Balduin Möllhausen
Die Mandanen-Waise
Balduin Möllhausen

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13

Ein Freund in der Not

Das war eine lustige Nacht in dem Dorfe, das gleich oberhalb des Drachenfels am Ufer des Rheins liegt.

Zwei Violinen, eine schrille Klarinette, ein Waldhorn und eine mächtige Baßgeige sendeten ihre heiteren Klänge durch die geöffneten Fenster ins Freie hinaus, so laut, daß die Kinder auf der Straße nach dem Takt der Musik bequem tanzen konnten und sogar auf der andern Seite des Stromes ein tanzlustiges Paar vermocht hätte, nach den über die glatten Fluten hinrollenden Klängen sich müde zu walzen.

»Heute ist Kirmeß!« klang es aus Geigen, Klarinette und Waldhorn hervor, »heute ist Kirmeß,« stand geschrieben auf den runzeligen Gesichtern der Bestevaders, die in frisch gewaschenen Zipfelmützen, funkelnagelneuen kattunenen Jacken, schwarzen Kniehosen, wollenen blauen Strümpfen und mächtigen blauen Schnallenschuhen an den Wänden herumsaßen und gravitätisch ihre Sonntags-Nachmittags-Pfeife rauchten. »Heute ist Kirmeß,« lachte es nicht minder verständlich aus den Augen der Bestemoders, wenn Vater selbst oder ein Ühmchen, in Erinnerung der weit zurückliegenden eigenen glücklichen Jugend, sie mit dem Ellenbogen bezeichnend in die Seite stieß oder ihnen mit der schwieligen Hand das Kinn und die eingefallenen Wangen schäkernd streichelte. »Heute ist Kirmeß,« leuchtete es aus den runden Gesichtern der festlich geputzten Kinder, indem sie sich verstohlen in die Winkel hineindrängten, um dort, angesichts der tanzenden Paare, mit Ruhe ihre riesenhaften, üppig mit Butter bestrichenen und mit Rosinen und Korinthen reich durchwachsenen Kirmeßweck-Bruchstücken zu verzehren.

»Kirmeß ist heute,« jubelten laut die vierschrötigen Burschen, ihre Worte mit einem Luftsprung begleitend und mit den Absätzen krachend den Takt auf den dröhnenden Bohlen schlagend. »Kirmeß ist heute,« antworteten dann wohl die Mädchen, wenn sie sich von den kräftigen Armen ihrer Tänzer fester umfangen fühlten und männliche Lippen ihre vollen, von Gesundheit strotzenden Wangen in dem Gewirre flüchtig und verstohlen streiften.

»Heute ist Kirmeß!« rief auch mir eine behagliche männliche Stimme ins Ohr, und zugleich traf mich ein heftiger, wohlgemeinter Schlag auf die Schulter, als ich, auf meinen Wanderstab gestützt, von der Straße aus einen Blick in den so geräuschvoll belebten Saal warf.

Mich umschauend, erblickte ich einen Mann, der nur der Gastwirt sein konnte.

»Ich sehe es,« antwortete ich ernst, »ich will auch nicht stören, sondern wollte nur fragen, ob ich für Geld und gute Worte etwas zu essen und vielleicht ein Winkelchen, und wäre es auf dem Heuboden, für die Nacht erhalten kann?«

»Weder für Geld noch für gute Worte, Freund, heute ist Kirmeß, und wo Kirmeß ist, da kann ein lustiger Handwerksbursche auch noch satt werden, ohne daß er dafür zu bezahlen oder darum zu bitten braucht. Kommt herein, und wenn Ihr euch gestärkt habt, sollt Ihr mittanzen, und den Musikanten möchte ich sehen, der einem armen Wanderburschen nicht für umsonst aufspielen wollte!«

»Mit hineingehen will ich wohl, wenn Ihr mir ein unbeachtetes Winkelchen anweisen wollt, aber tanzen kann ich gewiß nicht, meine Füße sind wund und kaum vermag ich mich vor Erschöpfung aufrecht zu erhalten,« bat ich dringend.

Der Wirt schüttelte ungläubig den Kopf, in demselben Augenblicke erreichte aber auch im Saal die Pause ihr Ende.

»Juuuch – hu – hu – hu!«

gellte ein landesüblicher Jauchzer, daß das ganze Haus bebte. Neue Jauchzer, einer immer lauter als der andere, folgten und übertäubten die Musik, die bereits einen Walzer angestimmt hatte; der Gastwirt aber ergriff mich am Arm, und mich in das Haus hineinziehend, dessen Flur der Sammelplatz für die ganze Dorfjugend zu sein schien, fiel er lustig in die Walzermelodie ein:

»Bald gras' ich am Neckar, bald gras' ich am Rhein,
Bald hab' ich ein Schätzchen, bald bin ich allein!«

wobei er sich ziemlich rücksichtslos mit den Ellenbogen nach rechts und links Platz verschaffte.

»Dort oben auf dem Berge, da steht 'ne Kapell',
Da tanzen die Kapuziner mit ihrer Mamsell!
Juuuch – hu – hu – hu!«

erschallte es als Antwort aus dem Saale zu uns herüber und wuchtiger stampften die schweren Stiefel auf den Fußboden.

Ohne eigentlich zu wissen, wie mir geschah, und die rauhen, aber wohlgemeinten Willkommrufe und Püffe, die von allen Seiten auf mich einregneten, mit einem erzwungenen Lächeln erwidernd, gelangte ich endlich in ein Nebengemach, in dem sich die stillen Zecher und Kartenspieler häuslich niedergelassen hatten.

Meine Umgebung nicht weiter beachtend, begab ich mich nach dem mir angewiesenen langen Tische hin, und nachdem ich meinen Ranzen abgelegt, setzte ich mich so nieder, daß ich eine an demselben Tische spielende Gesellschaft nicht störte.

Eine Flasche Wein und ein tüchtiger Imbiß waren unterdes vor mir hingestellt worden, und ich zögerte nicht, der an mich ergangenen wenig förmlichen, jedoch wohlgemeinten Einladung Folge zu leisten.

Allmählich verfiel ich indessen wieder in so hohem Grade in mein gewohntes trübes Brüten, daß die Musik und der wilde Jubel für mich ungehört verhallten und ich ebensowenig die forschenden Blicke bemerkte, mit denen ich von einem andern, seitwärts stehendem Tische aus beobachtet wurde. Ich dachte eben an den folgenden Tag, an dem ich in der Nähe der nur noch eine gute Meile entfernten Oberförsterei eintreffen sollte, und überlegte zugleich, auf welche Weise es mir wohl gelingen werde, Johanna von meiner Anwesenheit heimlich zu benachrichtigen.

»Johanna, koch Kaffee,« ertönte es plötzlich heiser krächzend von dem andern Tisch zu mir herüber.

Ein unbeschreiblicher Schrecken bemächtigte sich meiner, ich fühlte, daß ich erbleichte, und um das Zittern meiner Hände weniger bemerklich zu machen, ließ ich Messer und Gabel vor mich auf den Teller sinken.

Ich glaubte Antons Raben gehört zu haben und wendete meine Augen langsam nach der Richtung hinüber, aus der ich die Stimme vernommen hatte.

Von Anton oder seinem Raben sah ich nichts, dagegen gewahrte ich, daß drei Männer, die Karten in der Hand, aus vollem Herzen über ihren vierten Mitspieler lachten, der den Raben des weit und breit bekannten Anton so täuschend nachgeahmt hatte. Der vierte nun stimmte mit in das Lachen ein, doch entdeckte ich auf seinem halb abgewandten Gesicht den Ausdruck eines höhnischen Triumphes, den er darüber empfand, durch ein so schlau gewähltes Mittel sich über meine Person Gewißheit verschafft zu haben.

Daß ich mich nicht täuschte, begriff ich, sobald ich Antons vagabundierenden Bruder erkannt hatte, dessen Blicke aber glitten scheinbar fremd über mich hin, worauf er, in die geräuschvollen Scherze seiner Kameraden einstimmend, die Karten wieder zur Hand nahm.

Hatte er mich wirklich nicht erkannt? War sein Ruf nur zufällig gewesen oder suchte er meinen Argwohn einzuschläfern? Das waren Fragen, die ich nicht zu beantworten vermochte. Der Schrecken hatte aber so lähmend auf mich eingewirkt, daß ich die Speisen unberührt stehen lassen mußte; um aber dem Gastwirt nicht aufzufallen, sprach ich von Zeit zu Zeit der Flasche zu, wobei ich das Benehmen von Antons Bruder scharf bewachte.

Doch weder durch Blicke noch durch Mienen verriet dieser, was in seinem Innern vorging, trotzdem fühlte ich mich so beängstigt in der Nähe des unheimlichen, verrufenen Menschen, daß ich mir die bittersten Vorwürfe machte, nicht in irgendeinem Stall oder Schuppen oder gar unter dem freien Himmel übernachtet zu haben.

Gleichzeitig war aber auch meine Erinnerung an den armen Krüppel und seinen Raben wachgerufen worden. Unwillkürlich gedachte ich Antons tiefer Dankbarkeit und seiner genauen Ortskenntnis in der Umgebung der Oberförsterei, und wie ein Blitz leuchtete es in meinem Geiste auf, daß er der einzige sei, dem ich mich anvertrauen, der einzige, der mir in meiner bedrängten Lage beistehen könne.

Doch wie sollte ich fortgelangen, ohne erst recht die Aufmerksamkeit der Leute auf mich zu ziehen? Wäre es doch etwas zu Ungewöhnliches gewesen, wenn ein fahrender Handwerksbursche verschmäht hätte, sich an den Lustbarkeiten einer Kirmeß, und dazu noch kostenfrei, zu beteiligen.

Indem ich noch hin und her überlegte, trat der Wirt strahlenden Antlitzes, die beiden Hände tief in die Seitentaschen seiner Jacke gesenkt, die Zipfelmütze verwegen auf ein Ohr gedrückt, zu uns in das Gemach.

Mein Entschluß war schnell gefaßt; bescheiden und auf beiden Füßen hinkend trat ich an seine Seite.

»Herr Wirt,« redete ich ihn an, »ich bin recht unglücklich daran, ich möchte mich wohl mit eurer Erlaubnis unter die Tänzer mischen« –

»Immer zu, immer zu,« unterbrach mich der Wirt, mich so derb auf die Schulter schlagend, daß ich meinte, zusammensinken zu müssen.

»Aber lieber Herr Wirt, ich bin ja unfähig dazu, mein Körper ist wie zerschlagen, meine Füße sind wund, und da wollte ich Euch bitten, mir eine Stelle anzuweisen, wo ich nur eine Stunde ruhen und mich umkleiden kann, damit ich wenigstens mit Anstand auf dem Tanzplatz erscheine.«

Etwa eine Minute lang betrachtete der Wirt mich mit schalkhaftem Ausdruck von oben bis unten. Eine lustige Antwort schwebte ihm auf den Lippen; mein klägliches und zugleich ehrerbietiges Wesen mußte dagegen seine Teilnahme erwecken, denn er nickte mir gutmütig zu, und nachdem er mich aufgefordert hatte, mein Ränzel zu holen, bugsierte er mich nicht ohne Mühe durch den Saal nach dem Flur hinaus.

Auf dem Hausflur angekommen, wo nur Kinder uns umgaben, wendete ich mich noch einmal an den Wirt. Ich bat ihn, mich, der ich selbst ein Bauernsohn sei, nicht für stolz zu halten, wenn ich nicht mehr in die Mitte der frohen Menschen zurückkehre; aber vor einigen Tagen sei mir die Nachricht von dem Tode meiner Mutter zugegangen und der Schmerz über deren Verlust sei noch zu frisch, um einen solchen Gesellschafter abzugeben, wie er es wünsche. Ich zeigte ihm darauf mein Wanderbuch, das er in Ordnung fand, und nachdem ich ihm aufs herzlichste für seine Gastfreundschaft gedankt, bat ich um Erlaubnis, im Stall oder in der Scheune die Nacht zubringen zu dürfen.

Der Wirt, von Natur ein gutmütiger Mensch, durch den Genuß des Weines vielleicht noch gutmütiger gemacht, würdigte meine Einwände nach Gebühr, da aber das durchdringende Jauchzen ihn wieder nach dem Tanzplatz rief, so nahm er sich nicht die Zeit, mich zu begleiten. Er gab mir daher nur flüchtig die Richtung an, in der ich die Tür des im tiefsten Schatten liegenden Heustalles finden würde, worauf er ins Haus zurückeilte.

An den Stall gelangte ich schnell genug heran, auch die bezeichnete Tür entdeckte ich nach einigem Umhertasten, und vertraut mit den ländlichen Einrichtungen, kostete es mich keine Mühe, den hölzernen Keil aus der eisernen Überfallkrampe herauszuziehen, worauf die Tür knarrend aus ihren Fugen wich.

Im Begriff einzutreten, blickte ich noch einmal mechanisch nach der Haustür zurück, als der Schatten eines Mannes in dieser mich veranlaßte, genauer hinzuschauen.

Ein eiskalter Schauer machte mir das Blut in den Adern gerinnen, als ich des wilden Andres' Gestalt erkannte.

»Ich bin verloren,« dachte ich bebenden Herzens; schnell aber, als habe die Todesangst meine geistigen Kräfte verschärft, faßte ich mich wieder, und die Tür mehrere Male heftig zuschlagend, erzeugte ich ein Geräusch, als wenn ich vom Innern des Stalles aus zu befestigen versucht hätte. Leise schlich ich sodann bis an die äußerste Ecke des kleinen Gebäudes, wo ich mich, da eine offene Flucht der umherstöbernden Hirtenhunde wegen mir in diesem Augenblick zu gefährlich erschien, dicht an der Mauer niederkauerte.

Andres, überzeugt, daß ich mich im Stall befinde, trat nun einige Schritte vor und schlich leise nach der angelehnten Tür des Heustalles hin.

Und dann erriet ich aus dem dadurch verursachten Geräusch, daß er die eiserne Krampe durch den an einem Riemen niederhängenden Ring zwängte und dadurch beide Teile fest miteinander verband. Er wollte mich also einsperren.

Mit einem Gefühl grenzenloser Verlassenheit sah ich ihn dann wieder nach dem Hause zurückschleichen. Nie in meinem Leben hatte ich Andres auch nur mit einer Miene beleidigt, und dennoch mußte ich erleben, daß er alles in seinen Kräften Stehende aufbot, mich meinen Verfolgern zu überantworten und mir dadurch einen schrecklichen Untergang zu bereiten. Ich seufzte tief auf, meine Augen brannten, und vergeblich blickte ich zum schwarz bewölkten Himmel empor, um einen freundlichen Stern zu entdecken, der wie ein Schimmer von Hoffnung auf mich niedergefunkelt hätte!

»Juuuch–hu–hu–hu!« schallte es gellend vom Tanzplatz zu mir herüber; lauter stampften die derben Füße im raschen Walzer auf den dröhnenden Fußboden, durchdringender kreischte die Klarinette und mit boshaftem Ausdruck schrammte der Bogen auf den straffen Saiten der Baßgeige herum:

»Hab' Erbsen gegessen, hab' Linsen gesäet,
Hab' manchem schönen Mädchen das Köpfchen verdreht!«

»Juuu – hu – hu – hu!« Hei, wie das so lustig in die schwarze Herbstnacht hinaus schallte! Es schallte so laut und so lustig, daß ich bei jedem neuen Ausbruch wilden Entzückens einen Stich ins Herz zu empfangen meinte.

Doch entrann ja die kostbare Zeit, die mir zur Flucht blieb.

Leise schnallte ich den Ranzen auf meinen Rücken, leise und von niemand bemerkt schlich ich vom Hofe hinunter, und gleich in die Landstraße einbiegend, verfolgte ich meinen Weg um die schwarzen Massen des steil emporsteigenden Drachenfels herum. –

Nach Verlauf einer halben Stunde, als ich Königswinter erst hinter mir hatte, befand ich mich wieder in einer Umgebung, mit der ich schon seit vielen Jahren aufs innigste vertraut gewesen war, auf einem Boden, an den sich die süßesten Erinnerungen meines Lebens knüpften.

Hier war ich nicht mehr an die Landstraße gebunden, und obwohl die Einsamkeit und die Dunkelheit der Nacht mich davor schützten, von jemandem erkannt zu werden, wählte ich doch, wo es nur immer anging; die gewundenen Waldpfade, auf denen ich mich meinem Ziele nur langsam näherte.

Trotz der Verzögerungen zeigte sich im Osten erst ein schwacher Schimmer des heraufdämmernden Tages, als ich einige hundert Schritte von Antons Heimat meinen Ranzen in einem Dickicht ablegte und dann nach der Hütte hinschlich, um mich zu überzeugen, ob der arme Bursche sich nicht außerhalb auf einem seiner planlosen Streifzüge befinde.

Zweimal wanderte ich um das Haus herum; kein anderes Lebenszeichen vernahm ich, als das behagliche Meckern der beiden Ziegen in dem kleinen Stall.

»Was bliebe mir zu tun übrig, wenn ich ihn verfehlte?« fragte ich mich zagenden Herzens, als ich zum zweiten Male vor die Haustür hintrat, um mein Ohr an dieselbe zu legen.

»Spitzbube – Jakob – Johanna – Johanna koch Kaffee!« rief da eine krächzende Stimme von dem über der Tür angebrachten Brett zu mir nieder.

Gleich darauf kreischte die Stimme eines Weibes im Innern der Hütte: »Anton, will das faule Geschöpf bis Mittag schlafen? Anton, du Strafe Gottes, steh' auf, oder ich helfe dir mit dem Besenstiel auf die Beinstumpfen! Hörst du denn nicht? Jakob ruft; die Ziegen müssen aus dem Stalle gebrochen sein!«

»Er ist zu Hause,« seufzte ich mit erleichtertem Herzen auf, indem ich bis hinter den Ziegenstall zurückschlich.

»Anton! Hund! Kommt der Wechselbalg denn noch nicht herunter?!« keifte das Weib, als immer noch keine Antwort erfolgte.

»Schon lange unten,« antwortete Anton endlich, und zugleich vernahm ich, daß er an der zugeketteten Tür klapperte, »schon lange unten, hahaha! Ich ein Wechselbalg! Wechselbalg gut genug zum Arbeiten, wenn andere Menschen schlafen; arbeite gern für meine Mutter, aber nicht für den schlechten Andres!«

Die Tür öffnete sich ganz, auf seinen Stab gestützt hinkte der arme Anton ins Freie, und der Rabe, sich ihm zugesellend, schritt sogleich sehr gravitätisch auf die Stallecke zu, hinter der ich mich verborgen hatte.

»Spitzbube – Spitzbube – Frau – Jakob – koch Kaffee,« sprach er dabei sehr ernst vor sich hin, indem er bald nach rechts, bald nach links zurückschaute, ob ihm sein Herr auch folge.

»Ja, ich komme,« versetzte dieser fast ebenso heiser, »Jakob hat geträumt und den armen Wechselbalg eine Stunde zu früh geweckt.«

»Kikeriki!« krähte der Rabe, seinen Hals ausreckend und behutsam um die Ecke herumschielend. »Spitzbube,« fügte er dann in seinem tiefsten Baß hinzu, als er mich nicht sah, denn ich hatte mich, Antons geräuschvolle Überraschung fürchtend, von dem Stalle entfernt und hinter einen Johannisbeerbusch niedergekauert.

»Jakob hat geträumt,« wiederholte Anton verdrießlich und machte Miene, ins Haus zurückzukehren, doch fesselte des Raben Benehmen seine Aufmerksamkeit aufs neue.

Dieser begann nämlich von neuem in seiner komischen Weise zu schelten und bewegte sich dabei im Zickzack auf den mich verbergenden Strauch zu.

Da ich, um Anton nicht zu einem verräterischen Ausruf zu veranlassen, mich nicht plötzlich zeigen wollte, so wartete ich, bis er etwa auf zehn Schritte herangekommen war, worauf ich ihn freundlich anredete.

»Anton, komm und hilf mir, aber wenn dir mein Leben lieb ist, dann sprich leise.«

Beim ersten Ton meiner Stimme stand der arme Bursche wie vom Blitz getroffen da, dann aber schien es in seinem Geiste aufzudämmern, und nachdem er einen mißtrauischen Blick auf die Hütte zurückgeworfen, hinkte er mit unbegreiflicher Schnelligkeit zu mir heran.

»Mein lieber junger Herr,« sagte er flüsternd, und zwei Tränen entquollen seinen trüben Augen, »mein lieber junger Herr, der den Jakob gerettet und mit mir an einem Tisch gesessen hat! Sie suchen meinen lieben jungen Herrn Studenten, und wenn sie ihn finden, machen sie ihn tot.«

»Beruhige dich, Anton,« sagte ich aufstehend und ihm die Hand herzlich drückend, »tot machen sie mich gerade nicht, aber was noch schlimmer ist, sie sperren mich auf Lebenszeit ein. Doch sage Anton, du bist jetzt mein einziger Freund, willst du mich retten?«

»Seinen einzigen Freund nennt mich der liebe junge Herr, und er fragte mich, ob der lahme Anton ihn retten will?« antwortete der treue Mensch schluchzend.

»Gut, gut, Anton, ich verstehe dich, begleite mich eine kurze Strecke von der Hütte fort; deine Mutter könnte mich sehen, und dann wäre ich verloren.«

»Ja ja, lieber junger Herr;« unterbrach mich Anton, auf das nächste Dickicht zueilend.

Der Rabe flog uns voraus, kaum aber hatte er sich in dem Gehölz niedergelassen, so begann er wieder zu schimpfen und zwischendurch wie ein ergrimmter Hund zu knurren.

»Da ist jemand, vielleicht mein Bruder,« sagte Anton bestürzt, »lieber junger Herr, laufen Sie« –

»Es ist nichts,« tröstete ich den entsetzten Burschen, denn ich erriet, was dem Raben neue Ursache zum Zorn gegeben hatte; »komm nur dorthin, wo ich mein Ränzel abgelegt habe. Ich reise nämlich als Handwerksbursche; aber laß jetzt das Fragen, ich werde schon Gelegenheit finden, dir alles mitzuteilen. Jetzt beantworte mir nur einige Fragen.«

»Lieber junger Herr, ich weiß ja alles; ich habe alles gehört und gesehen; niemand kehrt sich an den armen Krüppel. Aber ich habe sie verstanden, die Menschen mit den schwarzen Röcken, was sie zu dem Andres sagten und was sie zu dem lieben Fräulein sagten.«

»Johanna,« krächzte der Rabe dicht vor uns, indem er mit seinem mächtigen Schnabel wütend auf meinen Ranzen ein- hieb.

»Du wirst mir alles erzählen, Anton,« versetzte ich, und eiskalt überlief es mich bei den Unglück verheißenden Worten des Krüppels, »vor allen Dingen sage mir, kennt außer dir noch jemand dein Schloß?«

»Nein, lieber junger Herr Student. Nur ich und der junge Herr wissen es aufzufinden.«

»Das ist ein glücklicher Umstand –«

»Ja, ja,« rief Anton hier plötzlich aus, und sein breites, von der Natur so grausam entstelltes Antlitz leuchtete vor Entzücken, »ja, das ist der Ort, den lieben jungen Herrn zu verbergen, den lieben jungen Herrn, der mit mir an demselben Tische gesessen und den armen Jakob gerettet hat! Kommen Sie, kommen Sie, ich werde den jungen Herrn hinführen!«

»Halt, Anton, den Weg weiß ich allein zu finden und werde auch sogleich dahin aufbrechen. Aber merke dir, wenn du mir deine Hilfe zuwenden willst, so mußt du meinen Anweisungen aufs genaueste Folge leisten.«

»Spitzbube – Spitzbube – koch Kaffee,« fügte der Rabe hinzu, sich geräuschvoll schüttelnd.

Ich aber sprach: »Geh jetzt nach Hause, damit deine Mutter sich nicht über deine lange Abwesenheit wundert, und wenn du ohne Verdacht zu erregen, dich von zu Hause entfernen kannst, dann eile zu mir. Aber Anton, noch eins; ich fühle zwar augenblicklich keinen Hunger, allein er wird sich allmählich einstellen. Hier hast du etwas Geld, kaufe Lebensmittel dafür, aber merke dir, nicht auf ein und derselben Stelle. Hier für einen Groschen, dort für ein paar Pfennige, je nachdem es dir angemessen erscheint. Und nun, Anton, lebe wohl, beeile dich nach Hause zu kommen, ich höre deine Mutter nach dir rufen.«

»Ich habe sie bereits lange gehört,« bemerkte Anton sinnend, »aber ich fürchte mich nicht. Mag sie mich stoßen, mag Andres mich schlagen und meinem Jakob den Hals umdrehen, so sage ich dennoch nicht, wo mein lieber junger Herr Student sich verborgen hält.«

Mit diesen Worten kehrte er sich um und hinkte der heimatlichen Hütte zu.


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