Balduin Möllhausen
Die Mandanen-Waise
Balduin Möllhausen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

18

Auf dem Jesuitenhofe

Eine Stunde mochte es noch bis zum Anbruch des Tages sein, als ich mich an dem mir bezeichneten Punkte auf dem Ufer des Rheins neben mein Ränzel ins Gras warf.

Anton hatte sich ebenfalls niedergesetzt; und schweigend blickten wir auf die dunklen Fluten, die mit leisem Rauschen die weidenbepflanzten Ufervorsprünge streiften.

Meine Blicke hafteten auf dem jenseitigen Ufer, das sich mit seinen fernen Höhenzügen nur als ein langgereckter, unregelmäßiger, schwarzer Streifen auszeichnete. Die Dorfschaften und vereinzelten Gehöfte waren indessen leicht zu erkennen an den Lichtern, die hin und wieder auftauchten, und wie um den Eindruck des trauten Heimatlichen noch zu erhöhen, klang der lustige Dreischlag fleißiger Drescher über den breiten Wasserspiegel zu mir herüber und der Ruf der Hähne, die ungeduldig dem ersten Tagesschimmer entgegenharrten.

Jeder Ton, der das Leben und Wirken der glücklichen Landbewohner verriet, drang mir zum Herzen; unwillkürlich verglich ich in Gedanken ihr Los mit dem meinigen, und wie mit höherer Kraft begabt, sendete ich meine geistigen Blicke bis in ihre Hütten, ihr innerstes Familienleben, und immer neue traute Bilder suchte ich vor meine Seele hinzuzaubern. O, das war ein trauriger Genuß; aber ich wurde seiner nicht müde, und fort und fort wanderten meine Blicke von Hütte zu Hütte, von Licht zu Licht, bis diese endlich eins nach dem andern erloschen und der anbrechende Tag die Gehöfte in allen ihren Formen klarer und deutlicher hervortreten ließ.

Da störte mich regelmäßiger Ruderschlag in meinen Betrachtungen.

»Es wird das für mich bestimmte Boot sein,« sagte ich leise zu Anton.

»Es war 'mal ein König über Rhein,
Der hatte verloren drei Töchterlein.
Die erste ging nach Österreich,
Die zweite trat ins Kloster ein,
Die dritte zog dem Spielmann nach,«

klang die alte Volksweise melancholisch zu dem Plätschern der Ruder.

»Welch seltsames Zusammentreffen,« dachte ich, sobald ich an der Stimme die Sängerin erkannte.

»Anton, wir müssen scheiden,« wendete ich mich darauf an meinen Gefährten, denn ich erriet, daß mein Vormund Fräulein Brüsselbach angetroffen und diese für die geeignetste Person gehalten habe, sie auf seine Kosten stromabwärts zu senden, um meine Flucht dadurch zu verdecken.

»Ja, lieber, junger Herr,« antwortete Anton, erschreckt emporfahrend.

»Frau, koch Kaffee,« fügte der Rabe ärgerlich hinzu, denn durch Antons Bewegung war er aus seinem Schlummer gestört worden.

Sinnend betrachtete ich meinen treuen Freund, und zugleich lauschte ich nach dem sich nähernden Fahrzeug hinüber.

»Sie zog dem Spielmann sieben Jahr nach,
Und als die sieben Jahr um warn,
Da ward das Mädchen sterbenskrank,«

erschallte die Stimme jetzt schon bedeutend näher.

»Anton, wenn es mir gelingt zu entkommen, so verdanke ich dir meine Freiheit,« hob ich wieder an, gerührt in des armen Burschen tränende Augen schauend.

Anton blickte mich starr an; er schien mich nicht zu begreifen.

»Drauf zog sie in eine Mühle ein,
Die Müllerin gab ihr ein Kämmerlein.
Ach Müllerin gib mir ein Glas Wein,
Mein Vater ist König übern Rhein,«

sang Fräulein Brüsselbach in ihrer eigentümlichen Weise.

»Anton,« fuhr ich fort, »ich will dir ein Andenken an deinen besten Freund geben. Hier hast du meine Uhr; ich brauche sie nicht mehr; was kümmern mich jetzt noch die Stunden? Damit sie dir aber nicht entwendet wird, gib sie dem Herrn Oberstleutnant in Verwahrung, und dann gib ihm auch diesen Zettel, auf dem geschrieben steht, daß ich sie dir wirklich geschenkt habe.«

Anton sprach noch immer nicht; er nahm die Uhr und legte sie neben sich auf einen Stein, und nur als der Rabe mit einem behaglichen »Spitzbube!« seinen Schnabel nach der glänzenden Kette ausstreckte, bewies er durch einen leichten Schlag, den er dem Vogel erteilte, in wie hohem Werte er die Uhr hielt.

»Ach Tochter, das kann nicht möglich sein
Du hast von Gold kein Ringelein.
Von Gold hob ich ein Ringelein,
Ich hob's verborgen in einem Schrein,«

ertönte es jetzt dicht bei, und fast in demselben «Augenblick glitt das Boot hinter dem nächsten zum Schutz gegen die starke Strömung tief in den Rhein hineingebauten Damm hervor.

Beim Anblick des Bootes erhob ich mich.

»Leute, wollt ihr nicht so gut sein und einen armen, ermüdeten Handwerksburschen ein Stückchen mit Euch nehmen?« fragte ich, als sich das Fahrzeug mir fast gegenüber befand.

»Warum nicht?« lautete die Antwort und gleich darauf stieß das Boot dicht vor mit ans Ufer.

Ich reichte meinen Ranzen hinein und dann wendete ich mich noch einmal Anton zu.

»Lebe wohl, mein guter, treuer Anton,« sagte ich, dem regungslos dasitzenden Freunde die Hand reichend; »lebe wohl, und mag Gott dir deine Treue lohnen, ich vermag es nicht.«

Große helle Tränen rannen über Antons Wangen; es war die einzige Antwort, die ich von ihm erhielt.

In der nächsten Minute ließ ich mich auf die Querbank neben Fräulein Brüsselbach nieder, und die Ruderer lenkten sogleich der Mitte des Stromes zu.

Meine Blicke hatte ich auf Anton gerichtet. Der arme Mensch schien förmlich vernichtet zu sein; er saß noch immer auf derselben Stelle, aber indem das Boot sich weiter von ihm entfernte, neigte er sich auch weiter vornüber. Er beachtete weder seinen scheltenden Raben, noch die bis jetzt unangerührt gebliebene Uhr; er hatte nur noch Gedanken für das Boot, das ihm seinen Freund grausam entführte.

»Guter, braver Anton, habe Dank für die Tränen, die du mir nachweinst; es sind wohl die letzten, die mir und meinem Andenken fließen.« So dachte ich, indem ich rückwärts schaute. Die schnelle Strömung und die noch herrschende Dämmerung entzogen mir sehr bald die Aussicht auf Anton, und jetzt erst wendete ich den beiden Ruderern meine Aufmerksamkeit zu.

Es waren zwei ältere Männer mit ernsten, verschlossenen Physiognomien. Daß sie wußten, wer ich sei, ging zur Genüge daraus hervor, daß sie mir rieten, wenn ich doch so ermüdet sei, mich auf die in der Mitte des Fahrzeugs ausgebreiteten Decken niederzulegen.

»Sobald wir in Köln ankommen, wollen wir Sie wecken« sagte der ältere der beiden Männer, »aber auf drei bis vier Stunden Ruhe können Sie immer rechnen.«

Ich verstand den Wink und legte mich nieder, so daß es von den Ufern aus erschien, als ob die beiden Leute nur noch eine einzige weibliche Person als Mitreisende bei sich gehabt hätten.

Mein Kopf ruhte auf meinem Ränzel gerade vor der Bank, auf der Fräulein Brüsselbach saß. Da diese ihre großen, graublauen Augen nur gelegentlich auf mich richtete, so glaubte ich, daß sie mich nicht erkannt habe; sehr bald aber erhielt ich den Beweis vom Gegenteil.

Ich hatte mich nämlich noch keine Viertelstunde in dem Boot befunden, da heftete sie einen langen Blick auf mich, während das gewöhnliche freundliche Lächeln auf ihren breiten Zügen spielte.

»Die Tochter ihres Vaters,
Sie ahnte, wer es war,
Beseligt und beglückend,
Sie folgt ihm zum Altar,«

sagte sie, wie zu sich selbst sprechend, leise vor sich hin.

Ich legte, zum Zeichen des Schweigens, den Finger auf den Mund, indem ich mit der ändern Hand verstohlen auf die Schiffer deutete.

»O, Herr Graf, wer nicht hören will, der hört nicht, und würde ihm mit den Posaunen des jüngsten Gerichts in die Ohren gerufen; wer aber hören und verraten will, der versteht die Worte, die das Herz schlägt,« entgegnete die Irrsinnige, einen lächelnden Blick um sich werfend.

Ich betrachtete die beiden Ruderer; sie sahen in der Tat wie Leute aus, die nichts hören wollten. Fräulein Brüsselbach, obgleich ihr Geist in Fesseln lag, hatte für manches eine ganz außergewöhnliche Beobachtungsgabe, so hatte sie auch hier die Absicht der Ruderer richtig erraten. Die seltsame Weissagung aber versetzte mich in jene Zeit zurück, in der ich in der Ruine von Godesberg dieselben Worte von denselben Lippen vernahm.

»Fräulein Brüsselbach,« begann ich mit halblauter Stimme, »es wäre vielleicht besser gewesen, Sie hätten mich nicht erkannt; ein einziges unüberlegtes Wort kann mich ins Unglück stürzen.«

»Und meinen der Herr Graf, ich würde das unüberlegte Wort sprechen? O, das wäre nicht möglich. Sie haben von dem verbotenen Wein auf dem Berge getrunken, den die Schwarzen Ihnen mischten; der Zauber, der über Sie hereinbrach, hat indessen seine Kraft verloren. Sie sind frei und durchziehen als verkleideter Ritter die Gaue des Rheins. Unter elender Hülle haben Sie Ihren Glanz verborgen, doch das Glück haftet an Ihren Sohlen; Sie werden siegreich aus dem Kampfe hervorgehen, und der Minne süßer Lohn wird Sie für die in Ihrer Prüfungszeit erduldeten Leiden tausendfach entschädigen; denn:

Die Tochter ihres Vaters,
Sie folgt ihm zum Altar.«

Daß Fräulein Brüsselbach meine traurige Lage mit irgendeiner in ihrem Gedächtnis fortlebenden romantischen Rheinsage verwechselte und sich darin gefiel, dem irrenden Ritter gegenüber die Rolle einer Beschützerin zu übernehmen, war die sicherste Bürgschaft für ihre Verschwiegenheit und Vorsicht.

Das Fräulein aber fuhr fort: »So trösten und gedulden der Herr Graf sich; auf Regen folgt Sonnenschein; auf den Zauberschlaf das Erwachen und:

Die Tochter ihres Vaters,
Sie folgt ihm zum Altar.«

Indem Fräulein Brüsselbach so sprach, ließ sie ihre leeren Blicke mit einem seltsam verzückten Ausdruck nach allen Richtungen in die Ferne schweifen.

»Ritter, treue Schwesterliebe,«

begann sie zu deklamieren, und langsam und mit theatralischem Pathos folgte Strophe auf Strophe. O, es war eine trübe, melancholische Musik, die halbsingende Stimme der Irrsinnigen. Leichte Nebel lagerten auf den eilenden Fluten; die über den Horizont emporsteigende Sonne strengte sich vergeblich an, den dichten, einfarbigen Wolkenschleier zu zerreißen; das Wasser gurgelte unter dem scharfen Bug des leichten Fahrzeugs, und in regelmäßigem Takt sanken die von kräftigen Armen geführten Ruder ins Wasser.

»Jo–han–na, Jo–han–na!«

schienen die Ruder zu sagen, indem sie in drei Absätzen zwischen den Pflöcken klapperten und im Wasser plätscherten.

»Jo–han–na, Jo–han–na!«

Das Boot glitt so schnell und leise dahin, schnell vorbei an Feld und Wald, an Gehöft und Dorf; vorbei an dem alten römischen Turm auf der rechten Seite, vorbei an anmutig gelegenen Villen auf dem linken Ufer.

Schneller folgten die Häuser aufeinander und häufiger wurden die nur noch mit wenigen gelben Blättern geschmückten Weinberge von Obst- und Ziergärten unterbrochen. Die schlanken Türme der altehrwürdigen Stadt Bonn traten mehr in den Vordergrund, die fliegende Brücke schien mit ihrer langen, von Booten getragenen eisernen Kette den Strom absperren zu wollen. Vom Ufer herüber, von den Zimmerplätzen erschallte der lustige Schlag der Axt und das Knirschen der langen Brettersäge, von einem mächtigen Holzfloß der Gesang der zahlreichen, die schweren Ruder führenden Arbeiter.

»Wir befinden uns gleich vor der Stadt,« sagte da plötzlich der ältere Schiffer.

Ich nickte dem freundlichen Bootsmann bezeichnend zu und drückte mich noch fester an die Planken des Fahrzeugs.

»Es kommt ein Dampfschiff den Rhein herunter, wir müssen uns näher am Ufer halten,« bemerkte da der eine Schiffer, und zugleich steuerte er, da die Stadt nunmehr schon hinter uns lag, auf das linke Ufer zu.

»Wir haben Zeit genug,« antwortete der andere gelassen, »erstens dauert es noch eine Weile, bis es die Stadt erreicht, und dann bleibt es auch wenigstens eine halbe Stunde vor der Ländüngsbrücke liegen, bis dahin können wir dreimal hinüber und herüber gerudert sein.«

Die nächsten zehn Minuten verstrichen in tiefem Schweigen, doch merkte ich, daß das Boot sich allmählig dem Ufer näherte und endlich in der Entfernung von kaum fünfundzwanzig Schritten an den tief in das Wasser hineingebauten Dämmen vorüberschoß.

»Das Dampfboot hält nicht an,« rief plötzlich der eine Schiffer erbleichend aus, »es muß Unheil im Winde sein!«

»Jesus Maria! sieh das rote Fähnchen, das vorn geschwungen wird, gilt das uns?« fragte sein Gefährte nicht weniger besorgt.

»Keinem andern,« antwortete der erste, »wir sind verraten worden, und zwar kann das nur in Königswinter geschehen sein. Heilige Maria, Mutter Gottes, was fangen wir an!«

Bei diesem Ausruf richteten die beiden Leute, die nicht mehr ruderten und ihr Fahrzeug nur noch von der Strömung forttreiben ließen, ihre ängstlichen Blicke auf mich.

»Wie lange dauert's, bis das Dampfschiff heran ist?« fragte ich, von Entsetzen ergriffen, denn jetzt, nachdem ich mich bereits so nahe am Ziel wähnte, erschien mir meine Wiederverhaftung doppelt furchtbar.

»Kaum noch fünf Minuten,« lautete die wenig trostreiche Antwort.

»Ich muß hinaus,« erwiderte ich dringend.

»Wenn wir landen, verschlimmern wir unsere Lage,« wendeten die Schiffer ein.

»Ihr sollt nicht landen,« bat ich dringend, »wendet nur das Boot so, daß es dem Dampfboot die breite Sicht zukehrt. Seid Ihr fertig?«

»Wir sind fertig.«

»Fräulein Brüsselbach, stehen Sie auf und suchen Sie mich durch ihre Gestalt zu verdecken,« befahl ich weiter.

Kaum hatte letztere meiner Aufforderung Folge geleistet, so schob ich meinen Ranzen, an dem ich Hut und Wanderstab befestigt hatte, hinter ihr empor, und ihn vorsichtig über Bord drängend, ließ ich ihn an den Riemen behutsam ins Wasser gleiten, wo er sogleich versank.

Fräulein Brüsselbach, nunmehr meine Absicht erratend, kam mir dadurch zu Hilfe, daß sie ihr Kleid auseinanderbreitete und dicht an die dem Dampfboot zugekehrte Seite des Fahrzeugs herantrat, wodurch ich Raum genug gewann, in zusammengekauerter Stellung hinter sie zu gleiten. Aber auch die Bootsleute begriffen augenblicklich, was ich bezweckte, und handhabten ihr Fahrzeug so, daß es im Gleichgewicht blieb.

Zehn Schritte hatte das Boot noch zu treiben, ehe es sich in gleicher Höhe mit dem nächsten Strombrecher befand, während auf der ändern Seite das Dampfboot bis auf etwa fünfhundert Schritte herangekommen war. Es blieb mir also noch gerade soviel Zeit, wie ich brauchte, meine Vorbereitungen zu treffen.

»Sehe sich niemand nach mir um,« rief ich den Bootsleuten zu, »meine Brieftasche lasse ich liegen, Fräulein Brüsselbach, nehmen Sie diese an sich und stellen Sie sie mir einige Stunden später auf dem Ufer zu. Ihr Landen wird keine Schwierigkeiten haben, nachdem das Dampfschiff sich entfernt hat. Sobald Sie mich ins Wasser gleiten hören, setzen Sie sich nieder und schwanken Sie dabei, und Ihr, meine Freunde, rudert, sobald die Fluten sich über mir schließen, gegen den Strom; rührt das Wasser auf, erzeugt Wellen, haltet Euch genau zwischen mir und dem Dampfschiff und nun – lebt wohl!«

Der Damm lag vor mir, ich neigte den Kopf und Arme über Bord, und ähnlich einem Aal, der dem Netz entschlüpft, glitt ich in die kalten Fluten hinab.

Nur auf einen Augenblick tauchte ich dicht an dem Boot noch einmal empor, um Luft zu schöpfen und mir die einzuschlagende Richtung zu merken, und dann verschwand ich unter den von den Schiffern erzeugten Wellen.

Ich hatte eine bedeutende Strecke unter der Oberfläche des Wassers zurückzulegen und zwar ganz in der Tiefe, um dem verräterischen Auftauchen meines Rockes vorzubeugen, aber die Todesangst verlieh mir Kräfte, und kaum eine halbe Minute, nachdem ich mich von dem Boot getrennt hatte, kroch ich behutsam aus dem geschützten und daher stillen Wasser, den Damm zwischen mir und meinen Verfolgern, nach diesem hinauf, wo mich die dichtbestandenen Weiden vollständig verbargen.

Das Boot war unterdessen eine kurze Strecke an dem Damm vorbeigetrieben. Um den Leuten auf dem Dampfboot ihren guten Willen zu beweisen, peitschten die beiden Ruderer das Wasser, daß es schäumte. Fräulein Brüsselbach hatte wieder Platz genommen und schaute mit ihrem unveränderlichen Lächeln nach dem heranbrausenden Dampfboot hinüber, das endlich seine Maschine anhielt.

Als das Boot neben dem Dampfschiff anlegte, befanden sich beide Teile schon zu weit von mir entfernt, als daß ich die daselbst gewechselten Worte hätte verstehen können. Die Schiffer sowohl als auch die Irrsinnige mußten indessen einem scharfen Verhör unterworfen werden, denn erst weit unterhalb setzten sich die Räder wieder in Bewegung und in großem Bogen dampfte das Schiff zurück, während das Boot hinter dem nächsten Ufervorsprung verschwand.

Erst nachdem auf dem Dampfboot mittelst einer Glocke das Zeichen zum Anlegen an der Bonner Landungsbrücke gegeben worden war, schlich ich behutsam von dem Damm nach dem weidenbewachsenen Uferabhange hinauf, um mich vor allen Dingen zu überzeugen, ob die Landstraße oder vielmehr der für die Schiffe schleppenden Pferde bestimmte Leinpfad frei sei.

Vorsichtig lugte ich hinauf und hinunter; es war um die Mittagszeit und nur in der Ferne erblickte ich einige vereinzelte Gestalten, anscheinend Leute, die von der Feldarbeit heimkehrten. Vor mir, auf der andern Seite des Weges, dehnte sich ein umfangreicher, mit einer jungen Buchenhecke eingefaßter, englischer Garten aus. Obwohl der Herbst bereits die Blätter von den Ziersträuchern und Bäumen abgestreift hatte, verdeckten die mit Tannen und Kiefern anmutig durchwachsenen Baumgruppen doch fast vollständig das auf einem sanft ansteigenden Abhänge gelegene Wohnhaus nebst daranstoßendem Gehöft. Ich durfte also hoffen, auch von dort oben aus nicht bemerkt zu werden, und da ich in dem dichten Buschwerk ein geschützteres Plätzchen zu finden erwartete als mir die Weidenanpflanzung und das feuchte Gras boten, im Garten selbst aber niemand zu hören oder zu sehen war, so entschloß ich mich schnell und kletterte über das zierliche Lattentor in den Garten hinein.

Mein nächstes Ziel waren eine Edeltanne und eine Kiefer, die am Rande eines Rasenplatzes bis zur Erde hinab so dicht ineinander verwachsen waren, daß ein Kaninchen Mühe gehabt hätte, da durchzukriechen.

Für mich gab es indessen kein Hindernis, das mir unüberwindlich erschienen wäre, und wenn auch mit verletztem Gesicht und Händen, gelangte ich doch tief genug in das Versteck hinein, um von zufällig Vorübergehenden nicht leicht entdeckt zu werden. Außerdem genoß ich auch den Vorteil der Aussicht auf den Leinpfad, so daß Fräulein Brüsselbachs Annäherung, im Falle sie mir meine Brieftasche wieder zuzustellen gedachte, mir nicht entgehen konnte.

Über mir die duftenden, dicht verschlungenen grünen Zweige und unter mir den trockenen, von umherstreifenden Hühnern zu Staub zerwühlten Boden, befand ich mich also verhältnismäßig wohl. Die Wärme des Körpers begann allmählich meine Kleider zu trocknen, und da ich für unvorhergesehene Fälle stets etwas Brot bei mir trug, das allerdings jetzt naß war, so beabsichtigte ich bis zum Abend auszuharren, dann einige Goldstücke aus meinem Gurt zu nehmen und mit Hilfe dieser meine Flucht immer weiter stromabwärts fortzusetzen.

Doch es war, als ob sich an diesem Tage alles wider mich verschworen hätte, denn noch keine Viertelstunde hatte ich in meinem Versteck zugebracht, als die Zweige sich hinter mir leise teilten und ein ungefähr neunjähriger, flachsköpfiger Junge mich mit einer an Unverschämtheit grenzenden Neugierde betrachtete.

»Du denkst wohl, ich habe dich nicht gesehen?« redete er mich an, und seine blauen Augen leuchteten vor Vergnügen über seine Entdeckung, »ich habe dich gesehen und möchte wohl wissen, was du' in meinem Garten zu suchen hast. Willst wohl Nachtigallen fangen oder Äpfel stehlen?«

»Ist dies dein Garten, mein Sohn?« fragte ich freundlich, um den kleinen ungeschlachten Patron zu besänftigen.

»Mein Garten und mein Hof, ich bin der Herr vom Jesuitenhofe und frage dich nochmals, was du hier willst?« wiederholte der Knabe mit komischem Selbstvertrauen.

»Mein lieber Herr vom Jesuitenhofe,« erwiderte ich noch freundlicher, wodurch der Knabe offenbar viel milder gestimmt wurde, »die Nachtigallen sind längst fort, ich kann also keine mehr fangen, und um Äpfel zu stehlen, hätte ich vier Wochen früher kommen müssen; nur ausruhen will ich mich, mit deiner gütigen Erlaubnis, denn ich bin sehr müde.«

Der Knabe sah sich verlegen um; dann aber beschloß er, den Großmütigen zu spielen.

»Bist du müde, so hast du auch wohl Hunger?« fragte er verschmitzt.

»Ich bin hungrig, das ist wahr, aber du siehst, mein lieber Herr vom Jesuitenhofe, daß ich auch etwas zu essen habe.«

»Trocknes Brot?« fragte der Knabe lachend, »trocknes Brot gebe ich nicht einmal meinen Hunden; wenn du mir versprichst, mich nicht zu verraten, so will ich dir ein Stück Wurst und ein paar Taschen voll Äpfel holen, auch einen Käse, wenn du ihn haben willst; die Käse sind für mich noch am leichtesten zu erreichen.«

»Gut, gut, mein liebes Herrchen, ich nehme mit Dank an, was es auch immer sei, und daß ich dich nicht verrate, darauf gebe ich dir mein Ehrenwort.«

»Kannst mir auch ein paar Geschichten erzählen,« versetzte der Knabe, mich noch einmal aufmerksam betrachtend; »du siehst gerade so aus wie einer, der recht tolle Streiche zu erzählen weiß. Ich lege mich dann zu dir, und damit du mir nichts zuleide tust, bringe ich meinen Pandur mit.«

»Wer ist dein Pandur?« fragte ich ängstlich, denn es war mir um nichts weniger als um noch mehr Gesellschaft zu tun.

»Pandur ist mein Hund; er ist ebenso alt wie ich, aber viel größer als ich, das heißt, wenn er sich auf die Hinterfüße aufrichtet; dabei ist er so stark, daß er dich auf meinen Befehl nicht nur zerreißen, sondern sogar auffressen würde.«

»Gut, mein Herr vom Jesuitenhofe, bringe deinen Pandur mit, und Geschichten will ich dir erzählen, wie du sie in deinem Leben noch nicht schöner gehört hast.«

Der Knabe schritt davon. Neugierig blickte ich ihm nach. Daß er, um mir als vorgeblicher Herr des Gartens und des Hofes Speisen bringen zu können, unstreitig in die Speisekammer seiner Mutter einbrechen mußte, diente mir zur Beruhigung. Er hatte dadurch nicht weniger einen Verrat zu fürchten als ich, nur mit dem Unterschiede, daß bei mir die Freiheit, bei ihm dagegen bloß die unversehrte Haut seines auffallend breiten Rückens auf dem Spiele stand.

Eine halbe Stunde verstrich. Ungeduldig spähte ich bald nach dem Leinpfad hinüber, wo ich jeden Augenblick Fräulein Brüsselbach zu bemerken hoffte, bald nach dem altertümlichen Gehöft hinauf, von woher ich den wilden Knaben erwartete, und immer mehr peinigte mich der Gedanke, daß mein Geschick nunmehr vollständig von der Laune eines ziemlich unbändigen Kindes abhängig sei.

Aber mein junger Freund kam in Begleitung eines großen Hundes die Treppe heruntergesprungen, und spornstreichs den Abhang hinunterlaufend, kroch er danach von der dem Rhein zugekehrten Seite, wo er also vom Hofe aus nicht beobachtet werden konnte, samt seinem Pandur zu mir in mein Versteck.

»Ich habe alles,« sagte er mit triumphierendem Ausdruck, indem er aus seinem, um die Hüften mittels eines Bindfadens zusammengewürgten blauen Staubhemde die versprochenen Speisen hervorholte und vor mir niederlegte.

Ich dankte ihm, fügte aber lächelnd hinzu: »Weißt du auch, daß es sehr unrecht ist, der Mutter Speisen zu entwenden, um sie fremden Leuten zu schenken?«

»Ich bin Herr vom Jesuitenhofe,« antwortete der Wildfang, »und wären diese Sachen leicht zu erlangen gewesen, dann hätte es mir kein Vergnügen gemacht, sie dir zu bringen; sage mir mal, kannst du rauchen?«

»Ich kann wohl rauchen,« erwiderte ich, mit Wohlgefallen den mächtigen Hund betrachtend, der jedes Wort aus seines jungen Gebieters Augen herauszulesen schien; »allein ich muß gestehen, daß ich keine sonderliche Neigung dazu verspüre.«

»Na, rauche nur, ich habe dir ein paar Dinger mitgebracht,« versetzte der Knabe, indem er zwei Zigarren aus seinem Stiefel zog.

Eh' ich etwas erwidern konnte, hörte ich, daß vom Hofe ans jemand nach dem Knaben rief.

»Ich glaube, sie rufen dich,« sagte ich leise, »es wäre doch wohl besser, du gingst, damit sie nicht kommen und entdecken, daß du in deiner Mutter Speisekammer eingebrochen bist.«

»Hm, ich habe keine Angst und bleibe solange fort, bis alle glauben, ich sei in den Rhein gefallen; wenn ich dann plötzlich wieder komme, tut mir kein Mensch etwas vor lauter Freude, daß ich da bin.«

Das Rufen war wieder verstummt, doch nur auf kurze Zeit; denn nach wenigen Minuten erblickte ich zu meinem Entsetzen einen Herrn und eine Dame, die eilfertig in den Garten niederstiegen und geraden Weges auf den Rhein zulenkten. Sie sprachen eifrig miteinander, und deutlich gewahrte ich in dem Wesen der jungen Frau die Anzeichen großer Besorgnis.

»Der Junge nimmt gewiß noch einmal ein unglückliches Ende,« unterschied ich endlich die ängstliche Stimme der Mutter, »ich kann ihn nicht mehr bändigen, er tut, was er will, und weder Güte noch Strenge helfen bei ihm.«

»Den trifft kein Unglück,« entgegnete der Herr, ein kleiner Mann mit militärischem Anstande, »er wird sich wieder in die Gesellschaft von Gassenbuben begeben haben und mit blau geschlagenen Augen heimkehren.«

Hier rief der Herr meinen kleinen Gefährten laut bei Namen, doch erlangte er dadurch weiter nichts; als daß dieser sein Gesicht zu einem lustigen schadenfrohen Lachen verzog und Pandur am Halsband ergriff.

»Hat er den Hund bei sich?« fragte darauf der Herr seine Gattin.

»Ich glaube es,« antwortete diese mit wachsender Angst.

In demselben Augenblick schritten sie um die mir Schutz gewährenden immergrünen Bäume herum, und zugleich gewahrte ich zu meinem Entsetzen, daß Pandur sich bestrebte, durch das Wedeln eines kleinen Überrestes von Schweif seine Freude an den Tag zu legen.

»Pandur!« rief der Herr jetzt laut aus, dem Ruf ein helles Pfeifen nachsendend, und gleichzeitig erfolgte die Katastrophe, die ich vorhergesehen hatte.

Pandur wälzte sich nämlich, trotzdem der Knabe sich an sein Halsband festgeklammert hatte, unter den niedrig hängenden Zweigen herum, und die Last noch eine Strecke mit sich fortschleifend, kroch er ins Freie hinaus, wo er seinen Gebieter mit bärenhaften Liebkosungen zu erdrücken drohte.

»Wo Pandur ist, befindet sich der Junge nicht weit,« sagte der Herr lachend, als der Knabe sich von den Zweigen losmachte und beschämt hinter seine Mutter schlich, die denn auch wirklich in der Freude des Wiedersehens die angekündigte Strafe vergaß. »Aber wen haben wir hier noch?« fuhr der eigentliche Besitzer des Jesuitenhofes fort, sobald er mich entdeckte.

»Seien Sie großmütig, beachten Sie mich nicht; ich bin der in Frankfurt entsprungene Student, auf den überall gefahndet wird,« sagte ich, um von dem Knaben nicht verstanden zu werden, mich der französischen Sprache bedienend; denn ich sah ein, daß mir nur noch eine offene Erklärung übrig blieb.

»Und du hast einem fremden Menschen, der ohne Erlaubnis in unsern Garten eingedrungen ist, Speisen zugetragen?« wendete der Herr sich an seinen Sohn, während ich langsam aus meinem Versteck kroch,

»Er war hungrig,« antwortete der Knabe trotzig.

»So, also hungrig war er?« fuhr der Vater in strengem Tone fort, »ich verbiete dir ein für alle Mal, ohne Erlaubnis fremden Menschen irgend etwas zuzustellen. Augenblicklich gehe ins Haus zurück und laß dich in den ersten zwei Stunden nicht mehr vor der Türe sehen! Und ihr, mein Freund,« wendete er sich sodann an mich, »seid so gut und verlaßt meinen Garten auf demselben Wege, auf dem ihr hereingekommen seid. Wenn Ihr hungrig wart und redliche Absichten hegtet, hättet Ihr frei ins Haus kommen können – aber heimlich eindringen und meine Kinder zum Unrecht verleiten –«

»Er hat mich nicht verleitet!« versetzte der Knabe trotzig, indem er sich umschaute.

»Fort ins Haus!« befahl der Vater zornig, und im nächsten Augenblick war der kleine Wildfang auf dem Hofe verschwunden.

Bei der grausamen Anrede des Herrn sank mir das Herz in der Brust. Trostlos blickte ich in die mitleidigen, blauen Augen der jungen, schönen Frau, als der Herr mich wieder anredete.

»Beruhigen Sie sich,« begann er wohlwollend, indem er mir die Hand reichte, »wenn Sie wirklich der Herr Wandel sind, von dessen Flucht alle Zeitungen erzählen, so will ich am allerwenigsten die Hand dazu bieten, daß man einen so jungen Mann aufs neue verhaftet. Ich wünschte nur meinen Sohn über Ihre Person zu täuschen. Kinder sind als Mitwisser von Geheimnissen gefährlich. Gelingt es mir, Sie unbemerkt in mein Haus zu schaffen, so dürfen Sie sich als gerettet betrachten – aber wie ist es, besitzen Sie Papiere? Sie sind ja ganz durchnäßt und ohne Hut?«

Ich beschrieb darauf mit kurzen Worten meine Flucht, meine Verfolgung und wie ich in den Garten gekommen war. Schließlich bat ich, nur solange in meinem Versteck verweilen zu dürfen, bis die Irrsinnige mir meine Brieftasche wieder eingehändigt haben würde.

Die menschenfreundlichen Leute zeigten kein Mißtrauen; im Gegenteil, ihre Worte waren die der aufrichtigsten Teilnahme, und als sie sich von mir entfernten, geschah dies auf dem Weg durch eine Scheune in das Kelterhaus, in das sie mich hineinzuschmuggeln dachten, um mich von etwaigen unberufenen Zeugen frei zu halten.

Sie waren nicht lange gegangen, als ich endlich durch das Gebüsch hindurch Fräulein Brüsselbach entdeckte wie sie langsam auf dem Leinpfad einhergeschritten kam und von Zeit zu Zeit aufmerksam in das Weidendickicht hineinspähte.

Aber erst als sie bei dem Gartentor eingetroffen war, wagte ich den Schutz der Bäume zu verlassen und mich ihr zu nähern. Meine Flucht hatte sie mächtig aufgeregt und alle ihre verwirrten romantischen Ideen auf einmal wach gerufen. Wenigstens sprach dies aus ihren leeren und dabei doch seltsam glühenden Blicken.

»Herr Graf, hier ist Ihre Brieftasche,« sagte sie feierlich, indem sie mir meine Papiere durch das Gittertor darreichte, »betrachten Sie sich als gerettet«.

»Ich danke Ihnen von ganzem Herzen, mein liebes Fräulein, « unterbrach ich die Unglückliche und versuchte, ihr einen Taler in die Hand zu drücken.

»Das Geschick läßt sich nicht bestechen, junger Mann,« versetzte die Irrsinnige, das Geld zurückweisend; es war das erste Mal, daß sie es unterließ, mir irgend einen schwülstigen Titel beizulegen; »bleiben Sie treu und beharrlich, verlieren Sie nicht die Geduld, und die Fahne des Sieges wird Ihnen dereinst dennoch werden. Hoffen Sie, junger Mann, und gedenken Sie meiner; .

»Die Tochter ihres Vaters,
Sie folgt dir zum Altar.«

Als Fräulein Brüsselbach das letzte Wort gesprochen hatte, wendete sie sich, ohne eine Entgegnung von mir abzuwarten, kurz um, und mit aufrechter Haltung, das grüne Barett kühn aufgepufft, den gestickten Rock in malerische Falten gezogen, schritt sie schweigend davon.

Sinnend schaute ich dem armen Geschöpf nach, bis es meinen Blicken entschwand.

Es war das letzte Mal, daß ich mit der Unglücklichen zusammentraf, ich hörte nie wieder von ihr; aber oft noch, wiederhole ich mir in Gedanken die seltsamen Poesien, die Ergüsse ihres kranken Gemütes, die sie so gern mit ihrer näheren Umgebung in Verbindung zu bringen suchte. –

Wie der wohlwollende Herr mir versprochen hatte, geschah es. Unbemerkt gelangte ich in die Scheune, von dieser in das Kelterhaus und in eine alte unbewohnte Gärtnerstube, und zum erstenmal seit meiner Abreise von Frankfurt erfreute ich mich der Aussicht, in einem guten Bett schlafen zu dürfen.

Ich wurde mit Kleidung und Wäsche versehen, und als ich mich dann gegen Abend auf mein Lager warf, da wurden meine trüben Gedanken schnell abgeschnitten, indem die Erschöpfung mich übermannte und ein fester, traumloser Schlaf mir die Augen schloß.

Lange vor Anbruch des Tages wurde ich indessen wieder geweckt. Erschreckt fuhr ich empor, allein nur der Besitzer des Jesuitenhofes stand vor mir, mich fragend, ob ich mit Pferden umzugehen verstehe.

»Ich habe meinem Kutscher die Erlaubnis erteilt, sich auf einige Tage zu seiner Familie nach Rheindorf zu begeben,« sagte er, nachdem ich auf seine Frage bejahend geantwortet hatte, »und da wollte ich Sie ersuchen, sich in den Rock meines Kutschers zu werfen und mich nach Köln und von dort nach Aachen zu fahren. Von Aachen aus können Sie sehr leicht über die nahe Grenze gelangen.«

Natürlich ging ich auf dieses Anerbieten ein, und eine Stunde später saß ich im blauen Rock, in schwarzem Sammetkragen und silberner Tresse auf dem Kutschersitz einer leichten, offenen Droschke, in der einen Hand die Peitsche, in der andern die Zügel, und in scharfem Trabe rollten wir von dem Hof hinunter, durch einen großen Garten auf die nach Köln führende Chaussee zu.

In Köln rasteten wir nicht länger, als die Sorge für die Pferde erheischte, und bereits am nächstfolgenden Abend trafen wir in Aachen ein.

Unangefochten, wie ich als Kutscher meines mit Wege- und Wasserbauten beschäftigten Gastfreundes geblieben war, gelang es mir auch, die nahe Grenze zu erreichen, und als ich diese überschritten hatte, genügten meine Papiere vollkommen, mich gegen jede Verfolgung sicher zu stellen.

Von Havre aus, und nachdem ich auf einem in den nächsten Tagen nach Amerika absegelnden Schiffe einen Platz für mich ausbedungen hatte, schrieb ich an meinen Vormund und nach Frankfurt, um diejenigen, die meiner mit warmer Teilnahme gedachten, über mein Geschick zu beruhigen. Auch das Wanderbuch und die Pfeife sandte ich dem ursprünglichen Besitzer zurück.

Die Vorbereitungen zur Reise und das fremdartige Gewirre in der so reich belebten Hafenstadt, durch das ich mich gleichsam hindurch wühlen mußte, hinderten mich, viel über meine Lage und meine Aussichten nachzudenken. Erst als die Meereswogen gegen die schwarzen Planken des Schiffes brandeten und sich schäumend überschlugen und als in der Ferne das Festland wie ein schmaler Nebelstreifen vor meinen Blicken verschwand, beschlich mich wieder das Gefühl einer gänzlichen Vereinsamung, das mich seitdem nie wieder verlassen hat.

Der Schnee schmilzt auf den Höhen; unendliche Eislasten wälzt der Missouri dem Golf von Mexiko zu, und unter der Erdoberfläche regt sich organisches Leben, um sich von den ersten warmen Frühlingstagen ans Tageslicht locken zu lassen.

Der Winter ist zu Ende; nur noch einige Wochen, und ich breche mit meiner ganzen Habe auf, um auf dem nächsten Handelsposten die Erfolge meiner Winterjagden zu verwerten und den Sommer und Herbst in den Prärien zu verbringen.

Wie ganz anders und um wieviel freundlicher ist mir dieser Winter, im Vergleich mit den früheren verstrichen!

Das Niederschreiben des ersten Teils meiner Lebensgeschichte gereichte mir nicht nur zur Unterhaltung und zum Trost in meiner Einsamkeit, sondern gewährte mir auch einen mit Freude und Wehmut eng durchwehten Genuß.

Oft glaubte ich, jene Zeiten wirklich noch einmal zu durchleben; Menschen und Begebenheiten traten mir lebhaft vor die Seele, und die den jüngern Jahren entsprechenden Gefühle ergriffen wieder Besitz von mir. ,

Meine Jugend mit all ihren holden Träumen ist zerstoben, und dem mit dem Ernst des Lebens vertraut gewordenen Manne blieb nichts als die Erinnerung. Aber die Erinnerung hat einen milderen, weniger schmerzhaften Charakter angenommen, seit ich meine wechselvollen Erlebnisse in geordneter Weise niederzuschreiben vermochte.

Es ist ein umfangreiches Manuskript geworden, und um keinen Preis möchte ich es verlieren. Ich will es daher zurücklassen und, da ich den nächsten Winter ebenfalls wieder hier in meiner Abgeschiedenheit zu verleben gedenke, an einem sichern Ort vergraben.

Sollte der Tod mich auf meinen nicht ungefährlichen Jagdzügen ereilen, so weiß wenigstens meine arme Mandanen- Waise, wo ich meinen Schatz aufbewahrt habe. Sie wird ihn zu finden wissen und ihn einem Missionar zur Verfügung stellen, zugleich aber auch die fehlenden Blätter, die mein Ende betreffen, durch mündliche Berichte ergänzen können. Und Schanhatta wird gewiß an meinem Grabe weinen.

Armes Kind, es wäre vielleicht meine Pflicht, dich im Laufe dieses Sommers auf einer Mission unterzubringen, um dich der Segnungen der Zivilisation teilhaftig werden zu lassen; ist aber auch die verfeinerte Zivilisation wirklich ein Segen für dich? Und dann, wer sollte mir in meinen kleinen häuslichen Verrichtungen beistehen, mich auf meinen Ausflügen zu meinen Pferden und nach den Biberfallen begleiten? Wer sollte meine Mokasins so schön sticken und meine wildledernen Kleidungsstücke ergänzen? Wer endlich sollte mir in den Dämmerungsstunden oder vor dem flackernden Feuer, wenns draußen stürmt und schneit, durch kindliches Geplauder die Zeit verkürzen? Nein, gute Schanhatta, ein Jahr kannst du immerhin noch bei mir bleiben; du zählst höchstens dreizehn Winter, außerdem lernst du ja auch von mir. Hast du aber erst dein mutmaßlich vierzehntes Jahr zurückgelegt, dann, ja dann will ich mich gewiß von dir trennen und dich der väterlichen Fürsorge eines presbyterianischen Geistlichen übergeben, und die größte Freude soll es mir gewähren, dich nach Jähren als die gebildete Gattin eines braven Grenzbewohners wiederzufinden.

So schließe ich denn meine Winterarbeit, um sie auf wenigstens sieben Monate dem Schoße der Erde anzuvertrauen. Mitten in meiner Hütte will ich sie vergraben, gerade da, wo jetzt das Feuer brennt, und die letzte Zeit meines Aufenthaltes hindurch über meinem Manuskript den glimmenden Kohlenhaufen schüren. Auf einer alten Feuerstelle suchen Indianer und Wölfe nicht leicht nach vergrabenen Schätzen; selbst die bösen Geister der Eingeborenen verlieren vor einem Aschenhaufen die Witterung und werden daher mein »sprechendes Papier« unangetastet lassen.

Um aber auch in der Erde das Papier vor Vernichtung durch Feuchtigkeit und Insekten zu bewahren, werde ich es mit einer vierfachen Hülle von am Feuer gehärtetem Büffelleder und Moschus umgeben; und Moschus besitze ich ja in Fülle.

Also auf Wiedersehen im Spätherbst!


 << zurück weiter >>