erfolg ihres Unternehmens zu verkünden.

Auf das Schießen strömten denn auch alt und jung herbei, um uns zu begrüßen. Die uns begleitenden Krieger pries man geräuschvoll für ihre kühne Tat, mich und Schanhatta dagegen überhäufte man mit den wildesten Schmähungen, und namentlich ich war es, gegen den sich die Wut einer Rotte scheußlicher Weiber kehrte.

Wie ich später erfuhr, befanden sich unter diesen die Witwen der bei dem Angriff auf die Insel Gefallenen. Sie sahen in mir die alleinige Ursache des über sie hereingebrochenen Unglücks und bekundeten dies dadurch, daß sie mit den dicht gesät umherliegenden Knochen und Lederstücken nach mir warfen und unter teuflischem Geschrei ihr Messer drohend gegen mich erhoben.

Die uns umgebende Masse wütender Megären und ihrer Kinder wuchs zuletzt in so hohem Grade an und die Waffen wurden in so gefährlicher Nähe von mir geschwungen, daß unsere Begleiter ernstlich zu befürchten begannen, das blutige Drama würde durch einen sicher geführten Messerstoß zu einem verfrühten und deshalb weniger ergötzlichen Abschluß gelangen. Mit wenig Rücksicht sprengten sie daher unter den lärmenden Haufen, wofür sie von den zurückgedrängten und unter die Füße getretenen Stammesgenossinnen mit endlosen Verwünschungen, von den zuschauenden Männern dagegen mit schadenfrohem Lachen belohnt wurden. Als aber endlich ein stumpfer, von einem Knaben abgeschossener Pfeil dicht an meinem Kopfe vorbeischwirrte, da brachen sie, Blackbird an der Spitze, sich mit Gewalt Bahn, und im Galopp eilten wir nach der Mitte des Dorfes hin, wo eine geräumige Erdhütte, um die herum sich vier oder fünf phantastisch bemalte Lederzelte erhoben, die Wohnungen der ältesten Krieger und weisen Männer der Nation bezeichnete.

Der tolle Haufe folgte uns zwar, und offenbar jetzt mit den allerfeindlichsten und blutdürstigsten Absichten, allein ehe die Vordersten bei der Erdhütte eintrafen, waren Schanhatta und ich von unseren Pferden gerissen und in diese Hütte hineingedrängt worden. Ich vernahm das wütende Geheul, mit dem man meine Person forderte, da ich aber dem Anblick dieser von tierischem Blutdurst ergriffenen Menschen entzogen war, gelang es den Häuptlingen und älteren Kriegern leicht, sie durch Versprechungen zu beruhigen und endlich auch zu zerstreuen.

Erst nachdem die heulende und jauchzende Volksmasse sich zerstreut hatte, wendeten Blackbird und die Krieger, die ihm bei der Gefangennahme behilflich gewesen, Schanhatta und mir ihre Aufmerksamkeit wieder zu. Schanhatta wurde gleich mir gefesselt und bis zur endgültigen Entscheidung als Gefangene behandelt. Doch wurde uns nicht der Trost zuteil, zusammen in einem und demselben Raum verweilen zu dürfen.

Die von außen einem Hügel ähnliche Hütte war durch feste Erdwände in mehrere kleinere und größere kellerartige Fächer eingeteilt worden, von denen einzelne kaum geräumig genug waren, vier oder fünf Menschen in gebückter Stellung nebeneinander aufzunehmen. In eins dieser Fächer nun wurde die an Händen und Füßen gebundene Schanhatta gebracht, während man mich, nachdem man mich in gleicher Weise gefesselt hatte, in eine andere der finstern Höhlen stieß und sodann den Ausgang mit Pfählen und Steinen fest verrammelte.

Glücklicherweise war die Heilung meiner Wunde in den letzten Wochen trotz des beschwerlichen Marsches so weit fortgeschritten, daß die fest um meine Fußgelenke geschnürten Riemen keine schmerzhafte Wirkung mehr auf sie ausübten. Überdies wälzte ich mich von einer Seite auf die andere und bewegte meine Füße nach Kräften, um das Stocken des Blutes zu verhindern.

Lange Stunden hatte ich derart verbracht, als ich das Murmeln einer Anzahl männlicher Stimmen vernahm.

Ich lauschte mit tödlicher Spannung. Ungewiß darüber, ob es noch Tag oder die Nacht schon hereingebrochen sei, erwartete ich, daß man komme, um fürchterliche Rache an mir zu vollziehen. Da hörte ich, daß die murmelnden Stimmen sich ganz dicht an mir vorbeibewegten und endlich haltmachten.

Die angesehensten Krieger und Medizinmänner unter den verschiedenen Häuptlingen mußten in der Zauberhütte zusammengetreten sein, um über meine Person zu beraten und den Streit über den Besitz Schanhattas und des Manuskriptes zu schlichten.

Die Verhandlungen dauerten lange und schienen sehr ernst zu werden. Laut knisterte und knackte das Beratungsfeuer, das man gewiß ebensowohl der größeren Feierlichkeit wegen, als um den kellerartigen Raum zu erhellen, in der Mitte des Kreises gerade unterhalb der engen Rauchöffnung in der Bedachung schürte. Als die Versammlung dann endlich aufgehoben wurde, schien sie noch immer nicht zu einem festen Entschluß gekommen zu sein, denn nicht schweigend entfernte man sich aus der »Medizinhütte«, sondern murmelnd und verhandelnd, als ob ein Teil der Anwesenden sich für oder gegen die zur Sprache gekommenen Streitfragen erklärt habe.

Sobald die Stimmen endlich ganz verhallt waren, vernahm ich, wie jemand die Türöffnung von innen schloß und fest verrammelte. Eine Schildwache würde diese Sicherheitsmaßregeln von außen angewendet haben; es erwachte daher in mir die mich fast vernichtende Furcht, daß Blackbird heimlich in der Hütte zurückgeblieben sei, um seine grausamen Pläne an Schanhatta und mir auszuführen.

Außerdem erriet ich aus dem Geräusch, mit dem von Zeit zu Zeit neue Scheiter in die Flammen geworfen wurden, daß außer mir und Schanhatta noch eine dritte Person in der unheimlichen Zauberhütte weilte.

Meine Spannung wuchs in so hohem Grade, daß mir das Blut die Schläfen zu sprengen drohte und ich völlig empfindungslos gegen die mir aus meiner gezwungenen Lage erwachsenden Schmerzen wurde.

In jedem Augenblick erwartete ich Schanhattas erstickten Hilferuf zu hören, in jedem Augenblick den rachsüchtigen und von den wildesten Begierden erfüllten Blackbird bei mir eintreten zu sehen, um mich zu peinigen und zu verhöhnen und mit seinem scheußlichen Triumph über die mißhandelte Mandanen-Waise zu prahlen.

Doch alles blieb ruhig in meiner nähern Umgebung, nur zuweilen glaubte ich, da das Gehör sich bei der andauernden Spannung verschärfte, einen dumpfen Seufzer oder einen kurzen Ausruf des Schmerzes zu unterscheiden.

Stunde auf Stunde verrann; im Dorfe, aus dem so lange der dumpfe Schall der indianischen Trommel und wilder, unharmonischer Gesang bis zu mir gedrungen waren, wurde es still, und seltener ertönte das eigentümlich vibrierende Gellen, mit dem die jungen Krieger ihre frohe Stimmung verkündeten. Das Knistern des Feuers und das Stöhnen und Seufzen auf der andern Seite der mich von dem Hauptgemach trennenden Erdmauer dauerte dagegen fort, mich mit einem nie gekannten Grausen erfüllend.

Endlich war, außer dem widerwärtigen Lärm der um Knochen und Fleischüberreste kämpf enden halbverhungerten Hunde, jedes Geräusch im Dorf verstummt. Es mußte daher Mitternacht sein, also die Stunde, in der man annehmen durfte, daß die ganze Blackfoot-Bevölkerung sich dem Schlafe hingegeben habe.

Diesen Zeitpunkt schien mein geheimnisvoller Nachbar zur Ausführung seiner Pläne, welcher Art sie auch sein mochten, abgewartet zu haben. Das schmerzliche Stöhnen erreichte plötzlich sein Ende, wogegen, nach dem Geräusch zu schließen, das Feuer noch einmal frisch geschürt und mit neuen Holzscheiten genährt wurde. Dann hörte ich, wie die vor Schanhattas Kerker aufgetürmten Blöcke und Felsstücke zurückfielen, gleich darauf leuchtete zwischen den geöffneten Fugen hindurch ein schwacher Lichtschimmer zu mir herein. Stein auf Stein, Block auf Block sanken zurück; in dem Maße die letzten Hindernisse beseitigt wurden, vermehrte sich auch der Lichtschimmer, und bald darauf schob sich eine rötlich leuchtende Holzfackel zu mir herein.

Wer den Feuerbrand trug, konnte ich anfangs nicht unterscheiden, denn der Übergang von der Finsternis, in der ich viele Stunden zugebracht hätte, zur flackernden Helligkeit war so plötzlich, daß ich dadurch geblendet wurde und meine Augen schließen mußte. Als ich mich aber an das Licht gewöhnt hatte und wieder um mich zu schauen vermochte, bot sich mir ein Anblick, so seltsam und dabei so beängstigend, daß ich nicht an die Wirklichkeit zu glauben wagte und mich zweifelnd ein über das andere Mal fragte, ob ich wache oder träumte oder von krankhaften Visionen heimgesucht werde.

Im Eingange der Höhle, also gerade zu meinen Füßen, und wegen der Niedrigkeit der Bedachung etwas gebückt, stand nämlich eine männliche Gestalt, die dieser Welt gar nicht mehr anzugehören, sondern einem von den wunderlichsten Gebilden wimmelnden indianischen Paradiese entflohen zu sein schien.

Ein ursprünglich hochgewachsener, durch das Alter und auch wohl durch erduldete Leiden zusammengekrümmter Greis, in der einen Hand den flackernden Feuerbrand, in der andern mein Manuskript, schaute regungslos wie eine Statue zu mir nieder, als ob er mir Zeit habe lassen wollen, ihn genau zu betrachten und mich an seinen Anblick zu gewöhnen. Und dennoch übte er weniger einen erschreckenden oder drohenden als einen befremdenden Eindruck auf mich aus, obgleich die bewegliche rote Beleuchtung das ihrige dazu beitrug, seinem Äußern einen unheimlichen, gnomenartigen Charakter zu verleihen.

Die tief in ihre Höhlen zurückgesunkenen Augen hatten sogar einen milden Ausdruck, oder doch wenigstens nichts von jenem düsteren Fanatismus, wie ich ihn sonst wohl bei geistesverwirrten Medizinmännern – und diesen erkannte ich ja als einen solchen – beobachtet hatte.

Auf seinem Haupte trug er einen prächtigen Schmuck von den Schwung- und Schweiffedern des Kriegsadlers, deren einzelne Spitzen noch mit einem Büschel rotgefärbter Pferdehaare verziert waren. Sein weißes Haar fiel lang und lockig von seinen Schläfen auf die breiten und eckigen Schultern nieder; am meisten aber setzte mich an ihm als an einem Indianer in Erstaunen, daß ein voller, mittels des unter den Eingeborenen gebräuchlichen pulverisierten Zinnobers rotgefärbter Bart ihm bis tief über die Brust hinabfiel.

Seine Züge genauer zu unterscheiden hielt schwer, indem die eine Hälfte seines runzeligen Antlitzes ebenfalls feuerrot, die andere dagegen dunkelblau gefärbt war, doch bemerkte ich, daß die den Eingeborenen im allgemeinen charakterisierenden vorstehenden Backenknochen ihm mangelten, wogegen wieder eine echt indianische scharfe Adlernase weit über den feuerfarbigen Schnurrbart hinausragte.

Seine Hüften umschloß ein breiter gestickter Gurt, und an diesem hingen, um das Äußere eines Medizinmannes zu vervollständigen, der in einen Beutel umgearbeitete vollständige zottige Balg eines Stinktiers, eine aus Hirschklauen angefertigte Klapper und ein ausgehöhlter Flaschenkürbis.

So stand also der seltsame Greis vor mir, seine milden Augen mit einer Teilnahme auf mich richtend, die eindringlicher als alles dafür bürgte, daß ihr Eigentümer, in welcher Weise die Gestörtheit seines Geistes sich auch offenbaren mochte, nicht fähig sei, Schanhatta ein Leid zuzufügen.

Die Erscheinung des geheimnisvollen Medizinmanns hatte mich im höchsten Grade überrascht, doch vertraut mit den indianischen Sitten erblickte ich in ihr nichts Ungewöhnliches; meine Überraschung verwandelte sich aber in das grenzenloseste Erstaunen, als er, nachdem er mich eine Weile sinnend betrachtet hatte, zu sprechen anhob.

»Glauben Sie an Prophezeihungen?« fragte er mit hohler Grabesstimme, und zwar in reinem Deutsch, wie jemand, der seit seiner frühsten Jugend mit dieser Sprache vertraut gewesen war.

Ich wußte nicht, hatte ich recht gehört oder befand ich mich unter dem Einfluß einer Sinnestäuschung.

»Glauben, Sie an Prophezeihungen?« fragte der Greis wieder mit demselben geheimnisvollen Ausdruck.

»Was soll das heißen und wer sind Sie?« fragte ich endlich zurück, mich gleichfalls der deutschen Sprache bedienend, obgleich mir schien, als seien die an mich gerichteten Fragen die einzigen deutschen Worte, die der Zauberer kannte. »Sind Sie wirklich ein Deutscher, wozu dann die Verkleidung?«

»Kümmern Sie sich nicht darum, wer ich bin,« entgegnete der Medizinmann, »es genüge Ihnen zu wissen, daß ich die weißen Menschen nicht kenne, nicht kennen will; ich bin eine Rothaut, und nun beantworten Sie mir meine Frage, vergeuden Sie nicht die edle Zeit mit nutzlosen Fragen. Nur Weiber fragen. Männer verstehen zu schweigen; ich habe in dieser Nacht bereits mehr gesprochen als sonst in Jahren. Glauben Sie an Prophezeihungen?«

»Also doch ein Unglücklicher,« dachte ich, und um ihn nicht noch mehr aufzureizen, ging ich auf die sonderbare Unterhaltung ein. »Ich glaube nicht an Prophezeihungen,« versetzte ich sodann ruhiger, »obgleich ich zugebe, daß der Zufall hin und wieder fügt, daß übersehbare, vielleicht auch berechnete Weissagungen wirklich eintreffen.«

»Tor!« erwiderte der rätselhafte Fremde, geringschätzig lächelnd, »du wagst es, dergleichen zu behaupten? Du, den das Geschick sich erkoren hat, um an ihm ein schlagendes Beispiel zu liefern?«

»Ich möchte wissen, in welcher Weise?« fragte ich immer noch begütigend, »aber wer Sie auch sein mögen und was Sie auch immer dazu bewegt, Ihr Herkommen zu verleugnen, ich flehe Sie an, sagen Sie mir, was aus Schanhatta, dem jungen Indianermädchen geworden ist, das in meiner Gesellschaft hier eintraf, sagen Sie mir das und versprechen Sie mir, über das arme, unschuldige Kind zu wachen, und ruhig will ich die Martern ertragen, die wahrscheinlich über mich verhängt werden.«

»Schanhatta?« fragte der Greis, und ein freundliches Lächeln erhellte flüchtig seine eisenharten Züge; »Schanhatta? Jeannette wollen Sie wohl sagen; ja, Jeannette oder Johanna. Aber Sie haben recht, Jeannette, dieser Name erinnert zu sehr an die Weißen und die unter ihnen mit so viel Sorgfalt gepflegten Laster; an scheinheilige Gesichter, die mit dem Wort Gottes spielen, um unter dem Deckmantel der Religion straflos die empörendsten Verbrechen ausüben zu können. Hu, es war schrecklich! Schanhatta, Schanhatta, wer hätte es gedacht – nicht wahr, Sie lieben Schanhatta?«

»Ich sollte Schanhatta, dieses treue, liebe Mädchen, das einzige, was mich noch ans Leben fesselt, nicht über alles lieben?«

»Und wenn Sie unter die Weißen zurückkehrten, würden Sie Schanhatta heiraten und eine gebildete Frau aus ihr machen?«

Da begann ich zu ahnen, daß ich in dem verkleideten Europäer den Vater der Mandanen-Waise vor mir sehe, den die Blackfeet einst mit sich fortgeschleppt hatten, und antwortete daher festen Tones: »Ja, ich will Schanhatta zu meiner rechtmäßigen, christlichen Gattin machen. Ich weiß, daß ich durch einen solchen Schritt nicht nur mein eigenes, sondern auch ihr vollstes irdisches Glück begründe, aber – dergleichen klingt kindisch aus meinem Mund, ich bin Gefangener, der Furchtbares zu erwarten hat.«

»Schanhatta befindet sich in einer verhältnismäßig bequemen Lage,« bemerkte der Medizinmann zerstreut, indem er das Manuskript in sein gesticktes Lederhemd schob und durch Entfernung der Kohlen und leichtes Schwingen seine Holzfackel zur helleren Flamme anfachte; »ich habe sie getränkt und gespeist, ich habe ihr Geduld anempfohlen und versprochen, sie zu retten. Auch dir, mein Freund, bringe ich Trank und Speise, aber bevor ich dir beides reiche, sage mir, schmerzen dich die Fesseln? Ganz entfernen darf ich sie nicht, es könnte entdeckt werden, aber lösen will ich sie, so daß du sie leichter erträgst und deine Gelenke nicht erlahmen; du wirst deine Glieder wahrscheinlich in nächster Zeit angestrengt gebrauchen müssen.«

Ich erklärte darauf, eine geringe Lockerung meiner Banden würde mir meine Lage erheblich erleichtern.

Der geheimnisvolle Greis beeilte sich, meinen angedeuteten Wunsch mit kundigen Händen zu erfüllen, worauf er sich neben mich auf die Erde niederkauerte und mir abwechselnd die mit frischem Wasser gefüllte Kürbisflasche an die Lippen hielt und einige Scheiben gedörrtes Büffelfleisch darreichte.

Dann brach er die Fackel und mehrere in seinem Gürtel steckende Zedernscheiter in kleinere Splitter, und nachdem er nahe der Türöffnung, so daß der Rauch in den Hauptraum der Hütte hinauszog, ein kleines Feuer angelegt, das er bequemer als die unbeholfene Fackel in Brand zu erhalten vermochte, wendete er sich mir wieder zu.

»Sie fragen sich gewiß, mit welchem Recht ich mich nach Ihren Absichten betreffs Schanhattas erkundige,« hob er an, seine Augen wieder mit mildem, wehmütigem Ausdruck auf mein Gesicht heftend; »nun wohl – – Jeannette ist meine leibliche Tochter, sie ist meine und einer braven und treuen Mandanen-Frau Tochter. Auf ihrer Schulter steht es geschrieben; ich selbst tätowierte den Namen ein; die Jahre haben die Zeichen verwischt, doch erkannte ich die von mir sorgfältig eingeätzten Linien augenblicklich wieder. Ja, Jeannette ist meine Tochter,« wiederholte er, ins Leere starrend, als ob er sich auf etwas besinne; »Jeannette ist meine Tochter, ich glaubte, sie sei tot, tot, wie ihre Mutter. Die falschen Menschen, sie zeigten, mir die mit seidenweichem Haar bedeckte Kopfhaut eines Kindes und den getrockneten, blutigen Skalp einer Frau; sie sagten, es seien die letzten Überreste meiner Tochter und derjenigen, die mich mit treuer Anhänglichkeit pflegte und vor Gott meine rechtmäßige Gattin war. Sie haben mich belogen; mein Gedächtnis war geschwunden, weshalb sie wünschten, mich als Medizinmann unter sich zu haben. »Hahaha! sie glaubten, ich sei weiser als andere Menschen, und ich verstehe doch weiter nichts, als sie zu täuschen. Aber halt – wo blieb ich stehen? Ach, ich entsinne mich, Jeannette ist meine Tochter, Sie wollen sie zu ihrer Gattin machen und die Prophezeihung erfüllen.«

»Welche Prophezeihung?« fragte ich erschreckt, denn die Hoffnung auf Rettung, die der fremde Freund kurz vorher durch sein Benehmen und die sich daran knüpfenden Versprechungen wachgerufen hatte, zerfiel wieder in nichts, sobald ich mich überzeugte, daß er sich in einem Seelenzustand befand, von dem sich kaum irgendwelche Hilfe erwarten ließ. Denn wie sollte ich mir sein ängstliches Anklammern an eine eingebildete Prophezeihung anders erklären, als daß ich ihn den Einflüssen einer krankhaften Phantasie unterworfen glaubte?

»Die Tochter ihres Vaters,
Sie ahnte, wer er war,
Beseligt und beglückend
Folgt sie ihm zum Altar!«

sprach Schanhattas Vater langsam und ausdrucksvoll, statt einer Antwort, vor sich hin.

»Sie haben in meinem Manuskript gelesen?« entgegnete ich mit einem tiefen Seufzer über die Hoffnungslosigkeit Schanhattas und meiner Lage.

»Ich habe in Ihrem Manuskript gelesen; fast zwölf Stunden habe ich ununterbrochen gelesen, bald hier, bald dort. Es war zuviel, um es Wort für Wort in mich aufzunehmen. Aber ich weiß genug. Die Verse rühren von einer Wahnsinnigen her; durch den Mund der Wahnsinnigen spricht Manitou zu seinen Kindern. Ich bin ein indianischer Medizinmann. Obgleich nur ein Gefangener der Blackfeet, besitze ich doch großen Einfluß unter ihnen. Die Blackfeet glauben an meine Worte, und ich glaube an die Prophezeihung der Wahnsinnigen. Die Tochter ihres Vaters, ja ja, mein Sohn, sie folgt dir zum Altar, an ihrer Seite findest du der Liebe Glück – der Liebe wahres Glück – Hahaha! Ohne daß ein heimtückischer Pfaffe es zu zerstören vermöchte!«

So sprechend schlang er seine Arme um seine emporgezogenen Knie, und als ob er aus dem Feuerschein etwas herauszulesen vermocht hätte, starrte er regungslos in die kleinen, lustig emporzüngelnden Flammen.


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