Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel.
Ave Maria

. Manuel hatte ruhig auf seinem Posten ausgehalten. Deutlich war der Lärm von dem Schauplatz des Verbrechens zu ihm gedrungen. Aber fühllos wie das Gestein, das sich dicht vor ihm zu mächtigen Bergmassen übereinander türmte, übten die lauten Ausbrüche der Wut, des Schmerzes und der Todesangst keinen Eindruck auf ihn aus. Dagegen berechnete er mit Schadenfreude die ihm aus seiner Mitwissenschaft und seiner mittelbaren Beihilfe erwachsenden Vorteile, sich glücklich preisend, der Stelle fern zu sein, wo eine abirrende Kugel ihm verderblich werden konnte.

So blieb er sorglos auf derselben Stelle liegen und erging sich in Betrachtungen über die Zukunft, die ihm ein behagliches Dasein ohne Arbeit versprach. Der Lärm war verstummt, aber Manuel ließ sich dadurch in seiner Ruhe nicht stören. Gemäß der Verabredung harrte er auf Guzman, der nach vollbrachter Tat sich zu ihm gesellen wollte, um gemeinschaftlich mit ihm die Kunde von dem Überfall der Indianer nach der Stadt zu tragen und, indem sie zur schleunigsten Hilfe aufforderten, jeden Schein der Mitschuld von sich abzuwälzen.

Die Zeit verrann, doch Guzman kam nicht. Dafür aber erhellte ein greller Feuerschein, dem heftiges Knistern und Krachen folgte, die dem Vaquero sichtbaren Höhen der Einfassung von Estevans Talwinkel.

»Feuer!« rief der versteckte Bösewicht mit einem Gemisch von Überraschung und Schadenfreude, indem er emporsprang und so weit um die Ecke der Taleinfassung herumlief, daß er die Rancho zu überblicken vermochte, »Feuer!« wiederholte er grinsend, als er wirklich das Wohngebäude und die nächsten Ställe in Flammen sah.

»Wie, wenn sie mich hintergangen hätten und mit dem Raube entflohen wären?« sagte er plötzlich, von Schrecken befallen, und vollen Laufes eilte er nach dem brennenden Wohnhause hin. Die nächste Umgebung war so hell beleuchtet, daß er sogleich das Fehlen der Pferde gewahrte. Der Raub war also geglückt, doch wo waren Gonzalez und Guzman, wo der Ranchero und seine Familie? Da erblickte er dicht vor sich Don Estevans Leiche. Er prallte erschreckt zurück, faßte sich aber schnell wieder. Ein heftiger Fluch entfuhr seinen zusammengepreßten Lippen. »So irrte ich also nicht, als ich annahm, daß es sich um etwas anderes als bloßen Raub handelte«, fügte er hinzu, indem er seine Augen von dem blutigen Körper des Rancheros abwandte und um das Haus herumschritt. »Sie haben mich betrogen«, murmelte er zähneknirschend, »betrogen wie einen Schulbuben, Carajo! – Ich werde sie aber wiederfinden –«

Hier brach er plötzlich in seiner Rede ab; er hatte nicht auf den Weg geachtet und war über einen weichen Gegenstand zu Boden gestolpert.

Doch ebenso schnell, wie er gefallen war, raffte er sich wieder empor; sein Haar sträubte sich, als er sah, daß er mit einem menschlichen Körper in Berührung gekommen war, und als er dann, zurückspringend, seine stieren Blicke darauf richtete, da erkannte er den gräßlich entstellten Guzman, der, die Hand noch immer in der Brusttasche, so dalag, wie Nintsa-Pesch ihn hingeworfen hatte.

»Du hast mich wenigstens nicht hintergangen«, sagte er leise, nachdem er den Anflug von Entsetzen schnell niedergekämpft hatte und dicht an die regungslose Gestalt herangetreten war. »Nein, du nicht, Carajo! Wenn er nur die Tat vollbracht hätte, ehe ihm der Navahoe die Haut vom Scheitel streifte«, und indem er so sprach, kniete er nieder und zog vorsichtig Guzmans verborgene Hand hervor.

»Papiere, Dokumente und kein Gold!« fuhr er mit einem Ausdruck bitterer Enttäuschung fort, als er eine Rolle vergilbten Pergaments in der starren Faust gewahrte. »Die Sachen müssen aber von großem Wert sein, daß er sie sogar im Tode nicht hat fahren lassen«, sprach er weiter, und nachdem er etwa eine Minute ängstlich gelauscht hatte, öffnete er die krampfhaft geschlossenen Finger, und gleich darauf befand sich die Rolle in seiner Hand.

Hastig trat er in den hellen Glanz des Feuers, und bebend vor Erwartung entfaltete er den äußersten Bogen. Doch die durcheinander laufenden Linien, die teils mit ausgeblaßter roter, teils mit schwarzer Tinte gezogen und durch vereinzelte Worte erläutert waren, blieben ihm unverständlich und daher wertlos. Er hielt den Bogen für den Umschlag, in dem das eigentliche Dokument aufbewahrt gewesen, und ihn fallen lassend, beeilte er sich, die andere Pergamentrolle vollständig zu entfalten.

Große Buchstaben in altmodischer Form leuchteten ihm entgegen, und augenblicklich begann er zu lesen.

Schon die ersten Zeilen mußten außergewöhnliche Andeutungen enthalten, denn indem er die Buchstaben mühsam entzifferte und in Worte zusammenzog, wich die Spannung in seinen Zügen immer mehr einem triumphierenden Ausdruck. Sein blaßgelbes Gesicht erhielt eine tiefe Röte, als ob die hoch emporlodernden Flammen sich darin gespiegelt hätten; seine Augen funkelten wild und dämonisch; die Lippen begannen sich zu regen, und zuerst leise, dann aber gegen das Ende hin lauter und deutlicher sprachen sie aus, was auf dem Pergament geschrieben stand.

»Nombrado por Carlos quinto de la Gran Quivira!« endigte er, und die Hand mit dem Pergament sinken lassend, stierte er nachdenklich in die knatternde Glut.

»Ich, ein reicher Mann!« rief er mit einem tiefen Seufzer aus, und wiederum flogen seine Blicke über das Pergament.

»Ja, hier steht's, es ist keine Täuschung: »Nombrado por Carlos quinto de la Gran Quivira!« wiederholte er keuchend vor innerem Frohlocken.

»Der Schatz gehört mir, der große, große Schatz, den die frommen, habsüchtigen Väter einst so sorgfältig verscharrten! Mir, mir allein! Ha ha ha!« lachte er grausig über Guzmans blutigem Körper hin.

»Der Wein und die Mädchen voll Glut unsrer harren,
Vergeudet das Gold bei dem Klang der Gitarren,
Und hebet die Füße und wirbelt im Kreise,
Denn Lieben und Tanzen –«

sangen im fröhlichen Chor ein halbes Dutzend der von dem Fandango heimkehrenden Mädchen und Burschen, die sich so lange dicht unter den Abhängen der nördlichen Berggrenze hinbewegt hatten.

Der Feuerschein, der über Estevans Talwinkel schwebte, war ihnen dort verborgen geblieben; in dem Augenblick aber, in dem sie sangen: »Lieben und Tanzen« bogen sie um die Bergecke herum und: »Feuer!« brach es gellend von den Lippen der erschreckten Leute, die alle mehr oder weniger ihre Habe bei dem Brande eingebüßt hatten.

Eine Weile standen sie sprachlos vor Entsetzen da. Eine Ahnung, daß die Indianer wieder einmal nach langer Pause das Tal heimgesucht und sich vielleicht, auf weitern Raub und Gefangene lauernd, in der Nähe verborgen hielten, bemächtigte sich aller. Niemand wagte es, sich nach der Brandstätte hinzubegeben und die Rettung eines Teils des dem Untergange geweihten Eigentums zu versuchen.

Da gewahrten sie eine Gestalt, die, wie von Feinden verfolgt, im schnellsten Lauf auf sie zugestürzt kam. Die Kopfbedeckung hatte sie verloren, und wild flatterten die Haare um ihr Haupt.

Die Leute, von panischem Schrecken ergriffen, wandten sich zur Flucht; doch Manuels Ruf brachte sie sogleich wieder zum Stehen. »Die Indianer!« rief dieser atemlos aus, sobald er bei ihnen angekommen war; »sie haben alle erschlagen, den Ranchero mit Weib und Kind, Guzman und Gonzalez! Alle sind tot, und die Pferde sind geraubt!«

Die Wirkung der mit allen Zeichen des Entsetzens und aufrichtiger Teilnahme hervorgebrachten Nachricht war eine so niederschmetternde, daß die Gesellschaft schon wieder an die Flucht dachte. Nur durch des Vaqueros heilige Versicherung, die Indianer seien verschwunden, und durch seine mit überzeugendem Ausdruck vorgespiegelte Hoffnung, es könne dem einen oder dem andern der Verwundeten vielleicht noch Beistand geleistet werden, ließen sich die zagenden Menschen bewegen, ihn nach der Brandstätte hin zurück zu begleiten.

Sie sahen dort den skalpierten Guzman, den getöteten Ranchero und die arme Juanita und gewannen die Gewißheit, daß hier eine Hilfe nicht mehr möglich sei. Der eigentümliche Brandgeruch aber, der aus dem zusammengebrochenen Hause hervordrang, belehrte sie, daß diese nicht die einzigen waren, die der indianischen Raublust zum Opfer gefallen, sondern daß auch Gonzalez nebst den Kindern mutmaßlich unter dem glühenden Schutt begraben liege.

Wenn Manuel auch nicht bezweifelte, daß der Arriero sich den Indianern angeschlossen habe, so suchte er doch den Glauben, jener sei im Kampfe gegen die Räuber umgekommen, noch zu befestigen; und als er sich nach kurzem Säumen mit den Leuten nach Cuesta zurückbegab, um dem Alkalde Anzeige von dem verräterischen Überfall zu machen, da herrschte unter seinen Begleitern nur die eine Ansicht und die eine Stimme: daß von Estevans Familie und seinen Hausfreunden kein einziges Mitglied entkommen sei, und Manuel, der den Tod seines Wohltäters so aufrichtig beklagte, ein besseres Herz in der Brust berge, als man ihm bei seinem brutalen Wesen und seinen sonstigen Fehlern allgemein zutraute. –

Gonzalez war nicht tot, ebensowenig hatte er sich den Navahoes angeschlossen. Er war ihnen nur eine Strecke weit nachgesetzt, um ihnen den geraubten Knaben abzujagen, ihn Juanita, die er nicht für tödlich verwundet hielt, ans Herz zu legen und sie auf diese Weise für den Verlust des Gatten und des jüngsten Kindes zu trösten.

Seine Verfolgung erwies sich als fruchtlos. Er kehrte zurück, um Juanita seinen Beistand zuzuwenden und sie aus der schrecklichen Umgebung zu entfernen.

Die emporlodernden Flammen spornten ihn zur Eile, und er traf gerade auf der Brandstätte bei der Leiche der jungen Frau ein, als Manuel den heimkehrenden Tänzern entgegengelaufen war.

Bei der Helligkeit, die die Flammen des Wohnhauses verbreiteten, gewahrte er sogleich, daß Juanita sich außerhalb des Bereichs aller menschlichen Hilfe befinde. Er erstarrte bei der grausigen Entdeckung; seine Hände rang er krampfhaft ineinander, und seine Augen schienen aus ihren Höhlen drängen zu wollen, indem er die Blicke auf die selbst im Tode noch so milden Züge der jungen Frau heftete.

So stand er regungslos; doch weder Schmerz noch Reue spiegelten sich in den unbeweglichen Zügen. Im Gegenteil, eine gewisse Zufriedenheit darüber, daß der Gegenstand seiner unbezähmbaren Leidenschaften nun keinem andern mehr gehören könne, zuckte kaum bemerkbar um seine Lippen, während die schrecklichste Wut über das Fehlschlagen seiner Pläne, das Zertrümmern langgehegter Hoffnungen seine Brust erfüllten.

Da vernahm er die Stimmen der sich nähernden Leute. Besorgt schaute er sich um; dann warf er nur noch einen einzigen stieren Blick auf Juanita, schlug sich verzweiflungsvoll mit beiden Fäusten auf die in kalten Schweiß gebadete Stirn, und wie von den Furien der Hölle gegeißelt, stürzte er den schwarzen Schatten unter den nahen Bergabhängen zu.

Niemand hatte ihn bemerkt, niemand hatte ihn in Neumexiko je wiedergesehen. Man glaubte ihn unter den Trümmern des Hauses begraben. –

Das Feuer hatte in dem eingeernteten Getreide reiche Nahrung gefunden; die Gebäude, außer einigen kleinen Stallungen, waren niedergebrannt; gespenstisch ragten hin und wieder Mauerreste empor; statt der früheren hohen Flammen entstieg ein dicker Qualm den Trümmern, und nur an Stellen, wo die Flammen noch an aufrechtstehenden, halbverkohlten Türpfosten hinaufzüngelten, oder wenn der unregelmäßige Luftzug die Asche von der Glut fortfegte und letztere auf Minuten hell anfachte, erhielten die steil emporwirbelnden Rauchwolken eine blutrote Beleuchtung, die sich dann von diesen wieder den Gegenständen im nächsten Umkreise mitteilte.

Im Osten, als ob es der Widerschein des Brandes gewesen wäre, meldete sich mit mildem Rot der junge Tag an. Seltener knisterten und krachten die verkohlenden Balken, kleiner wurde der Kreis, in dem die den glühenden Trümmern entströmende Wärme fühlbar war, und schwerer senkte sich der Tau auf Gras und Stoppeln.

Unheimliche traurige Stille herrschte in Estevans verödetem Talwinkel, und hätte die Ziege, die sich noch immer nicht aus der Hundehütte herauswagte, nicht mitunter leise gemeckert, so würde man die vor wenigen Stunden noch so reich belebte kleine Landschaft für gänzlich ausgestorben haben halten können.

Guzman lag noch immer da, wo Nintsa-Pesch ihn hingeschleppt; kein Glied hatte er gerührt. Auch über ihn fuhr der Luftzug hin, aber er spielte nicht, wie bei dem ermordeten Estevan und dessen lieblicher Gattin, mit schwarzen Locken, dagegen kühlte er mitleidig den wunden Scheitel, den indianische Grausamkeit so furchtbar entstellt hatte.

Er kühlte so lange und trieb die von den Gluthaufen ausströmende Wärme so weit zurück, daß seine Wirkung auf den verletzten Körperteil zugleich empfindlich und doch wohltuend wurde.

Guzman zuckte einige Male schmerzlich zusammen und schlug dann die Augen auf. Wild und ausdruckslos starrte er in die Flammen. Allmählich aber schienen die rasenden Schmerzen seinem Gedächtnis zu Hilfe zu kommen, denn seine Hände hoben sich mechanisch nach seinem Haupte. Er schauderte bei der Berührung, und mit einem tiefen Seufzer, der sich röchelnd seiner Brust entwand, schloß er aufs neue die Augen. Doch als ob ihm plötzlich etwas von größter Wichtigkeit eingefallen wäre, riß er sie wieder weit auf und schnellte in eine sitzende Stellung empor, indem er gleichzeitig mit beiden Händen nach seiner Brusttasche griff.

Er suchte eine Weile nach den geraubten Papieren, und als er diese nicht fand, stieß er ein schreckliches, heiseres Lachen aus, das einem zufälligen Zeugen Entsetzen hätte einflößen müssen, selbst auch dann, wenn ihm die furchtbar entstellten, von Blut überströmten Züge des Unglücklichen verborgen geblieben wären.

Der körperliche Schmerz übermannte ihn endlich wieder, er sprang empor, wie um sich durch die Flucht den gräßlichen Qualen zu entziehen.

Er tat einige Schritte vorwärts und stutzte: seine Blicke waren auf das Papier gefallen, das Manuel als wertlos zur Seite geworfen hatte, und indem er sich hastig danach bückte, erhielten seine Augen wieder den Ausdruck unbesiegbarer Habgier.

Obschon die Wärme das Brennen seines wunden Kopfes noch verstärkte, so trat er doch dicht an die letzten Flammen der hölzernen Türschwelle und begann das Papier sorgfältig zu prüfen.

»Es ist das eine«, murmelte er mit dem Ausdruck namenloser geistiger und körperlicher Qualen. »Es ist das eine; das Bergwerk wenigstens gehört mir! O, mein Kopf, mein Kopf! das Bergwerk und das Gold darin! Aber die Schätze in den Ruinen von Gran Quivira! Wo sind sie? Sie gingen in Flammen auf! Niemand wird sie haben! Niemand! O, mein Kopf, die Indianer!« und bald wehklagend, bald blödsinnig lachend, schritt Guzman eine Zeitlang ununterbrochen im Kreise herum, wie um das andere Dokument auf der Erde zu suchen.

Der heftige Schlag und darauf die grauenhafte Operation des Skalpierens hatten seinen Verstand gestört. Die Erinnerung an das jüngst Erlebte und an die, mit denen er lange Jahre verkehrte, hatte er verloren, und nur die Gier nach Geld, die sein und seiner Wohltäter Unglück herbeigeführt, war geblieben, um, allmählich stärker und stärker hervortretend, alle übrigen Gefühle und Gedanken immer weiter zurückzudrängen und nie wieder vollständig zum Durchbruch kommen zu lassen. –

Da vernahm er das klägliche Wimmern eines kleinen Kindes, und erschreckt zusammenfahrend, flüsterte er geheimnisvoll: »Juanitas Kind, das Kind meines Freundes Fernando Estevan; wer war Fernando? Ja, Fernando soll es heißen, ich will es suchen, Fernando, Fernando, Fernando« – und den Vornamen des erschlagenen Estevan vor sich hinmurmelnd, folgte er dem Klange der weinenden Kinderstimme, bis er auf der andern Seite des dampfenden Trümmerhaufens bei der Hundehütte anlangte.

Kalt streiften seine Blicke über die tote Juanita hin; er erkannte sie nicht wieder, und indem er auf den Zehen an ihr vorbeischlich, flüsterte er: »Leise, leise, damit sie nicht erwacht, und hebet die Füße und wirbelt im Kreise, denn Lieben – Lieben? was ist Lieben? Lieben ist Gold – und Gold ist in dem Bergwerk.«

Bei der Erwähnung des Bergwerks fiel ihm das Papier ein, auf dem der Plan der alten verschütteten Goldminen aufgezeichnet war, und ängstlich preßte er die Hände auf seine Brusttasche, als hätte ihm die Beute von der Leiche der jungen Mutter entrissen, oder er selbst verraten werden können.

Da ertönte das Jammern des Kindes lauter und kläglicher, und indem er sich nach der Richtung wendete, aus der es zu ihm drang, gewahrte er in der tanzenden Beleuchtung einiger flackernder Sparren den gehörnten Kopf der Ziege, der aus der Öffnung der Hütte hervorschaute.

»Tiere weinen nicht«, sagte er in leisestem Flüsterton, und mechanisch streckte er seine Hand nach den Hörnern aus.

Doch die Ziege schien nicht willens, sich in ihrer Ruhe stören zu lassen und schüttelte unwillig den Kopf.

Guzman prallte zurück; ein schwacher Strahl von Bewußtsein leuchtete aus seinen Augen, und hastig, wie um den günstigen Zeitpunkt nicht unbenutzt verstreichen zu lassen, bückte er sich nieder, löste die Kette von der Hütte und befestigte sie dem sich sträubenden Tiere ans Halsband. Nur mit größter Anstrengung und nach mehreren vergeblichen Versuchen gelang es ihm erst, die störrische Ziege ins Freie zu zerren. Kaum befand sie sich aber draußen, so verlor sie ihre üble Laune, und zutraulich, wie gewöhnlich, schritt sie zu ihrer toten Herrin hinüber, die sie dann, leise meckernd, beschnupperte.

Guzman hatte sich unterdessen niedergelegt und versuchte es, den Säugling aus dem Versteck hervorzuholen. Das erste, was ihm in die Hände fiel, war ein Tuch, in das das Kind eingehüllt gewesen war. Er betrachtete es einen Augenblick mit nachdenkender Miene. Da mußten aber die Schmerzen an seinem Kopfe wieder überhand nehmen, denn er stieß einige erschütternde Klagelaute aus, worauf er das Tuch hastig und unter lauten Äußerungen fürchterlichster Qualen turbanartig um sein Haupt wand. Dies Verfahren schien ihm etwas Linderung zu verschaffen, denn ruhiger als er vorher getan, kroch er wieder mit dem halben Oberkörper in die Hütte hinein und holte das Kind hervor.

Abermals schien Guzman bei den klagenden Tönen, die das Kind ausstieß, aus seinem Stumpfsinn zu erwachen, und das klare Bewußtsein ihm auf Momente zurückzukehren. In seiner Angst zog er die Ziege zu sich heran, zwang sie, sich niederzulegen, und brachte den Säugling so an sie heran, daß er die Nahrung von ihr ohne große Mühe zu sich nehmen konnte.

Das arme kleine Wesen winselte zufrieden und beruhigte sich schnell, und noch keine Viertelstunde war vergangen, da war es, als habe es an der treuen Mutter Brust geruht, sanft eingeschlafen.

Guzman war unterdessen, teils von namenloser Pein getrieben, teils einem dumpfen Instinkt folgend, nach dem nahen Brunnen hingeeilt, und nachdem er seinen brennenden Durst mit frischen Wasser gelöscht hatte, befeuchtete er auch noch den einfachen Verband an seinem Kopfe. Als er dann zu der Ziege zurückkehrte und den Säugling so ruhig schlafen sah, da brach er in laute Klagen aus.

»O, sie werden mich verraten!« rief er schmerzlich. »Das Kind und die Ziege, sie haben mich beobachtet, sie werden mich verraten! Doch was habe ich verbrochen? – Ach ja, ich bin im Besitz einer Goldmine; Grund genug, mich zu verraten, zu verfolgen. Aber halt!« flüsterte er leise, indem er sich ängstlich nach allen Richtungen umschaute; »ich werde ihnen entgehen; die Ziege und die Milch und das Kind, ich nehme alles mit, mit ins Gebirge, mit an die verborgene Quelle, – und wirbelt im Kreise, beim Klang der Gitarren – meine Haare werden wieder wachsen, niemand mich erkennen – erkennen – erkennen« – und mit ängstlicher Hast, und das Wort »erkennen« fort und fort vor sich hinmurmelnd, hüllte er das schlummernde Kind in Juanitas blutigen Reboso.

Als er hiermit zustande gekommen war, ergriff er die Kette, an der er die Ziege befestigt hatte, und diese hinter sich herziehend, das Kind aber behutsam im Arm haltend, schwankte er der nördlichsten Spitze des Talwinkels zu, wo eine zugängliche Schlucht nach dem ersten Plateau hinauf und von dort in das Gebirge führte. –

Flammende Röte schmückte den Osten; schwarz und traurig nahmen sich dagegen die rauchenden Trümmer von Estevans Rancho aus, und über die betauten Stoppeln pfiff kalt und melancholisch der aufspringende Morgenwind. Er spielte mit Rauch, Funken und Asche, und trank zugleich die Millionen von Tauperlen im Rasen, zwischen denen der fliehende Guzman seine Spuren deutlich zurückgelassen hatte. –

Ein Jahr später wurde zwar in der Gegend von Santa Fé mehrfach ein kränklicher Mann beobachtet, der, eine Ziege führend und ein kleines Kind tragend, sich kümmerlich von Ort zu Ort durchbettelte, doch wurde ihm weiter keine Aufmerksamkeit geschenkt, um so mehr, da er immer bald wieder verschwand.

Die Kunde von dem Untergange der Familie und der Rancho Don Estevans war nicht weit über die Grenzen des Tales von Cuesta hinausgetragen worden, und überdies war ein Einfall indianischer Räuber etwas zu Bekanntes und leider sich zu oft Wiederholendes, als daß man eine solche Begebenheit lange im Gedächtnis behalten hätte. –

Estevan und seine liebliche Gattin hatten nebeneinander eine Ruhestätte nahe der kleinen Kirche von Cuesta in geweihtem Boden gefunden. Die heranwachsenden Töchter des Ortes, die das junge Paar im Leben gekannt und geliebt hatten, pflanzten sinnig noch einige Jahre hindurch Blumen auf die beiden Gräber.

Allmählich hörte aber auch das auf, die Gräber wurden vergessen, und die Blumen, der liebreichen Pflege beraubt, gingen ein. Nur zwei Pfirsichbäumchen, die am Tage des Begräbnisses in die frisch aufgeworfene Erde gepflanzt worden waren, gediehen und wurden groß. Und wenn dann die Leute an Festtagen aus der Kirche kamen, wo sie nach der Messe den Segen empfangen hatten, und ihre Blicke fielen auf die beiden Bäume, dann bekreuzigten sie sich, und andächtig beteten sie für die Seelenruhe der zu früh Entschlafenen ein Ave Maria. –


 << zurück weiter >>