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Dreizehntes Kapitel.
Der Hinterwäldler

. Die Flüchtlinge hatten noch keine hundert Schritte zurückgelegt, da krachte bei der Tränke ein Schuß, und gleichzeitig vernahmen sie das Sausen einer Kugel, die ganz dicht über sie hinflog.

»Halt!« kommandierte Juan leise, »wir müssen wissen, was sie beabsichtigen. Sie können in ihrer Ungeduld schon an uns vorbeigeschlichen sein und uns auflauern!«

Die Reiter hielten, und deutlich hörten sie auf der entgegengesetzten Seite den schnellen Galopp eines Pferdes. Dieses entfernte sich offenbar, denn schon nach einigen Minuten war das polternde Geräusch zu einem leisen Dröhnen herabgesunken.

»Es waren nur ein berittener und ein unberittener Späher, die sich an uns herangeschlichen hatten«, bemerkte Juan, indem er sein Pferd wieder in Bewegung setzte.

»Verdammt,« sagte Sidney, mehr verwundert, als erbittert, »es scheint, als wenn wir nur eine Reise zu unternehmen brauchen, um den ernsthaftesten Abenteuern zu begegnen. Trafen die Späher zehn Minuten früher ein, so möchten wir wohl nicht ganz unbelästigt unser Lager verlassen haben. Es ärgert mich fast, dem hinterlistigen Kahuilla nicht den Schädel zerschmettert zu haben.«

»Und was würde Maria dazu gesagt haben, wenn sie dergleichen von dir erfahren hätte?« fragte Robert, indem er sein Pferd spornte, denn der Arriero bewegte sich immer schneller vorwärts.

»Das brave Mädchen!« seufzte Sidney, »viel lieber möchte ich aber noch wissen, was sie sagen würde, wenn die über uns hinpfeifende Kugel mir den Schädel zerschmettert hätte.«

»Wir sind noch nicht zu Hause,« entgegnete Robert ernst, »wer weiß, dein Wunsch mag eher erfüllt werden, als du denkst. Denn irre ich nicht, so ist der Schuß nur abgefeuert worden, um die Bande aufzuschrecken, während der Reiter hineilt, um die Pferde zusammenzutreiben. Was meinst du, Freund Juan?«

»Ich denke, Ihr habt recht«, versetzte der Angeredete; »ihre Pferde sind noch frisch, und wenn sie sich in zwei Abteilungen trennen und in entgegengesetzten Richtungen um den See herum reiten, so werden wir die größte Mühe haben, ihnen zu entrinnen. Außerdem ist es unseren Pferden auch anzumerken, daß sie heute schon einen tüchtigen Marsch zurückgelegt haben.«

»Das haben sie in der Tat,« bekräftigte der Majordomo, »aber was in unseren Kräften steht, werden wir doch tun müssen.«

»Und nur zwei Büchsen in unserem ganzen Vermögen«, fügte Sidney grollend hinzu.

»Immerhin genug, ein halbes Dutzend dieser Wegelagerer fernzuhalten«, erwiderte Robert.

Nach dieser kurzen Unterhaltung trat ein allgemeines Schweigen ein; denn da sie sich immer in der Nähe des Sees hielten, wo der Boden sehr unwegsam war, so erforderte es ihre ganze Aufmerksamkeit, die Pferde in der Eile, mit der sie dahinritten, vor dem Stürzen zu bewahren.

Von den Räubern, die sich unterdessen zur Verfolgung rüsteten, vernahmen sie nichts mehr, und mit jeder Meile, die sie überwanden, wuchs auch ihre Hoffnung, das Tal schließlich noch unangefochten zu verlassen.

Gegen Mitternacht erreichten sie das fast in einem rechten Winkel vorspringende Ende des Sees, wo sie sogleich von ihrer alten Richtung abbogen und gegen Osten lenkten.

Hier nun mußten sie ihre Vorsicht verdoppeln, weil sie sich einem Indianerdorf näherten, dessen Bewohner möglichenfalls von ihren Verfolgern, wenigstens von dem Kahuilla, mit in das Unternehmen gezogen sein konnten.

Eine gute Meile waren sie noch von dem Dorfe entfernt, als sie abermals einen Schuß, jetzt aber von der andern Seite des Sees herüber, vernahmen.

Die Reiter hielten an und lauschten, und deutlich drang der gellende Ruf eines Menschen aus derselben Richtung zu ihren Ohren.

»Bootjacks Stimme,« sagte Juan, sein Pferd wieder antreibend, »der Schall tanzt Tagereisen weit auf dem stillen Wasser fort.«

»Ein Weißer vermöchte sich kaum auf diese Entfernung vernehmbar zu machen; hätte ich nur losgedrückt und ihm den Mund gestopft«, versetzte Sidney in einem Tone, der bekundete, daß er nicht im Scherze sprach.

»Sie würden auch ohne ihn die Verfolgung fortgesetzt haben«, entgegnete Robert.

»Aber nicht die Indianer vor uns auf unsere Ankunft vorbereitet haben«, bemerkte Juan, indem er abermals still hielt und mit der Hand nach der Gegend hinüberdeutete, wo sie die Hütten der Eingeborenen vermuten durften. »Caramba! Bootjack hat Freunde dort, die seine Absicht erraten haben, seht nur hinüber.«

Robert und Sidney schauten hin, und zu ihrer unangenehmen Überraschung gewahrten sie an einer mutmaßlich offenen Stelle des Sees einen Feuerkreis, der augenscheinlich davon herrührte, daß ein Mann einen glimmenden Feuerbrand mit großer Geschwindigkeit vor sich herumschwang.

»Wenn es so steht, dann werden wir bald mehr von ihnen hören«, sagte Robert nachdenklich; »die Schurken, sie haben alle Möglichkeiten berechnet und sind gut zu Hause hier. – Wie breit rechnest du den trockenen Boden, von diesem bis zu dem andern See?« fragte er nach einer Weile den Arriero, der schweigend im Sattel saß und offenbar einen Ausweg aus der bedrängten Lage zu entdecken trachtete.

»Eine Meile vom Wasser zum Wasser, vielleicht auch mehr,« antwortete dieser, »der gangbare Boden ist aber kaum eine halbe Meile breit.«

»Zu wenig Raum, um den Indianern auszuweichen,« versetzte Sidney, »und zurück dürfen wir nicht, wenn wir nicht einem halben Dutzend dieser Landstreicher gerade in die Arme laufen wollen.«

»Dort vor uns ist ebenfalls nicht viel Hoffnung, unbelästigt oder ungesehen durchzuschlüpfen«, sagte Robert nach der Stelle hinüberschauend, wo das Feuerzeichen gegeben worden war, jetzt aber wieder tiefe Dunkelheit herrschte. »Wenn wir hier nur eine halbe Stunde aufgehalten werden, dann erreichen wir erst bei Tagesanbruch das Ende dieser Landenge, also gerade zu der Zeit, zu der die Wegelagerer von der andern Seite herum dort eintreffen müssen.«

Juan schwieg noch immer, und da man von ihm, als dem erfahrensten Kaliforniareisenden, die letzte Entscheidung erwartete, so hielten die andern mit ihren Ratschlägen zurück.

Da drängte Fernando sich plötzlich an Juans Seite. »Trachten die Indianer uns nach dem Leben?« fragte er den Arriero leise.

»Die Indianer wohl kaum, denn sie fürchten die nahen Militärposten,« antwortete dieser mechanisch, »aber sie sind imstande uns aufzuhalten, bis die heran sind, die sich für Geld ebensowenig aus einem Menschenleben machen, wie aus dem Leben eines reifen Apfels.«

»Ich will gerade in das Dorf hineinreiten,« versetzte der Knabe so schüchtern, als wenn er befürchtet hätte, durch seinen Vorschlag ein großes Unrecht zu begehen, »ja, ich will in das Dorf reiten, wenn Ihr es gestattet, und während sie sich mit mir beschäftigen, gelingt es euch vielleicht, unbemerkt vorbeizuschleichen.«

»Würdest du das wohl wagen?« fragte Juan den Knaben.

»Und warum nicht?« erwiderte dieser mit fester Stimme; denn er glaubte, nach des Arrieros Frage hänge die Entscheidung nur noch von seiner eigenen Antwort ab.

»Weil du nicht sollst, mein braver Fernando,« versetzte Robert, der durch des Knaben Opferwilligkeit aufs tiefste gerührt worden war, »wo wir bleiben, da bleibst auch du. Wir haben schon aus schlimmeren Lagen einen Ausweg gefunden, warum sollten wir denn gerade hier, so nahe unserem Ziele, verzweifeln? Wir stehen für einen Mann –«

»Hätte ich nur dem verdammten Kahuilla den Schädel zerschmettert«, unterbrach Sidney seinen Freund.

»St!« rief der schwarze Juan, und im nächsten Augenblick lag er auf der Erde und drückte sein Ohr fest auf den feuchten Rasen.

»Sie sind auf unserer Fährte,« fuhr er fort, nachdem er eine Weile gelauscht hatte, »und zwar nicht weniger als fünf bis acht Reiter. Herunter von den Pferden, schnell! Fernando hat uns, ohne es zu ahnen, den Weg gezeigt. Wir müssen sie täuschen, die Indianer wie die Räuber, aber die Pferde wird es uns wohl kosten.«

Der dringende Ton, in dem der Arriero sprach, belehrte alle, daß hier die größte Eile geboten sei. Eine kurze, in flüsterndem Tone geführte Beratung erfolgte, und ehe fünf Minuten verstrichen waren, hatten sie die Wertsachen und Waffen von den Sätteln genommen und die Zäume von den Köpfen der Pferde entfernt. Nachdem sie sodann die Tiere durch einige Peitschenhiebe in der Richtung nach dem indianischen Dorfe hin auseinander gejagt, nahmen sie das Gepäck auf die Schultern und schlichen behutsam der nahen Binsenwaldung zu.

Schon nach wenigen Schritten gelangten sie an einen Bach, einen jener natürlichen Kanäle, die die Seen miteinander verbinden. Da er festen Boden hatte und nur wenig Wasser hielt, vor allen Dingen aber einen gangbaren Weg bis tief in die Binsenwaldung hinein bot, so stiegen sie in denselben hinab, und einer hinter dem andern herschreitend, näherten sie sich schnell dem blanken Wasserspiegel.

Ihre Hoffnung beruhte jetzt darauf, daß die Räuber, nachdem sie inne geworden, daß sie nur leeren Pferden nachgeeilt seien, vorläufig die Ausgänge des Engpasses bewachen würden. Sie selbst gewannen dadurch Zeit, was ihnen in einer so schwierigen Lage fast gleichbedeutend mit Rettung war, die sie mittels einer Reihe von Signalfeuern von den südlichen, mehr belebten Talrändern herbeizulocken hofften.

Das Pferdegetrappel ihrer Verfolger hatte sich unterdessen so weit genähert, daß sie es deutlich von dem ihrer eigenen, langsam davon schreitenden Pferde zu unterscheiden vermochten, und mit noch mehr Vorsicht, als sie bisher getan, bahnten sie sich ihren Weg zwischen den schwarzen Schatten der Binsen in dem seichten Wasser vorwärts.

»Wir sind weit genug,« flüsterte Juan zurück, der vorsichtig tastend den Weg eröffnete, »wir sind weit genug«, wiederholte er, sobald er fühlte, daß das Wasser an Tiefe zunahm und ihm schon bis über die Knie reichte.

Er hatte kaum ausgesprochen, da erschreckte er seine Gefährten durch ein lautes Geräusch, das dadurch entstand, daß er über einen festen, in der Mitte des Kanals befindlichen Gegenstand stolperte.

Alle lauschten atemlos, denn in demselben Augenblick ritten die Räuber etwas weiter oberhalb durch den Bach, und aus der lebhaften Unterhaltung, die sie miteinander führten, errieten die Flüchtlinge, daß die erbitterten Verfolger sich ihrem Ziele nicht mehr fern glaubten.

»Wir sind gerettet«, flüsterte Juan mit unverkennbarer Freude, sobald es keinem Zweifel mehr unterlag, daß das Geräusch von den Räubern überhört worden war. »Wir sind gerettet, es ist ein Kanoe, das die Indianer hier geborgen haben. Auch eine Stange befindet sich darin; aber Vorsicht! Das geringste Geräusch kann uns verraten. Wer weiß, wie nahe uns die Eigentümer des Kanoes sind.«

Nachdem sodann das Kanoe, ein schwerfälliges, aus einem ausgehöhlten Baumstamm angefertigtes Fahrzeug, mit der Spitze von dem schlammigen Uferboden heruntergeschoben und flott gemacht worden war, nahmen alle behutsam darin Platz. Leise zogen sie dann an den Binsen und gelangten so bald aus der Binsenwaldung hinaus auf den blanken Seespiegel.

Hier hielten sie stille und beratschlagten. Über den See hinüber zu rudern wagten sie nicht, da dieser, bis in geringe Entfernung von den Binsen, mit zahllosen Wasservögeln bedeckt war, die sich, bei ihrer Annäherung jedenfalls mit vielem Geräusch erhoben und dadurch die Richtung ihrer Flucht den Verfolgern genau bezeichnet hätten. Es blieb ihnen daher nur übrig, nach der einen oder der andern Seite hin sich an der Binsenwaldung entlang zu arbeiten und sich so weit als möglich aus dem Bereich der Gefahr zu entfernen.

Die Pferde und den größeren Teil ihres Gepäcks hielten sie natürlich für verloren, obwohl ihnen noch immer die Möglichkeit blieb, alles wieder zu erlangen, da die fünf Pferde sowohl wie auch die übrigen Gegenstände für die Zahl der Räuber nicht nur einen verhältnismäßig zu geringen Wert hatten, sondern auch leicht zur Entdeckung und Habhaftwerdung der ganzen Bande beitragen konnten.

Da nun den Flüchtlingen auf der Ostseite des Sees in dem dort mündenden, vielfach gewundenen Kernfluß der weiteste und sicherste Weg offen stand, und sie dort schneller in die Nachbarschaft einer größeren Ansiedlung gelangten, wenn es ihnen glückte, eine gute Strecke in dem Fluß unentdeckt hinaufzurudern, so schlugen sie ohne Zögern die östliche Richtung ein.

Sie waren allerdings im Besitz nur einer einzigen Stange, die auf dem seichten See die Ruder ersetzte; indem sie sich aber beständig an der Schilf- und Binsenwaldung hielten, wurde allen Gelegenheit geboten, mit Hand ans Werk zu legen, und verhältnismäßig schnell glitten sie auf dem stillen Wasserspiegel dahin.

Vereinzelte Enten flatterten zuweilen vor ihnen auf oder ein Reiher entfernte sich mit heiserem Schrei, wenn das Fahrzeug in seine Nähe trieb; doch diese Töne wiederholten sich fast ununterbrochen um den ganzen See herum. Sie konnten bei ihren Verfolgern keinen Verdacht erregen; denn zahlreich waren die Wölfe, Füchse und Waschbären, die zur Nachtzeit beutesuchend zwischen Schilf und Binsen herumschlichen, und gar mancher verschlafene Schwimmvogel, der, den Kopf unter den Flügel gedrückt, unbewußt von der Luftströmung an die dichte Vegetation herangetrieben worden war, fiel den wachsamen Feinden zum Opfer, oder rettete sich, unter Zurücklassung seiner besten Schweiffedern, vor einem blutigen Ende.

Die Flüchtlinge sprachen kein Wort, und unhörbar, als wenn es den Wasserspiegel gar nicht berührt habe, schwebte das Fahrzeug gleichsam an der Binsenwaldung entlang. Vorbei ging es an dem nur wenige hundert Schritte entfernten Indianerdorf, das nach dem Eintreffen der Räuber und der Entdeckung der herrenlosen Pferde seltsam belebt worden war; vorbei an langen Strecken der schwarzen Schilfmassen.

Der Mond war eben aufgegangen, und indem dessen mattes Licht sich mit dem weißen, den Anbruch der Morgenröte verkündenden Schimmer im Osten vereinigte, erhellte er mehr und mehr die weite Fläche, über der in Manneshöhe die graue Nebelschicht ruhte.

Schneller schoß das Kanoe auf seiner glatten Bahn dahin, schärfer traten die Silhouetten aller über den Wasserspiegel emporragenden Gegenstände hervor, und riesenhafter erschienen die schlanken Binsenhalme, deren Spitzen in den ausgespannten Nebelschleier hineinreichten.

Der See dampfte; wenn aber der aufspringende Morgenwind über ihn hinfuhr, den Nebel auf Augenblicke zerteilte und die auf dem Wasser lagernde Dunstschicht zerriß, dann zeigten sich oben die mattglänzenden, erbleichenden Sterne, unten dagegen, wie ebenso viele geisterhafte Schildwachen, die unbestimmten Formen träumender, blendend weißer Pelikane und Schwäne.

Kräftiger arbeiteten die acht Arme, leise plätscherte das Wasser vor dem Bug des ausgehöhlten Baumstammes; leise plätscherte auch die Stange, die Juan jetzt mit weniger Vorsicht im Hinterteil des Bootes gebrauchte.

Mit polterndem Geräusch erhoben sich die verschiedenen Scharen der Gänse, um auf den grasreichen Stellen der Ebene ihr Frühmahl einzunehmen, ehe sie ihre Reise nach dem Süden fortsetzten; mit pfeifendem Flügelschlag durchschnitten die flinkeren Enten die feuchte frische Luft und begleiteten mit lustigem Geschnatter alle ihre Bewegungen. Die stillen Schwäne und die phlegmatischen Pelikane aber spannten nur gelegentlich ihre mächtigen Schwingen aus und prüften die Kraft derselben. Sie trugen die Wanderlust, die Sehnsucht nach dem Süden, die ihre Brust erfüllte, nicht öffentlich zur Schau; es war, als ob sie träumten und im Geiste schon in wärmeren Zonen weilten.

Langsam, wie er sich beim Einbruch der Nacht vereinigt hatte, trennte der Nebel sich wieder in Streifen voneinander, und indem die jungfräuliche Morgenröte sich in ihm spiegelte, erhielt er eine rosenfarbige Schattierung, und in rosenfarbigem Lichte glühten die südöstlichen Abhänge der eisgekrönten Sierra Nevada. Die letzten Sterne verschwanden; kaum bemerkbar zeichnete sich die transparentähnliche Mondsichel vor dem graublauen Himmel aus, und ein purpurner Duft stieg strahlenartig hinter den östlichen Bergen bis zum Zenith hinauf empor.

Die Flüchtlinge gewahrten es mit Besorgnis. In dem Seewinkel, in den der Kernfluß mündete, hatte sich der Nebel vor einem Windstoß gestaut, weshalb sie nicht zu unterscheiden vermochten, wie weit die ersehnte Bucht noch von ihnen entfernt war.

Nur mit äußerster Mühe hatten sie ihr wertvolles Gepäck vor dem Wasser zu bewahren vermocht. Sie selbst waren vom Kopf bis zu den Füßen durchnäßt, und bei jeder Berührung der mit Tauperlen dicht geschmückten Binsen rasselten Tausende der schweren Tropfen langsam auf sie und in ihr Boot herab.

Sie spürten aber nichts von Kälte, sie arbeiteten zu heftig, denn alles um sie her mahnte zu noch größerer Eile.

Die Binsen nahmen bei der wachsenden Helligkeit ihre schöne lichtgrüne Farbe wieder an; die kleinen schwarzen Fruchtbüschel an ihnen ließen sich unterscheiden, und sogar die dickköpfigen Libellen, die sich krampfhaft an die Halme angeklammert hatten:, weil sie ihre goldgrünen, langgestreckten Körper nicht mehr den vor Kälte starren Gliedern und den wasserschweren breiten Schwingen anvertrauen durften, waren schon von weitem zu erkennen. Vergeblich suchten die Tierchen mit den langen Beinen nach einem sicheren Halt oder spannten die zitternden Flügel noch weiter aus, wenn das Kanoe den sie tragenden unsicheren Boden in Bewegung setzte. Unbarmherzig wurden sie von den gestörten und im Niederrieseln anwachsenden Tautropfen mit fortgeschwemmt, und glücklich das, dem es gelang, unten auf dem Wasserspiegel einen umgeknickten Halm oder ein Schilfblättchen zu gewinnen.

So verkündete alles den Anbruch des Tages, das zänkische Zwitschern der Rohrsperlinge und das Krächzen der nach verunglückten Fischen spähenden Raben, das gänzliche Einschlummern der Windstöße und die sich immer weiter ausdehnende Fernsicht.

Das Dorf der Indianer lag schon über vier Meilen weit hinter den Flüchtlingen, als sie in dem gestauten Nebel des östlichen Seewinkels verschwanden und dann auf längere Zeit nur noch die Binsen auf der linken Seite des Bootes und den blauen Himmel über sich zu erkennen vermochten. Doch auch den Schutz des Nebelschleiers sollten sie nicht lange genießen, denn während sie mit voller Kraft vorwärts arbeiteten, schossen plötzlich hinter den östlichen Höhen die ersten goldenen Strahlen hervor und eilten belebend und erfreuend über den See und die weite, weite Niederung.

Jubelnd begrüßten Tausende und aber Tausende von Geschöpfen das Licht und die Wärme, und wie in demütiger Verehrung vor dem glänzenden Gestirn senkten und zerteilten sich die Nebelstreifen.

Die Flüchtlinge bückten sich so tief in das Boot hinab, wie sie, ohne in ihrer Arbeit gehindert zu sein, nur konnten. Sie hatten jetzt wieder eine freie Aussicht, und mit Recht befürchteten sie, daß, im Falle einige der Räuber in den Booten der Indianer nach dem See hinaufgerudert sein sollten, ihre gerade über den Nebel emporragenden Köpfe, selbst in der bedeutenden Entfernung, bemerkt werden würden. Wäre es nämlich nicht die Absicht ihrer Verfolger gewesen, auch auf dem Wasser nach ihnen zu forschen, so würden sie auf dem Ufer an ihnen vorbeigeeilt sein, was ihnen dann natürlich nicht entgangen wäre. Daß sie bis jetzt noch keine Fahrzeuge gewahrten, erklärten sie dadurch, daß so lange vielleicht auf dem Ufer und in der Binsenwaldung nach ihnen gespürt worden war.

Dieses bedachten die Flüchtlinge sehr wohl, und um nicht gezwungen zu sein, sich den Tag über noch in der Binsenwaldung aufzuhalten, wo sie unbedingt gefunden und, nicht unwahrscheinlich, aus der Ferne wie Wild niedergeschossen wurden, suchten sie mit Aufbietung aller Kräfte die Mündung des Flusses zu erreichen.

Nachdem der Nebel sich so weit gesenkt hatte, daß sie bequem drüber hinweg zu schauen vermochten, glaubten sie die Flußmündung in gerader Richtung vor sich zu entdecken. Besorgnis erfüllte sie aber, als sie das schnelle Niederschlagen der Dünste beobachteten und zugleich berechneten, daß sie die Hälfte der halben Meile, die sie noch von ihrem Ziele trennte, im hellsten Sonnenschein würden zurückzulegen haben.

Dichter drängten sie ihr Fahrzeug an die Binsenwaldung heran, um jederzeit in diese einbiegen zu können, während Juan, der noch immer seinen Platz im Hinterteil behauptete, seine Augen fest aus den Punkt geheftet hielt, wo, wenn wirklich eine Verfolgung zu Wasser beschlossen wurde, die Boote zuerst erscheinen mußten.

Tiefer sank der letzte Rest der Nebelstreifen und lichter wurden ihre Bestandteile, als ob sie während des Fallens schon wieder von den Sonnenstrahlen aufgesogen worden wären.

Der Morgen war so schön, die frische, abgekühlte Luft so erquickend und der Jubel der Natur so zu Herzen dringend; die Flüchtlinge aber schoben ihr Kanoe eilfertig an der grünen Wand hin, während die besorgten Blicke rückwärts schweiften, denn nach den übrigen Richtungen hin befanden sich die Binsenwaldungen schon so nahe, daß das Fahrzeug von keinem Ufer aus bemerkt werden konnte.

Da zuckte der Arriero plötzlich erschreckt zusammen, und ein heftiger, wohlberechneter Stoß mit der Stange schleuderte die Spitze des Kanoes in die Binsen hinein. Die Gewalt, mit der das schwere Fahrzeug die Fluten durchschnitt, war so groß, daß in der nächsten Sekunde auch das Hinterteil vom See aus nicht mehr sichtbar war.

Die Binsen knickten, in Schauern rasselten die Tautropfen nieder, bald darauf war aber die Gewalt des Stoßes durch die zahlreichen Hindernisse gebrochen, und nur einzig mit Hilfe der Männer drang das Kanoe noch tiefer in die Waldung ein.

»Vorläufig in Sicherheit«, sagte Juan mit gedämpfter Stimme, mehr aus angeborener Vorsicht, als weil er sich etwa zu verraten gefürchtet hätte.

Er hatte nämlich über die niedrige Dunstschicht hinweg, gerade vor dem Indianerdorf, ein Fahrzeug bemerkt, das mit der Spitze aus dem Schilf auf den offenen Wasserspiegel trat; doch ehe er der in ihm befindlichen Männer ansichtig wurde, ehe er also auch von ihnen entdeckt werden konnte, war es ihm gelungen, zwischen den Binsen zu verschwinden.

»Vorläufig in Sicherheit«, wiederholte er, indem er, wie seine Gefährten, seine Arbeit einstellte und forschend um sich schaute.

»Aber auf wie lange?« fragte Robert, und mechanisch riß er eine Binse ab, um die Tiefe des Wassers zu prüfen. »Sie werden Scharfsinn genug besitzen, auch auf dem Wasser unsere Spuren verfolgen zu können. Der Weg, den wir eingeschlagen haben, ist deutlich genug gekennzeichnet, da wohl keine einzige der Binsen, an denen wir uns vorwärts schleppten, sich wieder aufgerichtet hat.«

Sidney und Fernando blickten auf den Arriero; ersterer mit einem gewissen Ausdruck von Selbstgefühl, weil sein Freund einen, nach seiner Ansicht, sehr treffenden Einwand gemacht hatte, letzterer dagegen mit seltsamer Ängstlichkeit, als ob er sein Todesurteil von ihm hätte vernehmen sollen.

Juan verzog sein sonst so ernstes Gesicht zu einem schlauen Lächeln und deutete mit dem Daumen der rechten Hand über seine Schulter nach dem See hinaus.

»Hinterlassen Pelikane und Schwäne Spuren, wenn sie die Fluten durchschneiden und mit den Füßen den Boden nicht mehr berühren?« fragte er den Majordomo. »Hinterlassen die Enten Spuren, wenn sie sich auf ihren vielbenutzten Pfaden durch das Schilf drängen?« fragte er weiter und wies mit der ausgestreckten Hand ins Dickicht, das von dergleichen Pfaden vielfach durchkreuzt war. »Die Eingeborenen dieses Tales besitzen keine Ruder; eine Stange genügt ihnen auf den seichten Seen, und da, wo wir entlang schlichen und die Halme niederbrachen, haben schon Hunderte vor uns ihre Spuren zurückgelassen. Nein, unsere Fährten sind nicht deutlicher ausgeprägt als die der Enten und Schwäne.«

»Juan, du könntest recht haben«, sagte Sidney mit sachverständiger Miene und schob, als echter Amerikaner, weil er so lange den Genuß eines Pfeifchens hatte entbehren müssen, ein kleines Stück Tabak zwischen seine Zähne, worauf er ebenfalls eine Binse abriß und das Wasser sondierte. »Ja, du könntest recht haben«, wiederholte er, und im schleppenden Ton seiner Stimme lag die kaltblütige Unerschrockenheit des braven Burschen.

»Er könnte nicht nur recht haben, sondern er hat auch vollkommen recht«, versetzte Robert, dem Arriero freundschaftlich die Hand hinüberreichend; »aber es scheint mir, du ärgerst dich darüber, den gescheiten Einfall nicht selbst gehabt zu haben.«

»Nein, bei Gott nicht!« versicherte Sidney, indem er nun seinerseits Robert die Hand drückte. »Ich liebe Juan wie einen Bruder und – aber verdammt! was ist das?« fuhr er auf, die Binse, die er in der Hand hielt, aufmerksam beobachtend; »wenn sich in diesem See keine Strömung befindet, will ich zeitlebens kein Pferd mehr besteigen und nur noch den schändlichsten Esel reiten, der in ganz Kalifornien aufzutreiben ist.«

»Wenn es überhaupt einen Esel gibt, der hoch genug ist, um deine langen Beine nicht in beständige Berührung mit dem Erdboden zu bringen«, versetzte Robert lachend, der ebenfalls jede Gefahr vergessen zu haben schien und, wie Juan und Fernando, die noch in seiner Hand befindliche Binse wieder aufrecht ins Wasser stellte.

»Die Mündung des Kernflusses ist nicht mehr weit«, bemerkte Juan, sobald er fühlte, daß der schlanke Binsenschaft einen leichten Druck an seinem unteren Ende erhielt und allmählich unter das Boot geschoben wurde.

»Und zwar mehr links hinüber und nicht dort in jenem Winkel, auf den wir so lange lossteuerten«, bekräftigte Robert, mit der Hand nach der angedeuteten Richtung weisend.

»Würde im entgegengesetzten Falle wohl nicht so tief hier sein,« fügte Sidney hinzu, indem er seine Binse hervorzog und das Ende, das unter Wasser gewesen war, bedächtig maß. »Vier Fuß, nicht mehr und nicht weniger.«

»Du könntest wohl recht haben«, versetzte Robert, mit komischem Ausdruck dieselben Worte wiederholend, die Sidney kurz vorher zu dem Arriero gesprochen. »Aber wir vergessen unsere ganze Lage und die Verluste, die wir heute schon erlitten haben«, fuhr er ernster fort, indem sich ein mitleidiger Blick zu Fernando hinüberstahl, dessen Besorgnis ihn rührte; »nach meiner Ansicht dürfen wir an dieser Stelle nicht bleiben.«

»Gewiß nicht,« bekräftigte der Arriero mit Entschiedenheit, »unser Weg ist aber nicht gefahrlos, denn seht nur,« sagte er, indem er das Kanoe leise schaukelte, »in wie weitem Umkreise sich die Binsen bewegen. Ein auf dem Ufer Wandelnder würde aus dem Wogen der Halme leicht die Anwesenheit eines Fahrzeugs erraten, und die andere Abteilung der Räuber kann nicht mehr fern sein.«

»Und doch müssen wir durch«, fügte Robert hinzu.

Nach dieser Beratung legten alle wieder Hand ans Werk, und langsam und bedächtig, jedes unnütze Aufregen des Wassers und Schwanken der Binsen sorgfältig vermeidend, schleppten sie das Kanoe der kaum bemerkbaren Strömung entgegen, und nur zeitweise rasteten sie auf Sekunden, um auf die Annäherung der Desperados zu lauschen, die sie von der Ostseite des Sees her erwarteten.

Plötzlich wurden die Binsen vor ihnen lichter, und sie gewahrten eine kanalähnliche Öffnung, die in einem Bogen gegen Nordosten führte. Sie hielten still.

»Der Fluß hat nur schwache Strömung«, bemerkte Robert, der den Kernfluß vor sich zu sehen glaubte.

»Es ist der Fluß nicht«, entgegnete Juan, indem er auf einige Binsenstoppeln zeigte, die handhoch über dem Wasserspiegel emporragten und deutlich erkennen ließen, daß die Halme mittelst eines scharfen Instrumentes abgeschnitten worden waren. »Dieser Gang ist zum Zwecke des Vogelfanges ausgeschnitten«, fuhr der Arriero erläuternd fort, als er sah, daß seine Gefährten mit neugierigen Blicken mehrere von Binsen geflochtene Gitter betrachteten, die seitlängs an die noch stehenden Binsen angelehnt waren. »Er muß unbedingt in den Fluß münden, weil das untere Ende nach dem See zu abgeschlossen ist. Die Gitter dort werden, wenn Enten und Gänse sich in großer Anzahl in der Mündung des Flusses und vor derselben angesammelt haben, quer über den Kanal gelegt und so hoch über dem Wasser befestigt, daß eine Gans bequem unter dem lichten Dach durchschwimmen kann. Durch vorsichtiges Scheuchen veranlassen die Jäger die Vögel, sich in den Gang zurückzuziehen, in dem sie sich vor ihren Verfolgern, denen sie keine bösen Absichten zuschreiben, verbergen zu können glauben. Die ausgespannten grünen Gitter haben nichts Befremdendes für sie, und erst, wenn die Jäger mit lautem Geschrei von allen Seiten auf sie eindrängen und sie sich, beim Auffliegen, in die Maschen verwickeln, entdecken sie zu spät, daß sie mit offenen Augen in die Falle gegangen sind.«

Das Kanoe war, weil sich ihm keine Hindernisse mehr entgegenstellten, schneller dahingeglitten, und als Juan seine Erklärung eben beendigt hatte, bog es um eine kurze Windung herum und in den eigentlichen Kernfluß hinein.

Der Fluß hatte eine Breite von ungefähr zwanzig Fuß, beschrieb aber immerwährend kurze Windungen, die bald vorwärts, bald rückwärts standen, wodurch das Kanoe beständig in einem scheinbar nach allen Seiten hin abgeschlossenen Becken schwamm.

Bei jeder Windung, die sie dem festen Boden näher brachte, tauchten die Baumwipfel etwas höher vor ihnen auf, und da sie erwarten mußten, nach jeder neuen Biegung einen Blick auf die freie Ebene zu gewinnen und auch von den auf der Ebene etwa zufällig Befindlichen wahrgenommen zu werden, so wurden sie immer behutsamer in ihren Bewegungen.

Endlich vermochten sie durch den letzten schmalen Binsenstreifen hindurch, wie durch einen Schleier, das Ufer und die Öffnung in diesem zu unterscheiden, aus der ihnen der Fluß entgegenströmte. Die Aussicht auf die Ebene blieb ihnen aber noch entzogen, weil die Ufer sich gegen zehn Fuß hoch über den Wasserspiegel erhoben und auch dort mit vereinzelten Pappelweiden und niedrigerem Gestrüpp eingesäumt waren.

Für ihre Flucht hätte die Bodengestaltung nicht günstiger sein können, doch hielten sie es für nötig, vor Fortsetzung derselben zu landen und sich von der Sicherheit der weiteren Umgebung zu überzeugen. Hatten sie erst den See mit seinen Binsenwaldungen hinter sich zurückgelassen und sie wurden von ihren Verfolgern entdeckt, so blieb ihnen kein anderes Mittel mehr, als sich nach besten Kräften so lange gegen die Übermacht zu verteidigen, bis ihnen vielleicht von den Talrändern aus Hilfe geschickt wurde.

Das Kanoe lag mit der Breitseite dem Ufer zugekehrt, mithin so, daß die vier Gefährten gleichzeitig, ohne sich gegenseitig zu hindern, das durch Binsen und die Schatten der Morgensonne verschleierte Ufer zu übersehen vermochten. Das kristallklare Wasser des Kernflusses rieselte eilfertig mit leisem Gemurmel unter ihnen fort, und in ihm spielten herdenweise die gefleckten Gebirgsforellen, als wenn sie, von Neugierde getrieben, den in ihren Augen gewiß unermeßlich großen schwimmenden Koloß mit den vier Männern genauer hätten betrachten wollen.

Da vernahmen sie das Gestampfe von schweren Hufen. Die Gefährten wechselten Blicke des Einverständnisses miteinander, und vor einem Anker hätte das Kanoe nicht ruhiger und fester liegen können, als vor den straffgezogenen Binsen.

Das Gestampfe näherte sich schnell aus der Richtung, aus der sie die Wegelagerer erwarteten, und gleich darauf entdeckten sie durch die Binsen hindurch die unbestimmten Formen eines Tieres, von der Größe eines Pferdes, das auf dem äußersten Rande des Ufers einherschritt. Ihnen gegenüber angekommen, blieb es stehen und hob den Kopf empor, und jetzt erst erkannten sie das mit einem kolossalen Geweih geschmückte Haupt eines Riesenhirsches, der, wenn auch nicht auf der Flucht begriffen, doch augenscheinlich mißtrauisch in die Ferne spähte.

Fernando sah verwunderungsvoll nach dem stolzen Tier hinüber. Die Augen der drei Jäger dagegen erweiterten sich bei dem schönen Anblick, und trotz der gefährlichen Lage, in der sie sich befanden, leuchtete eine fast unbezähmbare Jagdlust aus ihren Mienen.

Doch niemand rührte sich.

Da krachte ein Schuß aus dem Bett des Kernflusses. Der Hirsch stieß ein dumpfes Brüllen aus, zuckte zusammen, als ob die Beine den schweren Körper nicht mehr zu tragen vermocht hätten; dann aber schnellte er wieder empor, erreichte mit zwei mächtigen Sprüngen den Fluß, und seine letzten Kräfte noch einmal aufbietend, setzte er in hohem Bogen über die neun bis zehn Ellen breite Kluft hinweg.

Die Hufe bohrten sich auf dem gegenüberliegenden Ufer tief in den Rasen ein, aber die Knie bogen sich kraftlos zusammen. Ein unbeschreiblich trauriger, klagender Ton entrollte der tiefen Brust, und indem das stolze Tier verendend auf die Seite sank, richtete es seine brechenden Augen sehnsüchtig auf ein halbes Dutzend schwächerer Gefährten und Gefährtinnen, die, von Entsetzen ergriffen, auch noch über ihn fortsprangen und mit Windeseile in nördlicher Richtung davonstoben.

»Welch herrlicher Anblick!« sagten Robert und Sidney fast zugleich, als sie die wunderbar schönen Geschöpfe, gleichsam fliegend, über den Spitzen der Binsen emportauchen und die Luft in weiten Bogensätzen durchmessen sahen.

Fernandos große Augen dagegen hatten sich umflort, und leise flüsterte er vor sich hin: »Das arme, arme Tier.«

Gleichzeitig vernahmen die Flüchtlinge die Annäherung des glücklichen Schützen und sahen endlich auch einen grauen, zerrissenen Filzhut und darauf ein wettergebräuntes, bärtiges Antlitz in ihren Gesichtskreis treten.

Daß der Jäger nicht zu den Räubern gehörte, bewies schon allein der gutmütige Ausdruck seiner gerunzelten Züge, wie auch der Schnee mancher Jahre, der sich schon in Haupthaar und Bart angesammelt hatte und der ganzen Erscheinung eine gewisse Würde verlieh; doch zögerten die verborgenen Lauscher noch immer, ihre Anwesenheit zu verraten. Sie wollten vorher noch mehr von dem einsamen Fremdling sehen und erfahren.

Dieser befand sich auf der Seite, auf der der Hirsch zusammengebrochen war. Er mußte aber schon viel dergleichen edles Wild in seinem Leben erlegt haben und von der tödlichen Wirkung seiner sicheren Kugel sehr überzeugt sein, denn erst, nachdem er seine lange Missouribüchse wieder sorgfältig geladen und dann nachlässig über die Schulter geworfen hatte, schritt er langsam zu seiner Beute hin.

»Ein schöner Wapiti Wa-pi-ti, eine unter den Trappern gebräuchliche indianische Bezeichnung für »Riesenhirsch« ( Cervus elaphus).«, sagte er wohlgefällig vor sich hin, mit der Spitze seines Fußes das Fleisch auf den Rippen des Tieres prüfend. »Das Fleisch wird wohl auf vierzehn Tage reichen und sich bei der kühlen Witterung halten. – Armes Tier«, fuhr er nach einer Pause mitleidig fort, indem er die Büchse auf den Boden stützte und sich, wie um ernste Betrachtungen anzustellen, darauf lehnte. »Armes Tier, gewiß und wahrhaftig, ich habe dich nicht aus Übermut oder Laune getötet. Wäre nur Fleisch im Hause gewesen, so hättest du auf fünf Schritte bei mir vorüberziehen können, ohne daß ich auch nur einen Finger nach dir ausgestreckt hätte.

Jetzt betrug die Entfernung mindestens hundertundfünfzig Ellen. Bei Gott, ein schöner Schuß, hahaha! Die Jungens werden sich wundern, daß Auge und Hand ihres Alten noch so sicher sind.« Und indem der ergraute Jäger so sprach, nickte er wohlgefällig mit dem Haupt.

Die Flüchtlinge, die sich nahe genug befanden, um das Selbstgespräch des Alten verstehen zu können, hatten mit regster Teilnahme den Inhalt seiner Worte verfolgt.

»Ein Mann, der so viel Mitleid beim Anblick eines sterbenden Tieres empfindet, kann kein Verräter sein«, flüsterte Robert seinen Gefährten zu; »ich denke, wir treten offen vor ihn hin, wer weiß –« Hier brach er mit dem Nachsatz ab, denn er gewahrte, daß Juan den Finger zum Zeichen des Schweigens auf den Mund legte und zugleich einen vielsagenden Blick zu dem alten Jäger hinübersandte.

Robert folgte mit den Blicken der angedeuteten Richtung und bemerkte, daß der Jäger sich die Augen mit der Hand beschattete und aufmerksam gegen Süden spähte, als ob er von dort her jemanden erwarte.

»Hm«, sagte er nach einer Pause mit einer Gebärde der Unzufriedenheit; »ich möchte wissen, was die dort schon in aller Frühe hierherführt. Verdammt! Es scheint, als ob kein Winkel der Erde von Reisenden und fremden Eindringlingen verschont bleiben solle. Hm, hm, mich hier in meiner Einsamkeit zu stören oder gar meinen armen Hirschen nachzustellen«; Und so sprechend nahm er die Hand von den Augen zurück, lehnte sich wieder auf die Büchse, offenbar in der Absicht, seine Stellung nicht eher zu verändern, als bis diejenigen, die er ins Auge gefaßt hatte, bei ihm eingetroffen sein würden.

Robert und seine Gefährten vernahmen bald darauf das polternde Geräusch, mit dem eine Anzahl Pferde herbeitrabte.

Die Reiter selbst sahen sie nicht, indem diese sich eine kurze Strecke von dem Seeufer entfernt hielten, also nicht mehr über die Vegetation auf dem Uferrande vorragten. Dagegen sagte ihnen das plötzliche Verstummen des Geräusches, daß sie etwas weiter oberhalb am Kernfluß angelangt waren und durch diesen an ihrem weiteren Fortschreiten gehindert wurden.

»Hallo, alter Gentleman!« rief sodann jemand mit brutaler Vertraulichkeit aus. »Wo führt der Weg über diesen verdammten Fluß?«

Der Jäger verzog keine Miene, sondern ließ, soweit die Flüchtlinge zu unterscheiden vermochten, einen kalten, prüfenden Blick über die Fremden streifen und schien wenig geneigt, sie einer Antwort zu würdigen.

»Beim heiligen Patrik!« erschallte eine andere Stimme im breitesten irländischen Dialekt, »wir fragen, wo und auf welche Weise wir über den Fluß gelangen. Habt wohl das Sprechen verlernt in Eurer verdammten Wildnis?«

»Der Hirsch hier ist mit einem einzigen Satze herübergesprungen,« antwortete der Jäger trotzig.

»Wir reiten aber keine Hirsche, alter Bursche,« versetzte dieselbe irländische Stimme; »oder seid Ihr blind, daß Ihr unsere Pferde für Hirsche anseht?«

»Nicht ganz blind, so lange ich noch auf zweihundert Ellen einem Hirsch oder auch einem groben Burschen das Auge aus dem Kopfe zu schießen verstehe.«

»Dankt es dem Teufel, daß wir uns noch auf dieser Seite befinden, Eure alten Knochen möchten sonst die längste Zeit unversehrt geblieben sein!« antwortete dieselbe Stimme unter dem höhnischen Gelächter der übrigen Reiter.

»So?« versetzte der Jäger gedehnt, »also meinen Knochen soll es gelten? Sind zwar manches liebe Mal zerschossen, zerschlagen und wieder zusammengeflickt worden, trotzdem will ich Euch aber Gelegenheit geben, Eure Drohung auszuführen. Reitet nur eine kurze Strecke stromaufwärts, und Ihr werdet ein Furt finden, die von dem wilden Rindvieh gebrochen wurde!«

Die Reiter entfernten sich lachend; der alte Jäger schaute ihnen mit neugierigen Blicken nach und vertiefte sich augenscheinlich in Mutmaßungen über die Gesellschaft und deren Zwecke. Sidney dagegen stieß Robert an, und seine Lippen dessen Ohr nähernd, flüsterte er: »Es sind die Landstreicher, sie sollen ihn aber nicht anrühren, wenigstens nicht ungestraft.«

Der Majordomo nickte zustimmend, und dann versanken sie wieder in lautloses Schweigen.

Wie das Getrappel sich schnell entfernt hatte, so näherte es sich auch nach einiger Zeit wieder. Kaum trat indessen der Kopf des Vordersten über dem Uferrand hervor, so legte Roberts Hand sich mit krampfhaftem Griff auf Sidneys Arm, wobei er ihn durch einen Blick aufforderte, den fremden Reiter genau zu betrachten.

Sidney gab keine Antwort, denn er hatte gleichzeitig mit dem Majordomo die bezeichnete Persönlichkeit ins Auge gefaßt. Sein Gesicht drückte das größte Erstaunen aus und schien vor Verwunderung förmlich versteinert zu sein, als er den so gepriesenen treuen Diener jener spanischen Geschwister erkannte, die vor kurzer Zeit Don Sanchez' Gastfreundschaft für sich in Anspruch nahmen und dort durch ihr liebenswürdiges Auftreten alle Herzen gewannen.

Er war so überrascht, daß er seinen Augen nicht glaubte trauen zu dürfen. Ein Irrtum konnte indessen nicht obwalten; er sah den gelbhaarigen, vierschrötigen Irländer mit dem rötlichen Bart leibhaftig vor sich, gerade so, wie er ihn damals vor sich gesehen hatte; und wohl wußte er sich jetzt zu erklären, warum schon gleich von Anfang an die Stimme ihm so bekannt geklungen hatte.

Den Majordomo dagegen, sobald er über die Person des Irländers nicht mehr im Zweifel war, bestürmten ganz andere Gefühle. Daß er den vorgeblichen Diener jener unbekannten Geschwister jetzt an der Spitze einer Bande von gefährlichen Wegelagerern wiederfand, erfüllte ihn auch mit Mißtrauen gegen die Geschwister selbst.

Was die Leute bezweckten, die sich unter solch glänzenden Masken in die Rancho eingeschlichen hatten, das vermochte er nicht zu enträtseln; aber nahe lag die jetzt gewissermaßen beruhigende Ansicht, daß man sich nur über seine Reise nach San Franzisko hatte Auskunft verschaffen wollen, um ihm demnächst auflauern und ihn ausplündern zu können.

Dabei beunruhigte ihn aber, daß Juan störrisch für die Eingebungen eines Traumes erklärte, was, nach seiner eigenen Überzeugung, infolge einer Entdeckung stattgefunden und was dann den Glauben in ihm befestigte, daß die Nachricht von irgendwelchen traurigen Begebenheiten ihn auf der Rancho erwarte.

Er dachte an Inez, an Maria und an den Ranchero; er dachte auch an Ramiro, aber nirgends fand er einen Anknüpfungspunkt, den er mit dem Erscheinen der unzweifelhaft betrügerischen Spanier hätte in Verbindung bringen können. Dergleichen Befürchtungen bestürmten also den Majordomo eben mit Gedankenschnelligkeit, als er den Kopf Finneys vor sich auftauchen sah. Seine Züge mußten, wie bei Sidney, den Ausdruck seiner Gefühle zur Schau tragen, denn Fernando wurde, indem er seinen Wohltäter beobachtete, von viel größerer Besorgnis ergriffen, als er während der ganzen Nacht geäußert hatte.

Juan erkannte in der markierten Erscheinung und Ausdrucksweise augenblicklich den Räuber wieder, der am vorhergehenden Abend in dem Hinterhalt das Wort führte. Er bemerkte sogar das Fernrohr, das sich dieser mittelst eines Riemens um die Schultern geschlungen hatte. Seine Züge veränderte der jugendliche Arriero bei dieser Entdeckung indessen nicht, und das unheimliche Glühen seiner schwarzen Augen hätte ebensogut für den Ausdruck innerer Befriedigung gelten können, die er darüber empfand, sich nicht in der Person getäuscht zu haben, als auch für ein Gefühl des Hasses und der Rache, das die Erinnerung an das geopferte Pferd seiner Herrin beim Anblick derjenigen, die ein so grausames Opfer verschuldet, in seiner Brust erweckte.

»Da sind wir«, sagte der Irländer, sobald er bei dem Jäger angekommen war.

»Ja, da seid ihr«, unterbrach ihn dieser, und ein spöttischer Blick schoß unter den buschigen Augenbrauen hervor; »da seid ihr, und meine Knochen sind noch ebenso unversehrt, wie am Tage meiner Geburt, nur etwas steifer mögen sie geworden sein.«

Indem der alte Jäger so sprach, malte sich eine seltsame Zuversicht auf seinen eisenharten Zügen; dabei umgab ihn eine solche Würde, daß nicht nur Finney, sondern auch die übrigen Wegelagerer eine gewisse Scheu vor ihm empfanden und an nichts weniger dachten, als ihre brutalen Scherze fortzusetzen.

»War nicht so ernstlich gemeint«, entgegnete Finney, sich verlegen im Sattel hin und her windend, indem er sein Gesicht den ernsten Blicken des Jägers vollständig entzog.

»Hm«, machte der Trapper, und prüfend betrachtete er jede einzelne der verwilderten Gestalten vom Kopf bis zu den Füßen. »Glaube kaum, daß jemand, der meine Knochen in feindlicher Absicht berührt, das Tularetal lebendig verläßt. Seid wohl auf der Jagd begriffen?« fragte er dann plötzlich, das eine Auge mit einem bedeutungsvollen Lächeln zukneifend.

»Kümmert Euch nicht um das, was wir sind«, entgegnete einer, dem in der Gegenwart des entschlossenen Jägers unheimlich zu werden begann; »wir fragen ja nicht, was Ihr seid; gebt uns lieber Auskunft, ob nicht einige Reiter hier vorbeigekommen sind.«

»Nicht mehr, als recht und billig,« versetzte der Schütze, »geht mich eigentlich gar nichts an, wer ihr seid. Das Tal ist groß genug für uns alle, ohne daß wir einer den andern zu hindern brauchen – Reiter gesehen?« fuhr er fort, indem er seine Blicke langsam in der Ferne herumschweifen ließ, »Reiter gesehen? – In der Tat, außer euch niemand – kümmere mich auch nicht viel um andere Menschen, so lange sie mich nicht belästigen.«

»Kommt,« sagte Finney endlich voller Ungeduld, »ihr seht, er will uns los sein.« Und seinem Pferde die Zügel schießen lassend, suchte er sich an dem alten Mann vorbeizudrängen. Dieser machte nämlich den Eindruck auf ihn, als wenn er nicht so einsam dastehe, wie es schien, und als wenn er, im Fall eines ernstern Haders, ihm und seinen Genossen gefährlich werden könne.

»Nicht von der Stelle, bis er mir einen Anteil von dem Hirsch abgeschnitten und aufs Pferd gereicht hat!« polterte einer der im Hintergrund Haltenden. »Ja, und einen guten Anteil, oder ich will mich an den ersten besten Baum hängen lassen.«

Während der Bandit noch fluchte, ließ sich aus dem Rande der Binsenwaldung, und zwar kaum hundert Schritte nördlich von der Stelle, wo die Flüchtlinge hielten, das schmetternde Gerassel einer Locustgrille vernehmen.

Juan schaute verwundert auf, ebenso Robert und Sidney; denn daß der Ton nicht wirklich von dem geräuschvollen Insekt herrühren könne, unterlag keinem Zweifel, da, wenn sich wirklich ein solches dort befunden hätte, dieses nicht imstande gewesen wäre, auf dem vom Tau befeuchteten Trommelfellchen einen so durchdringenden Wirbel zu schlagen.

Die Räuber, durch die brutale Forderung ihres Kameraden wieder ermutigt, achteten nicht auf das Geräusch. Über das Gesicht des Trappers dagegen breitete sich ein zufriedenes Lächeln aus, indem er wie tadelnd fein greises Haupt leise schüttelte. »Die Jungens sind zu vorsichtig,« sprach er schmunzelnd vor sich hin, »bin doch wahrhaftig nicht so hilflos.«

»Was schwatzt der alte Sünder da!« rief jetzt ein anderer aus. »Er glaubt wohl, wir haben Zeit, so lange zu warten, bis es ihm gefällig ist, unsere Wünsche zu erfüllen?«

»Also nach dem Pferde hinaufreichen soll ich das Fleisch?« fragte der Jäger, indem er sich noch behaglicher auf seine Büchse lehnte.

»Ja, oder ich will verdammt sein!« hieß es zurück.

»Das Wild dieses Tales gehört Euch so gut wie mir,« erläuterte der Jäger, »es kommt nur darauf an, wer es schießt. Da liegt der Hirsch, wenn Ihr hungrig seid, dann nehmt so viel davon, wie Euch behagt, es ist so Sitte bei uns im Gebirge. Was aber die Forderung, Euch zu bedienen, anbetrifft, so denke ich, daß Ihr doch wohl verdammt sein werdet.«

»Laßt ihn, laßt ihn!« riefen einige aus. Der aber, an den der Alte seine Worte gerichtet hatte, spornte mit einem gräßlichen Fluch sein Pferd gerade auf den Jäger zu, wie um ihn zu überreiten. Er war indessen noch nicht an ihn heran, da traf ein Schlag mit dem Rohr der Büchse sein Pferd auf die Nase, daß dieses sich hoch aufbäumte und sich beinahe überschlagen hätte.

Im nächsten Augenblick stand die Büchse aber auch schon wieder auf der Erde, und mit der Hand dahin deutend, wo kurz vorher das Rasseln der Grille laut geworden war, sagte der Trapper in seiner ruhigen, gemessenen Weise:

siehe Bildunterschrift

»...Muß euch wenig an eurem Leben gelegen sein, daß ihr einem alten Manne zu drohen wagt.«

»Muß euch wenig an eurem Leben gelegen sein, daß ihr einem alten Manne zu drohen wagt.«

Die Desparados schauten hin, und gar unheimlich wurde ihnen zumute, als sie in geringer Entfernung die Mündungen von drei Büchsen auf sich gerichtet sahen. Zu gleicher Zeit vernahmen sie auch das Rauschen, mit dem sich das Kanoe der Flüchtlinge durch die Binsen drängte.

Sie warteten nicht, bis sie der in dem Boot Befindlichen ansichtig wurden. Der Kampf schien ihnen, trotzdem sie gut bewaffnet waren, jetzt zu ungleich, vor allen Dingen aber zu wenig nutzbringend. Sie spornten daher ihre Pferde, riefen dem Alten noch zu, daß sie nur ihren Scherz mit ihm hätten treiben wollen, und bald darauf verschwanden sie hinter einer vorspringenden Ecke der Binsenwaldung.


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