Balduin Möllhausen
Die Mandanen-Waise
Balduin Möllhausen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

17

Der Abschied

Erst in der Dämmerungsstunde kehrte Anton zurück. Die Eindrücke, die er bei der Beerdigung empfangen hatte, waren durch die Besorgnis für meine Sicherheit verwischt worden. Wie mir aus seinen verworrenen Berichten klar wurde, vermuteten diejenigen, die ich als meine Feinde betrachten mußte, mit vieler Bestimmtheit, daß ich mich in der Nähe verborgen halte. Ihr Verdacht war durch die rauhe Art, in der mein Vormund sie von Johannas Leiche fortgewiesen und sich sogar, wenn auch vergeblich, gegen ein katholisches Leichenbegängnis gesträubt hatte, noch verstärkt worden.

Nach der Beerdigung hatte auch mein Vormund Anton mit sich nach Hause genommen, vorgeblich um ihm einige Speisen zu verabreichen, und ihm beim Abschied einen Papierstreifen in die Hand gedrückt mit der Weisung, denselben lieber zu verschlingen, als ihn in fremde Hände fallen zu lassen.

»Unglücklicher, nur ein Wunder kann Dich retten,« stand auf dem Zettel, »wenn Dir an Freiheit und Leben nichts mehr liegt, so solltest Du nicht vergessen, daß mir darum zu tun ist, Dich fern und sicher zu wissen. Man kennt Dein Versteck; Gerichtspersonen befinden sich bereits auf dem Wege zu Dir. Eile in nächster Richtung an den Rhein, nimm das erste beste Boot und fliehe stromabwärts. Für das Boot wird bezahlt werden.«

Diese Nachricht, die mich zu jeder ändern Zeit in Schrecken versetzt haben würde, überraschte mich kaum noch. Ich hatte plötzlich gelernt, meine Lage mit der größten Ruhe zu betrachten und mit kalter Überlegung über den einzuschlagenden Weg mit mir zu Rate zu gehen.

Es war noch zu früh, die Flucht offen fortzusetzen, indem von der Arbeit heimkehrende Leute die Landstraße noch belebten; inwieweit aber der Wald der abgeschlossenen Schlucht und gar erst der Felsenhöhle vorzuziehen sei, erfuhren wir nach kurzer Wanderung, als wir, Anton den Raben auf der Schulter, eben im Begriff standen, aus dem Paß herauszubiegen.

Wir unterschieden nämlich beide zu gleicher Zeit Tritte und murmelnde Stimmen von sich nähernden Männern, deren Ziel, nach der Richtung des Schalls zu schließen, nur unsere Schlucht sein konnte.

Die verdächtigen Leute schritten übrigens mit sehr wenig Vorsicht einher und sprachen sogar mit halblauter Stimme zueinander. Sie übertäubten dadurch das Geräusch, das ich erzeugte; indem ich Anton mit Gewalt nach der uns zunächst liegenden Felswand hinüberzog und ihn dort zwang, sich zwischen den Felstrümmern an meine Seite niederzulegen. Ich hatte darauf nur noch soviel Zeit, ihm das Wort »Jakob« zuzuflüstern, als die Vordersten des Zuges in die Schlucht einbogen und mir zugleich ihre Absicht, mich in meinem Versteck zu überraschen, verrieten.

Ein eigentümliches Klirren belehrte mich, daß sich zwei oder drei bewaffnete Gendarmen bei der Gesellschaft befänden.

Außer ihnen glaubte ich auch noch die Schatten von drei Männern zu erkennen, von denen der eine eine kurze Strecke weit vorausging. Alle bewegten sich aber so dicht an mir vorüber, daß wir uns gegenseitig die Hand hätten reichen können, ich also die zwischen ihnen gewechselten Worte deutlich verstand.

»Achtet auf den Boden,« sagte der Führer des Zuges, an dessen Stimme der wilde Andres nicht zu verkennen war, »es liegen hier viele Steine umher, und dabei ist es so verdammt dunkel, daß man die Hand vor den Augen nicht sieht.«

»Ist dies die bezeichnete Schlucht?« fragte eine andere Stimme, offenbar der kommandierende Gendarm.

»Ja, dies ist die vermaledeite Schlucht,« antwortete Andres, »und weit sind wir nicht mehr von der Stelle entfernt, auf der mein verrückter Bruder den verdorbenen Studenten untergebracht hat.«

Damit trat er wieder an die Spitze des Zuges; die übrigen folgten ihm in der alten Ordnung, und einige Minuten später verhallten ihre Schritte hinter der Biegung des Passes.

»Anton, mein Freund, auch wir haben keine Zeit zu verlieren,« wendete ich mich jetzt flüsternd an meinen getreuen Begleiter; »komm, ich habe noch einen schweren Gang vor mir, ehe ich mich an den Rhein begebe.«

Ich erhob mich darauf, doch erhielt ich keine Antwort, dagegen vernahm ich, daß Anton heftig schluchzte, und zugleich ein heiseres, schwaches Röcheln, das von dem Raben auszugehen schien.

»Komm, Anton, beeile dich,« sagte ich dringender, »wir müssen fort, denn finden sie dein Schloß leer und und geraten sie auf meine Spur, so bin ich verloren. Komm Anton, ermanne dich, die Hauptgefahr ist jetzt vorüber, komm, oder ich muß allein gehen.«

»Nein, mein lieber, junger Herr, ich gehe mit,« entgegnete Anton schnell emporspringend, »ich gehe mit, aber mein armer, armer Jakob.«

»Was ist mit deinem Jakob?« fragte ich, indem ich mich der Landstraße zu in Bewegung setzte.

»Lieber junger Herr, ich habe auf ihm gelegen und ihm den Schnabel und die Kehle zugedrückt. Noch lebt er zwar, ich trage ihn auf dem Arm. Aber ich habe ihn so sehr, so sehr gedrückt; er hätte sonst die schlechten Menschen ausgeschimpft und sie hätten den lieben jungen Herrn mit ihren Säbeln totgeschlagen. Armer, armer Jakob, wenn er auch wieder auflebt, so wird er mich für schlecht halten und mir ewig zürnen.«

»Zeige doch her das Tier,« sagte ich, indem wir rüstig durch den dunklen Wald dahineilten. Die treue Anhänglichkeit Antons, die sich deutlich darin bekundete, daß er mir zuliebe sogar seinen Raben zu opfern nicht zögerte, rührte mich so tief, daß ich alles andere darüber vergaß und nur an die Erhaltung des halberstickten Vogels dachte.

Er wollte mir diesen eben reichen, als der Vogel plötzlich seine Flügel geräuschvoll zusammenschlug und ein mürrisches »Spitz – Spitzbu – Spitzbube« sich seiner Kehle entrang.

»Er lebt, er lebt,« rief Anton entzückt aus, seinen Liebling zärtlich an seine Brust drückend.

»Frau – koch – Kaffee, Frau koch Kaffee, Jakob, Anton, Spitzbube, hahaha, Kikeriki!« rezitierte der Rabe, wie um zu prüfen, ob sein Gedächtnis bei der rauhen Behandlung gelitten habe.

Anton sagte nichts weiter, in seinem verkrüppelten Arme hielt er den Vogel, und ohne die Geschwindigkeit seiner Bewegungen dabei zu mäßigen, herzte er ihn leise. Ich aber dachte darüber nach, wie ich dem braven Burschen einen Beweis meiner Dankbarkeit liefern könne.

»Anton,« begann ich nach einiger Zeit, »du weißt, Fräulein Johanna, der du heute in meinem Namen die Blumen auf den Sarg gelegt hast, war mir das Liebste, was ich auf der Welt besaß.«

»Ich weiß es, lieber, junger Herr; der arme Krüppel liebte das schöne, gute Fräulein ebenfalls, vielmehr als seinen Jakob.«

»Johanna, Johanna, Johanna,« sagte der Rabe, der sich wieder erholt hatte, als ob er Antons Worte habe bekräftigen wollen.

»Nächst der armen entschlafenen Johanna liebe ich den Herrn Oberstleutnant am meisten,« fuhr ich nach einer kurzen Pause fort, »er ist stets mein Wohltäter gewesen und liebt mich, wie ein Vater nur seinen Sohn lieben kann.

»Aber gleich nach dem Oberstleutnant kommst du an die Reihe. Du nennst dich häßlich und ungestalten; mag die Natur dich auch vernachlässigt haben, magst du nicht im freien Gebrauch gesunder Gliedmaßen sein, alle diese Mängel schwinden aber in nichts zusammen, wenn man sie mit deinem Gemüt vergleicht. Ich liebe dich wie einen Bruder! Diese Versicherung guter Anton, ist alles, was ich, der arme, verfolgte Flüchtling, dir in diesem Augenblick bieten kann. Laß dich nicht gelüsten, nach der Klugheit anderer Menschen, bleibe ein Kind dein ganzes Leben hindurch, trage mit Geduld dein trauriges Los und gedenke meiner stets als deines besten und aufrichtigsten Freundes.«

Ich hatte, während wir nebeneinander hinschritten, meine Hand auf Antons Schulter gelegt und fühlte, daß er bei meinen Worten heftig zuckte, wie jemand, der gegen eine in Schluchzen sich äußernde Gemütsbewegung ankämpft. Als ich schwieg, besann er sich eine Weile.

»Aber wo wollen der junge Herr hin?« fragte er plötzlich in anderm Tone, als ich, nachdem wir die Landstraße erreicht hatten, auf die Oberförsterei zulenkte.

»Ich sagte es dir bereits, ich habe noch einen schweren Gang vor mir, ich muß Abschied von meiner toten Braut, von dem sie deckenden Grabhügel nehmen. Aber du bist müde, Anton, warte lieber hier auf mich, es ist ohnehin noch zu früh, um jetzt schon an den Rhein zu wandern, und mir tut das Gehen wohl.«

»Anton ist nicht müde,« versetzte der treue Bursche, indem er, um mir die Wahrheit seiner Aussage zu beweisen, einige Schritte voraushinkte; »Anton bleibt bei dem jungen Herrn, so lange er ihn noch sehen kann.«

Nach einer halbstündigen Wanderung erreichten wir das Kirchdorf. Wir gebrauchten die Vorsicht, in weitem Bogen um das Dorf herumzuschleichen; denn so friedlich auch die kleinen, matt erleuchteten Fenster zu mir herüberschimmerten, ich konnte nicht wissen, ob nicht hinter jeder Ecke, in jedem dunklen Winkel der Verrat auf mich lauerte.

In meiner fieberhaften Aufregung hatte ich nicht darauf geachtet, daß kurz vorher die Tür des Pfarrhauses geöffnet und wieder geschlossen worden war, ebensowenig bemerkte ich, daß sich im Schatten der Mauer mir ein Mann näherte. Anton, der mir auf dem Fuße folgte, war dies ebenfalls entgangen. Erst der wachsame Rabe machte uns darauf aufmerksam, indem er ein ärgerliches »Spitzbube« ausstieß.

Zum Umkehren war es zu spät, denn der Mann befand sich kaum zwei Schritte weit von mir. Ich wollte höflich grüßend vorüberschreiten, als eine bekannte Stimme mir plötzlich das Blut in den Adern förmlich erstarren machte.

»Sieh da, sieh da, mein guter Anton, dein Rabe hat dich verraten, was führt dich noch so spät hierher? Wie befindet sich deine brave Mutter?« ertönte es mit gleisnerischer Freundlichkeit von Bernhards Lippen.

Im nächsten Augenblick aber hatte ich ihn am Arm ergriffen, und meinen Mund seinem Ohr nähernd flüsterte ich ihm zu: Gustav Wandel ist hier, um Ihnen Lebewohl zu sagen.«

Ich fühlte, daß er unter meinem Griff und bei dem ersten Ton meiner Stimme zusammenschrak, allein er war zu sehr Bösewicht, um nicht schnell wieder Herr seiner selbst zu werden. Mochte er auch im ersten Augenblick wirklich von mir das Schlimmste befürchtet haben, so mußte er doch schnell zu der Überzeugung gelangen, daß er nur seine Stimme etwas lauter zu erheben brauchte, um die Bewohner der nächsten Häuser herbeizurufen.

»Armer, unglücklicher Freund, wohin ist es mit Ihnen gekommen?« sagte er mit erheuchelter Teilnahme, »meine fast im letzten Augenblick an Sie abgesandte Warnung hat sie nicht mehr erreicht, oder es wäre anders geworden. O, es hat ein trauriges Mißgeschick über dem ganzen Unternehmen gewaltet, und zu spät sehen wir ein, daß es nicht immer Segen bringt, phantastischen Ideen und jugendlich hochfliegenden Plänen blindlings zu huldigen.«

»Haben Sie ausgesprochen?« fragte ich jetzt, bebend vor verhaltenem Zorn, und fester drückten sich die Nägel meiner Finger in sein Fleisch.

»Armer, armer Freund,« entgegnete der Schurke mit innigem Ton, »Ihre Aufregung ist natürlich, Sie haben mich verkannt, Sie mußten mich verkennen. Um so glücklicher macht es mich daher, noch Gelegenheit zu finden, mich vor Ihnen von einem schwarzen Verdacht reinigen zu können. In der Tat, ich täuschte mich nicht, als ich meine Schritte nach dem Friedhofe lenkte; eine innere Stimme sagte mir, daß Sie am Grabe Ihrer Braut weilten.«

»Wohlan, treten wir vor das Grab meiner schändlich gemordeten Braut hin,« versetzte ich gefaßter, indem ich ihn mit Gewalt durch das Tor zog, »vor dem Grabe meiner Braut will ich Abschied von Ihnen nehmen, und dann mögen Sie hingehen und nach neuen Opfern ausschauen.«

Nach einigen Minuten trafen wir bei dem Grabhügel ein.

Stumm blickte ich darauf nieder; meine Tränen waren längst versiegt, aber in meinem Herzen fühlte ich ein so unsägliches Weh, daß ich die ganze übrige Welt darüber vergaß. Erst das murmelnde Geräusch, mit dem Bernhard betete, brachte mich wieder zum Bewußtsein.

»Stören Sie nicht durch Ihre Gebete die Ruhe einer Heiligen,« hob ich an, indem ich dicht vor den Verräter hintrat, »belasten Sie Ihre schwarze Seele nicht noch mehr; versuchen Sie auch nicht, mir zu entschlüpfen und dadurch meinen schlummernden Durst nach Rache zu wecken. Hören Sie mich zu Ende, ohne mich zu unterbrechen, und meine Hände sollen sich nicht an Ihnen besudeln.«

»Vergib ihm, Allmächtiger –«

»Schweigen Sie,« versetzte ich, über diese Lästerung kaum noch meiner gärenden Leidenschaften mächtig, und zugleich schwang ich meinen schweren Wanderstab über seinem Haupte.

Bernhards Zähne knirschten aufeinander, der Rabe lachte wie ein Teufel und stieß ein mißtönendes Krähen aus, Anton drängte sich zitternd an meine Seite, ich aber, meine Heftigkeit bereuend, hatte meine Überlegung wiedergewonnen.

»Hier vor dem Grabe eines grausam gemordeten Engels rufe ich Gott zum Zeugen der Anklagen an, die ich gegen Sie erhebe,« begann ich nach einer kurzen Pause. »Ich klage Sie an, mit nichtswürdiger Berechnung mich in die demagogischen Umtriebe verwickelt und dann schändlich verraten zu haben. Ich klage Sie an, die arme Waise, nachdem Sie diese meines Schutzes beraubt hatten, durch Mitteilungen über das unglückliche Los ihrer Eltern in jenen traurigen Seelenzustand versetzt zu haben, der es Ihnen erleichterte, Sie der Religion zu entfremden, in der sie nach dem ausdrücklichen Willen ihrer verstorbenen Eltern erzogen wurde.«

»Nie machte ich dem armen Mädchen dergleichen Mitteilungen; ich rufe Gott und alle Heiligen zu Zeugen auf,« unterbrach mich Bernhard mit dem Ausdruck unumstößlicher Wahrheit.

»Schweigen Sie,« herrschte ich ihm zu, »und gedenken Sie meiner Drohung; was nicht durch Sie geschah, das geschah durch ihren vorgeblichen Onkel, den Geistlichen, der drei Tage vor Johannas Tode zum erstenmal auf der Oberförsterei erschien, denselben Geistlichen, der vor Jahren Johannas Eltern ins Verderben trieb, um bereits damals das hilflose Kind, als Tochter einer Katholikin, mit seinen Banden zu umstricken. Sie sehen, ich bin von allem genau unterrichtet.«

»Es wäre mir ein Leichtes, Sie hier auf der Stelle zu strafen, Ihre verbrecherische Seele vor den letzten Richter hinzusenden, denn mir, dem geächteten Flüchtling, kann nichts daran liegen, ob mein Leben um einige Jahre früher oder später endet; doch fürchten Sie nichts, ich will das Rächeramt nicht übernehmen. Nicht einmal einen Fluch gebe ich Ihnen mit; ich würde nicht im Sinne derjenigen handeln, deren Geist uns vielleicht in diesem Augenblicke umschwebt. Das Bewußtsein Ihrer Tat wird sich aber einst selbst an Ihnen rächen, und wenn es eine Gerechtigkeit unter dem Himmel gibt, so werden auch Sie Ihrer Strafe nicht entgehen. Fort jetzt von hier, Sie Auswurf der Hölle, fort von hier, nehmen Sie meine Verachtung mit sich und eilen Sie, Leute herbeizuholen, die sich meiner bemächtigen, denn in der nächsten Zeit werde ich noch an dieser geheiligten Stätte zu finden sein.«

Bei diesen Worten wendete ich mich dem Grabhügel zu. Bernhard blieb noch eine Weile stehen; »Gott, mein Gott, vergib ihm, er weiß nicht, was er sagt,« sprach er dann laut vor sich hin, indem er langsam davonschlich.

»Spitzbube, hahaha, Spitzbube,« krächzte der Rabe, als Anton dem Verräter in einiger Entfernung folgte.

Ich achtete nicht weiter darauf; überwältigt von meinem Schmerz um die Dahingeschiedene setzte ich mich auf den Grabhügel nieder, bis der zurückkehrende Anton mir zuflüsterte: »Der schlechte Mann ruft Leute, o, sie werden den lieben, guten Herrn fangen! Er ging in ein Haus und in noch ein Haus, und zwei Männer waren bei ihm, und dann gingen sie in ein anderes Haus.«

Da nahm ich eine Handvoll Erde von dem Grabhügel und verbarg sie in meine Brusttasche, das einzige Andenken von meiner Johanna, und bald darauf schlichen wir an der Kirchhofsmauer herum wieder in das Feld hinaus.

»Wo werde ich die ersehnte Ruhe finden?« fragte ich mich, als wir endlich wieder in die Landstraße einbogen. Eine Antwort darauf hatte ich nicht; stumm und in mich gekehrt schritt ich dahin, sogar die in tiefer Stille daliegende Oberförsterei, an der mein Weg vorüberführte, weckte mich nicht aus meinem dumpfen Brüten.

Obwohl Anton nur mit geringen geistigen Kräften ausgerüstet war, kam seine genaue Ortskenntnis mir dennoch sehr zustatten. So erfuhr ich durch ihn, daß an der Plittersdorfer Fähre sich mir Gelegenheit bieten dürfe, mich eines Bootes zu bemächtigen und in diesem wenigstens einige Meilen stromabwärts zu gleiten. An einer geeignet erscheinenden Stelle wollte ich sodann ans Ufer schleichen und mein Heil zu Lande weiter versuchen.

Ich erwog noch, welches Ufer des Rheins mir wohl die meiste Sicherheit biete, als der Hufschlag eines scharf trabenden Pferdes zu uns herüberschallte und fast gleichzeitig die Hühnerhunde meines Vormundes fröhlich an mir emporsprangen.

Der Reiter kam unterdessen schnell näher und traf kaum zehn Schritte weit von mir mit Anton zusammen.

»Guten Abend, Herr Oberstleutnant,« sagte dieser laut genug, um von meinem Vormunde erkannt zu werden.

Das Pferd stand augenblicklich still, und zugleich vernahm ich meines Vormundes Stimme.

»Anton, bist du es?« rief er mit unverkennbarer Freude, aber auch Besorgnis.

»Ja, Herr Oberstleutnant, es ist der arme Anton.«

»Um Gottes willen, Freund, weißt du, wo Herr Wandel sich zur Zeit aufhält?« fragte der Oberstleutnant, sein Pferd dicht zu Anton heranlenkend.

»Ja, Herr Oberstleutnant, ich weiß es!«

Im nächsten Augenblick legte ich meine Hand auf meines Vormundes Knie.

»Ich bin selbst hier, um Ihre Botschaft in Empfang zu nehmen,« sagte ich, innigst gerührt über meines treuen Freundes zärtliche Zuneigung, die in demselben Grad zu wachsen schien, in dem die Ungewitter sich drohend über mich zusammenzogen.

»Habe ich doch geahnt, daß ich dich vor deiner Abreise noch sehen würde,« versetzte der Oberstleutnant, sich zu mir niederneigend und seinen Arm um meinen Hals legend; »hättest mir viel Angst und Sorge ersparen können, wenn du gleich aufgebrochen wärest,« fuhr er mit weicher Stimme fort, »aber laß nur gut sein, Junge. Hast ganz recht gehabt, das Grab unserer braven Johanna noch einmal zu besuchen; hätt' es an deiner Stelle ebenso gemacht, und wenn mir eine Schwadron Chasseure auf den Pelz gerückt wäre. Jetzt aber hält dich nichts mehr zurück; du mußt fort, es ist der letzte Befehl, den ich dir in diesem Leben erteile!«

»Ich bin bereits auf der Flucht,« antwortete ich dem Oberstleutnant, »und wenn das Glück mir günstig ist, hoffe ich morgen um diese Zeit weit, weit fort von hier zu sein.«

»Es ist dir günstig gewesen, mehr als du ahnst, denn es gelang mir, heute Abend noch ein Boot und zwei sichere Leute zu mieten, die dich innerhalb weniger Stunden bis nach Köln hinunterschaffen werden, wo du dann dein Heil auf eigene Hand weiter versuchen mußt.«

Ich drückte meinem edlen Wohltäter die Hand; die Stimme versagte mir, mein Herz war zu voll.

»Höre mir aufmerksam zu;« fuhr der Oberstleutnant fort, »eine Wanderung von höchstens zwei Stunden bringt dich an den Rhein; folge dem auf dem Ufer hinführenden Leinpfad, bis du dich Plittersdorf gegenüber befindest, Dort warte, bis der Tag zu grauen beginnt, und du wirst ein mit zwei Ruderern bemanntes Boot von Königswinter herunterkommen sehen. In dem Boot sitzt eine dritte Person; kümmere dich nicht um diese; die Männer haben sich verbindlich gemacht, die genannte Person nach Köln zu schaffen, das heißt zum Schein, um dich mit hinunterschmuggeln zu können.

»Rufe also die beiden Männer und frage sie, ob sie nicht einen armen Handwerksburschen ein Stückchen mitnehmen wollen; das Weitere wird sich dann schon finden. Aber merke dir wohl, du bist und bleibst der Handwerksbursche für sie, und wenn du sie verlassest, bezahle nichts. Ja, das wäre alles, was ich dir noch zu sagen hätte; wie ich sehe, wird Anton dich begleiten, das ist mir lieb, er kann mir Bescheid bringen, wie sich die Sache gemacht hat; und nun, mein Sohn, müssen wir uns trennen –«

»Nur noch ein Wort, mein teuerster Wohltäter,« fiel ich dem Oberstleutnant in die Rede, »Sie sehen den armen Anton hier, ich verdanke ihm und seiner Treue meine Freiheit und also auch mein Leben; er hat sich als mein Freund gezeigt, unbekümmert darum, daß andere Menschen mich verfolgten und ihm selbst der größte Nachteil daraus erwachsen konnte –«

»Ich verstehe dich, mein Sohn, und verspreche dir, der Anton soll nicht mehr betteln gehen, so lange es auf der Oberförsterei noch ein Stück Brot zu brechen gibt; sonst noch etwas?«

»Nein, nur die innigsten Grüße an alle, die meiner freundlich gedenken.«

»Unter denen meine Lisette obenan steht! Und nun, mein Sohn, die Zeit entflieht, machen wir daher nicht viel Worte, seien wir Männer und überlassen wir das Heulen den Weibern. Lebewohl, mein Sohn – ach was – zum Donnerwetter – küsse mir nicht die Hand – Gott – segne dich und mögen wir uns dereinst dort oben bei der großen Armee wiederfinden.«

Das Pferd trat zuerst zwei Schritte zurück, und dann in einen kurzen Galopp verfallend, eilte es mit seinem Reiter und umsprungen von den Hunden der Oberförsterei zu.

Ich blieb so lange auf derselben Stelle stehen, wie ich den Hufschlag des davongaloppierenden Pferdes zu unterscheiden vermochte. Auch Anton war still und in sich gekehrt; offenbar dachte er darüber nach, daß er nicht mehr betteln gehen, nicht mehr von seinem Bruder, geschlagen werden sollte.

»Spitzbube, Frau, koch Kaffee!« sagte der Rabe unwirsch, als ob er sich darüber geärgert habe, daß man ihn so rücksichtslos um seine Nachtruhe bringe.

Anton setzte den Vogel zur Abwechslung auf seine andere Schulter, ich zog die Riemen meines Ränzels etwas fester an, und langsamen Schrittes wanderten wir dem Rhein zu.


 << zurück weiter >>