Balduin Möllhausen
Die Mandanen-Waise
Balduin Möllhausen

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26

Das Lebewohl

Nachdem nicht nur die Ufer, sondern auch das Innere der kleinen Insel auf das sorgfältigste abgesucht worden waren, gesellten sich die Männer einer nach dem andern zu mir.

Da die Indianer ohne Zweifel von der Strömung sehr weit fortgerissen worden waren, ehe es ihnen gelang, auf dem einen oder andern Ufer festen Fuß zu fassen, so mußten sie zu erschöpft und außerdem zu weit voneinander zerstreut sein, um noch in dieser Nacht an einen erneuten Angriff denken zu können. Ich riet daher dringend, gerade die nächsten Stunden zur Reise stromabwärts zu benutzen.

Mit größter Bereitwilligkeit ging man auf meinen Vorschlag ein, und wir begaben uns ans Werk, ein Fahrzeug zusammenzustellen, das fest genug war, eine Reise sogar bis nach St. Joseph hinunter auszuhalten.

Zuerst wurde der Wagenkasten ins Wasser geschoben, dann rings um diesen ein leichtes Floß gebaut und so mit dem Kasten verbunden, daß dieser dadurch nicht nur einen stetigeren Gang erhielt, sondern auch nach keiner Seite hin umschlagen konnte. Das Kanoe wurde darauf ebenfalls durch Stangen sicherer für ungeübte Hände gemacht und dann vorn an den Wagenkasten befestigt.

Diese Arbeit erforderte kaum eine halbe Stunde Zeit, und Mitternacht war noch nicht lange vorüber, als alle Hände damit beginnen konnten, die geretteten Gegenstände so auf das Fahrzeug zu verteilen, daß sie das Gleichgewicht nicht störten.

Meine eigenen Habseligkeiten hatte ich beiseite gelegt; ich gab vor, sie erst im letzten Augenblick an Bord bringen zu wollen, und wies Schanhatta an, sich bei ihnen niederzusetzen.

Ich aber trat noch einmal zu Kate heran, die etwas abseits stand, so daß sie die arbeitenden Leute nicht in ihren Bewegungen hinderte.

Als Kate meine Absicht, zu ihr sprechen zu wollen, erkannte, bot sie mir mit ernster Freundlichkeit die Hand.

»Ich glaubte bereits, Ihr zürntet mir«, sagte sie, und ich fühlte, daß ihre Hand leise in der meinigen zitterte; »allein ich sehe ein, Ihr wäret zu beschäftigt, um mir nach alter Weise Eure Aufmerksamkeit zuwenden zu können.«

»Das war ich und bin es noch,« erwiderte ich, »aber die Zeit drängt, in wenigen Minuten müssen wir voneinander scheiden, ich wollte daher jetzt Abschied von Euch nehmen.«

»Abschied nehmen?« fragte Kate erschreckt, indem sie abermals meine Hand ergriff, »nein, nein, Ihr könnt nicht so grausam sein, hätte es doch fast den Anschein, als beabsichtigtet Ihr, uns entgelten zu lassen, daß ich – daß ich –«

»Nichts liegt mir ferner als ein derartiger unedler Gedanke, meine liebe Freundin und Schwester«, fuhr ich fort, als sie in ihrer Rede stockte. »Aber wir müssen scheiden, um meiner selbst willen, um Euretwillen; Ihr, um in Eure glückliche Heimat zurückzukehren, ich, um hier zu bleiben, weil es für mich keine andere Heimt mehr gibt als diese Wildnis.«

»Oh, sprecht nicht in dieser harten Weise,« versetzte Kate, und ihre Stimme bebte, »nein, wir alle werden zu verhindern suchen, daß Ihr auf dieser Insel zurückbleibt, wie Ihr, nach Euren Worten zu schließen, beabsichtigt. Es hieße Euch einem sichern Tode preisgeben; oh, denkt an mich! würde ich eine ruhige Stunde haben, müßte ich mir sagen, daß ich die Schuld an Eurem frühzeitigen schrecklichen Ende trüge? Gebt Euren Plan auf, begleitet uns dahin, wohin Ihr durch Eure geistige Bildung gehört und wo Ihr von treuen Freunden mit offenen Armen empfangen werdet, von Freunden, die es als ein Glück betrachten werden, Euch zu jedem angemessen erscheinenden Unternehmen ihren Beistand anbieten zu dürfen.«

»Und das mutet Ihr mir zu, Miß Kate? Ich soll mir Wohltaten erweisen lassen, und dazu noch von jemand, der bei allen freundlichen Gefühlen doch auch Mitleid mit mir hätte? Nein, Miß Kate, mein Entschluß steht unerschütterlich fest, selbst Eure lieben Worte, die mich so wohltuend berühren, vermögen nicht, meinen Entschluß wankend zu machen.«

Kate hatte das Haupt auf die Brust geneigt; sie weinte, gab es aber auf, mich noch fernerhin von meinem Vorsatz abbringen zu wollen.

»Aber Schanhatta? was soll aus Schanhatta werden?« fragte sie endlich nach langer Pause.

»Gerade Schanhattas Zukunft ist es, derentwegen ich mit Euch zu sprechen wünschte,« entgegnete ich, »eigentlich wollte ich sie noch einige Zeit bei mir behalten, aber unter den jetzigen Verhältnissen kann ich es als rechtschaffener Mann nicht von ihr fordern, noch länger bei mir zu bleiben, denn sie ist doch zu zart, um mich, solange ich keine Pferde besitze, auf meinen mühevollen Wanderungen zu begleiten, und eine günstigere Gelegenheit, die arme Waise in eine angemessene Schule zu bringen, dürfte sich sobald nicht wieder bieten.«

»Überlaßt uns das Mädchen,« versetzte Kate mit Wärme, »gestattet uns, fernerhin für Schanhatta zu sorgen, und wenn es uns gelingt, ihr ein glückliches Los zu bereiten, ihre Zukunft ganz in Eurem Sinne zu gestalten, so soll das nur ein schwacher Beweis der Dankbarkeit sein, die wir alle dem treuen und mutigen Kinde schulden.«

»Ich danke Euch in meinem und Schanhattas Namen für Eure Güte und Teilnahme,« erwiderte ich, durch Kates Vorschlag gerührt, »doch verzeiht mir, wenn ich nicht darauf eingehe. Ich kann mich nicht mit dem Gedanken vertraut machen, mich gänzlich von ihr zu trennen, das letzte Band, das mich an sie fesselt, zu durchschneiden. Ich muß jemand haben, für den ich lebe, sorge und schaffe, oder mein Dasein erscheint mir zwecklos. Laßt Euch also daran genügen, Schanhatta auf die Mission, deren Lage ich Euch bereits beschrieb, zu bringen. Grüßt den Missionar und seine Gattin aufs herzlichste von mir und teilt ihnen über Schanhatta alles mit, was Ihr wißt. Sie wird dort eine liebevolle Aufnahme finden, und wenn auch Ihr Euch von ihr trennt, dann wiederholt ihr mein Versprechen, daß ich im Spätherbst auf der Mission einkehren werde, um mich von ihrem Wohlergehen und ihren Fortschritten zu überzeugen.«

Ein Schuß krachte vom Ufer herüber, und wie um uns zur Eile zu mahnen, pfiff die Kugel hoch über uns hin. Die Black- feet hatten unsere Vorkehrungen entdeckt, und da der breite Flußarm uns voneinander trennte, versuchten sie, uns wenigstens durch ihre Büchsen nach besten Kräften zu belästigen.

Kate erschrak, und zugleich vernahm sie ihres Vaters und Halberts Stimmen, die nach ihr riefen und sie aufforderten, sich auf ihren Platz zu begeben.

»Ich komme gleich,« antwortete Kate mit erzwungener Ruhe, »laßt nur alle vorausgehen, ich will die letzte sein, die die Insel verläßt!«

Daran gewöhnt, daß Kate stets nach ihrem eigenen Willen handelte, befahl Dalefield seinen Leuten, die ihnen angewiesenen Posten einzunehmen, und während dieser Zeit fand ich Gelegenheit, meine letzten Worte an Kate zu richten.

Halbert war so nahe bei uns, daß er uns fast verstehen konnte. Er hatte sich indessen abgewendet und wartete ohne ein Zeichen von Ungeduld darauf, daß Kate die Unterhaltung abbrechen würde. Ich fühlte, er wußte um mein Geheimnis und wollte mir den Genuß des Gesprächs mit seiner Geliebten nicht verkürzen.

»Nun noch eine letzte Bitte, Miß Kate«, begann ich, unbekümmert darum, daß eine zweite Kugel über uns hinsauste; »seid mir behilflich, den Abschied zu erleichtern; ruft Schanhatta zu Euch an Bord, tut nicht, als ob Ihr um meinen Entschluß wüßtet, auch zu Halbert oder Eurem Vater sprecht nicht davon. Ich werde im letzten Augenblick das Fahrzeug vom Ufer aus abstoßen, anstatt aber hinaufzuspringen, mich schnell in das Gebüsch zurückziehen. Und nun lebt wohl, Gott segne Euch, liebe, unvergeßliche Schwester«, fuhr ich leiser fort, vor verhaltenem Weh kaum noch der Worte mächtig; »lebt wohl, gedenkt meiner freundlich, verzeiht mir und nehmt meinen innigsten Dank für die trostreichen Worte, die ich von Euren Lippen vernommen habe; lebt wohl.«

Abermals krachte ein Schuß von dem Ufer zu uns herüber.

»Alle an Bord!« rief Dalefield dringend, und gleichzeitig wandte Halbert sich nach uns um.

»Kate, Mr. Wandel, Schanhatta, ich glaube, wir haben keine Zeit zu verlieren«, sagte er ernst.

»Segne dich Gott, mein lieber, teurer Bruder,« flüsterte Kate unter Schluchzen, »mag Gott dir vergelten, was du an uns getan hast, und vergib mir den Kummer, den ich dir verursachte; lebe wohl – auf Wiedersehen.«

Bei diesen Worten umschlang sie meinen Hals und zugleich berührten ihre Lippen flüchtig die meinigen.

Mir war, als ob ein Hauch aus den himmlischen Höhen, als ob meine entschlafene Johanna mir die Hand aufs Herz gelegt habe, um es aufs neue zu erwärmen, neue Liebe zum Leben und allen Menschen in ihm wachzurufen.

Als ich mich von der Erschütterung erholt hatte, führte Halbert seine Geliebte vorsichtig nach dem Floß hinauf.

Außer Schanhatta und mir befanden sich nunmehr alle an Bord und schon begannen die Leute die Leine zu lösen, die das Fahrzeug noch am Ufer hielt, und sich mit ihren Rudern in dem Kanoe zum Abstoßen bereit aufzustellen.

Noch einmal trat ich dicht an die das Ufer berührenden Floßhölzer heran. Die Mandanenwaise stand an meiner Seite; sie trug ein großes Paket unter dem Arm, und ich entdeckte, daß es nicht nur ihre Sachen, sondern auch ein Teil der meinigen waren, die sie in Eile zusammengerafft hatte. Ihre Augen hielt sie mit dem Ausdruck der Seelenangst auf mich geheftet, so daß ich mich abwenden mußte. Ich wollte sie nach dem Floß hinaufschicken, aber die Worte erstarben mir auf der Zunge, ich konnte nicht.

»Schanhatta, komm, meine liebe Schwester,« rief Kate jetzt aus, »komm, es ist noch Platz an meiner Seite!«

»Will mein Gebieter mir nicht voranschreiten?« fragte Schanhatta leise und ausdrucksvoll, als ob sie Kates Worte nicht vernommen hätte.

Zwei Kugeln, begleitet von durchdringendem Wutgeheul, schlugen eine kurze Strecke von uns aufs Wasser und pfiffen dann unheimlich über uns fort.

»Vorwärts, Kinder, vorwärts!« bat Dalefield in seiner Besorgnis um die Seinigen, »vorwärts, oder wir haben zu gewärtigen, daß noch einige von uns erschossen werden, eh' wir die Insel verlassen haben.«

»Schanhatta, geh' hinauf, ich will nur noch das Fahrzeug abstoßen«, befahl ich mit ernster Stimme, jedoch blutenden Herzens.

»Ich will meinem Gebieter helfen,« lautete die bestimmte Antwort, »ich fürchte mich, allein zu gehen; ich fürchte, mein Gebieter könnte das Holz verfehlen und wäre dann gezwungen, zurückzubleiben.«

Abermals ließ sich der scharfe Knall einer Büchse vom Ufer her vernehmen und fast in demselben Augenblick empfand ich ein kurzes Zucken in meinem rechten Knie.

Ich war verwundet, die Kugel hatte mich gestreift, und zwar scharf, edle Teile verletzend, denn ich fühlte, daß eine vorübergehende Schwäche meinen Körper durchrieselte; doch ich verbiß den Schmerz, denn lieber hätte ich meine Brust allen feindlichen Geschossen zur Zielscheibe dargeboten, eh' ich mich dazu entschlossen hätte, als der Gegenstand des allgemeinen Mitleids in Kates und Halberts Gesellschaft zu reisen. Mein ganzes Innere sträubte sich gegen einen solchen Gedanken, und alles, was ich in diesem Augenblick wünschte und hoffte, war, daß das Floß erst flott und außer Sicht getrieben sein möge.

»Schanhatta, mein Kind, tue, was ich dir geboten habe, gehe hinauf«, sagte ich jetzt noch ernster, der jungen Indianerin Hand ergreifend und heftig drückend. »Gehe hinauf, oder deine Schuld ist es, wenn jemand verwundet wird!«

Ratlos schaute die Waise noch einmal nach dem Boot hinüber, von dem aus Kate sie mit süßen Schmeichelworten bat, meinen Befehlen Folge zu leisten, und dann ihr Bündel von sich werfend stürzte sie mir zu Füßen. Ihre Augen blieben tränenleer, auf ihrem Antlitz dagegen war eine so wilde Verzweiflung ausgeprägt, wie ich noch nie in meinem Leben an irgendeinem Menschen wahrgenommen hatte.

»Töte mich,« sagte sie, fast flüsternd und mit unbeschreiblich flehendem Ausdruck, »töte mich, aber schicke mich nicht von dir. Schicke mich fort und ich sterbe. Laß mich lieber zu deinen Füßen sterben. Willst du absichtlich in den Tod gehen, so sage es, und ich begleite dich, nur verstoße mich nicht. Du hast ein Messer, nimm es und töte mich, anstatt zu sagen, ich soll nicht bei dir leben, dir nicht dienen!«

Nur wenige Sekunden dauerte diese Szene, allein diese Sekunden entschieden über viel. Tief ergriffen blickte ich zu Schanhatta nieder; aus ihren Augen sprachen nicht kindliche Dankbarkeit und Anhänglichkeit, sondern die hingebende, opferwillige Liebe des Weibes, die Liebe, die keine Schranken, keine Grenzen kennt und weit über dieses Leben hinausreicht, weit, weit hinaus, bis in die Ewigkeit.

»Gott im Himmel, solltest du mir dennoch ein irdisches Glück beschieden haben?« hallte es in meinem überströmenden Herzen.

»Wenn euch an meinem und Schanhattas Leben gelegen ist, so richtet keine Frage mehr an uns; jeder weitere Verkehr hieße: uns an unsere scharfsinnigen Feinde verraten,« rief ich darauf kurz entschlossen den auf dem Fahrzeug Versammelten zu, die starr vor Erstaunen zu mir herüberschauten, »Miß Kate weiß alles, sie wird euch jede Aufklärung erteilen können. Gott geleite euch glücklich an euer Ziel.«

Neue Schüsse krachten, neue Kugeln pfiffen in unserer Nähe vorüber, und wilder und grimmiger erschallte zwischendurch das indianische Geheul, indem die zerstreuten Krieger wieder bei ihren Gefährten eintrafen.

Schnell bückte ich mich und stemmte mich mit aller Kraft gegen das Floß, und in der nächsten Minute waren Boot, Floß und Leute weit abwärts in der Dunkelheit verschwunden, ich aber schlich langsam und schwer gestützt auf Schanhatta und meine Büchse dem verborgensten Winkel der Insel zu.

Niedriger brannten die Feuer auf der Südspitze und zwischen den Treibholzstämmen. Um mich war es dunkel; Schanhatta saß neben mir, mit frischem Missouriwasser meine Wunde – –

Hier schloß das Manuskript.

Als ich es zum erstenmal durchgelesen hatte, dachte ich daran, einen neuen Raubversuch auf des weisen Doktors Wakitamone Medizinränzel zu unternehmen, um wenigstens das eine Blatt noch, mit dem ich das nachgemachte Amulett umwickelt hatte, zu erbeuten, doch was konnte auf dem Quartblatt enthalten sein? Der Schluß der Geschichte gewiß nicht, denn so weit sich deren Verlauf übersehen ließ, hätte noch mancher Bogen dazu gehört, um des deutschen Studenten Erlebnisse auch nur bis dahin zu schildern, wo er verwundet in seiner Winterhütte lag und sich mit der Ausarbeitung seines Manuskripts beschäftigte.

Wodurch war er in seiner Arbeit unterbrochen worden? Auf welche Weise war das Manuskript in Wakitamones Hände gefallen, und zwar zusammen mit dem Skalp, der sich durch die weiße Locke als der des grausamen und hinterlistigen Blackbird gar nicht verkennen ließ? Wo hatte der Schreiber selbst sein Ende gefunden? Was war aus Schanhatta, der lieblichen Blume der Wildnis, geworden? Wo war Kate, die holde Kate mit dem lachenden Antlitz und dem warmen Herzen geblieben?

Das waren die Fragen, die sich mir jedesmal stellten, so oft ich in dem vergilbten Manuskript blätterte und bald diese, bald jene Stelle noch einmal durchlas.

Und leere Neugierde trieb mich nicht zu solchen Fragen, nein, andere, tiefer liegende Gründe waren es, die meine Teilnahme für den Verschollenen wachgerufen hatten.

In dem ersten Teil seines Manuskriptes war ja das Land so genau beschrieben, in dem ich selbst meine glückliche Jugendzeit verlebt hatte, standen ja so manche mir bekannte Namen, war ja sogar das Haus erwähnt, in dem ich des Lebens allerheiterste Seiten kennen gelernt hatte. Was war also natürlicher, als daß ich das lebhafteste Verlangen trug, mehr über den zu erfahren, der gleich mir den lieben Vater Rhein den ersten Gespielen seiner Jugend nannte, und gleich mir nach dem fernen wilden Westen verschlagen wurde.

»Aber ist er denn auch verschollen?« fragte ich mich zuweilen, wenn meine Blicke auf den regelmäßigen Schriftzügen hafteten. »Ist er denn auch verschollen?« fragte ich mich und begann zu rechnen, und die Jahre, soweit ich klar zu denken vermochte, vor meinem Geiste vorüberrollen zu lassen:

Im Frühling des Jahres 1833 beteiligte er sich an der Frankfurter Bewegung. Im Herbst desselben Jahres entfloh er nach Amerika, und im Jahre 1839, als er sein Zusammentreffen mit der Familie Dalefield beschrieb, konnte er das dreißigste Jahr kaum erreicht haben. Jetzt schreiben wir 1852; er wäre also höchstens erst dreiundvierzig Jahre alt. Aber das Manuskript, das Manuskript, es ist nicht leicht denkbar, daß er es gutwillig aufgegeben haben würde. Vielleicht vermag Wakitamone mir darüber Aufschluß zu verschaffen.

Also hin zu meinem alten Gastfreunde und einen Angriff auf den so merkwürdig gezeichneten Skalp gewagt.

Warukscha empfing mich mit ausgesuchter Liebenswürdigkeit, indem sie mir zum Beweise ihrer Hochachtung sogleich einen gesottenen Biberschwanz mit gestampften Maiskörnern vorsetzte. Doktor Wakitamone streckte mir seine biedere Rechte entgegen und fragte sehr herablassend, ob ich den Siouxs, und wenn nicht den Siouxs, so doch irgendeinem andern Pferde gestohlen habe, um ihm seine Töchter abkaufen und damit in die Rechte seines sehr lieben Schwiegersohnes eintreten zu können. Ich dagegen gab zu verstehen, daß ich einen wunderschönen Traum gehabt habe und infolgedessen zum Pferdestehlen seines Amulettes, des gekennzeichneten Skalpes, bedürfe.

Wakitamone holte sein Medizinränzel herbei und löste Blackbirds Skalp ab, und das Herz lachte mir förmlich vor Freude darüber, daß diese Naturmerkwürdigkeit nunmehr in meinen Besitz übergehen sollte.

Doch ich täuschte mich. Mein edler Gastfreund wollte mit seiner Trophäe nur etwas liebäugeln und mir deren besondere Vorzüge anschaulich machen; denn nachdem er sie mit wahrhaft rührender Liebe an seine wunderbar rot gefärbten Wangen gelegt – eine zärtlichere Art zu liebkosen kennen die Indianer im allgemeinen noch nicht –, hielt er sie in Armeslänge von sich ab, um das Licht mit den wohlgeordneten zweifarbigen Haaren spielen zu lassen und mir das ebenfalls sehr geschmackvoll angestrichene Innere der weich gegerbten Kopfhaut zu zeigen.

Seine Augen leuchteten dabei vor Stolz und Freude, und eine Anrede hielt er an mich, die ich zwar nicht verstand, deren Sinn aber ohne Zweifel war, daß er sich von dem teuren Andenken nicht trennen würde und wenn alle seine Töchter deshalb unverheiratet bleiben sollten.

Die Hoffnung auf den Besitz von Blackbirds Skalp gab ich daher auf, doch schied ich nicht eher von Wakitamone, bis ich über die merkwürdige Siegestrophäe alle diejenige Auskunft erhalten hatte, die mein alter Gastfreund mir zu erteilen imstande war.

Aus diesen Nachrichten ging hervor, daß Wakitamone den Blackfoothäuptling, nachdem er von ihm einen klaffenden Schnitt über die Brust empfangen hatte, eigenhändig mit seiner Lanze aufgespießt habe, und zwar nicht nur einmal und nachdrücklich, sondern so oft, daß der arme Blackbird mehr einem Siebe, oder – um mich in Wakitamones Sinn auszudrücken – einem abgetragenen Mokasin ähnlich gewesen sein mußte als einem Blackfootkrieger.

Nach dem Manuskript fragte ich nicht weiter, die Sache schien mir aus leicht erklärlichen Gründen zu gefährlich; doch aus der Art, in der der Ottoe auf seinen Zauberranzen schlug, erriet ich, daß er in diesem noch eine ganz besonders wirksame Medizin verborgen glaubte – womit nur das entwendete Manuskript gemeint sein konnte – die er zugleich mit dem schönen Skalp erbeutet habe.

Also Blackbird hatte das Manuskript besessen; das war das ganze, was ich aus Wakitamones Mitteilungen schöpfte, und dies diente am wenigsten dazu, einiges Licht über des deutschen Studenten Endschicksal zu verbreiten.

Meine Nachforschungen auf dem Pelztauscherposten bei den Omahas blieben ebenfalls erfolglos. Das dort stationierte Personal war in den letzten Jahren wenigstens viermal verändert worden, wie auch der Vorsteher der nahen Mission bereits vor sechs oder sieben Jahren seinen Vorgänger, der mir allein über Wandels weiteres Ergehen hätte Aufschluß erteilen können, im Amte abgelöst hatte. Der abgelöste Missionar aber war nach Südamerika geschickt worden, also zu weit fort, als daß ich, der ich wie der Vogel in der Luft über Länder und Meere dahinstreifte, mit ihm in brieflichen Verkehr hätte treten können.

Eine letzte Hoffnung blieb mir noch, nämlich, nach meiner Rückkehr in die östlichen Staaten Erkundigungen über Dalefield und Halbert und daher auch über Kate einzuziehen und zu versuchen, ob diese nicht in der Lage seien, mir den Schlußteil zu dem aufgefundenen Manuskript zu liefern. Doch in welcher Richtung ich Dalefield und die Seinigen aufzusuchen haben würde, mochte Gott wissen. Dies hinderte mich indessen nicht, meinen Schatz auf das sorgfältigste aufzubewahren und in ein Stück Wildleder gewickelt, wie einst der Doktor Wakitamone getan, beständig in meiner Kugeltasche mit mir herumzutragen.


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