Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXIII.

Ehe ich die Pyrenäen verließ und Clare Fistule und Robert Hagueman und Triceps, alle diese lächerlichen oder erbärmlichen Wesen, die mich keinen Augenblick von meiner Langweile zu zerstreuen vermochten, wollte ich noch meinen Freund Roger Fresselou besuchen, welcher seit Jahren und Jahren ein kleines, weltverlorenes Dorf, Namens Casterat, bei Arriège, im Gebirge bewohnt.

Es war eine lange und beschwerliche Reise. Nach sechs Tagen mühevoller Märsche und Bergsteigungen kam ich erschöpft und zerschlagen, bei sinkender Nacht, in Casterat an. Denken Sie sich etwa dreißig Häuser auf einem schmalen Plateau gruppirt, welches auf allen Seiten von einem engen Horizont, von schwarzen Bergen und schneebedeckten Bergspitzen umgeben ist. Anfänglich ist der Anblick großartig, besonders wenn der Nebel den Horizont ein wenig zurückdrängt, ihn opalisirt und mit Goldstaub bedeckt. Allein dieser Eindruck verschwindet rasch und angesichts dieser hohen Mauern fühlt man sich alsbald von düsterer Trauer, von der unaussprechlichen Beklemmung des Gefangenen ergriffen.

In der Höhe, wo dieses Dorf erbaut ist, haben die Bäume aufgehört zu wachsen und es zeigt sich kein anderer Vogel als das schwerfällige Schneehuhn mit den befiederten Füßen. Der schieferige Boden nährt nichts als einige Büsche mageren Rhododendrons, da und dort Carlinas, die nur unter der vollen Mittagssonne ihre großen gelben Blumen mit den spitzigen Lanzen öffnen. Auf den Hängen des Plateaus, nach Norden, wächst ein kurzes, rundes, graues Gras, wo im Sommer Kühe, Ziegen und Schafheerden weiden, deren Glockengeklingel unaufhörlich zu vernehmen ist. Nichts ist so trübselig, nichts erinnert weniger an Blüthe, als die wenigen Blumen, die in dieser undankbaren und freudlosen Natur zu leben wagen. Arme, schwächliche Pflanzen mit haarigen, weißlichen Blättern. Der Winter mit seinem reichlichen Schnee, mit seinem Gürtel von schneegefüllten Abgründen trennt dieses Dorf von der übrigen Welt, von dem übrigen Leben.

Die Heerden flüchten dann in die tiefer gelegenen Thäler, die gesunden Menschen sind anderswo hingezogen, manchesmal sehr weit, um Arbeit oder Abenteuer zu suchen; selbst der Postbote kommt nicht mehr. Monate und Monate lang ist man ohne Nachricht von all' dem, was jenseits dieser unübersteiglichen Schneefelder geschieht. An Lebenden sind nur mehr einige Greise, Frauen und Kinder vorhanden, die in den Häusern vergraben sind, wie die Murmelthiere in ihren Löchern. Sie kommen nur am Sonntag hervor, wenn sie zur Messe nach der kleinen Kirche gehen, einer Art von viereckigem Thurm, an welchem das hölzerne Glockengerüst klebt.

Ach, der dumpfe Glockenton in dieser Schneeregion!

Hier wohnt seit zwanzig Jahren mein Freund Roger Fresselou.

Er besitzt ein Häuschen mit flachem Dache, ein kleines, mageres Gärtchen auf dem Felsen, und als Nachbarn rauhe, schweigsame, neidische Menschen, in grobes Kotzentuch gekleidet, mit Zipfelmützen auf dem Haupte, Leute, mit denen Roger sehr wenig Verkehr hat.

Wie ist er hieher verschlagen worden? Und hauptsächlich: wie kann er hier leben? In Wahrheit: ich weiß es nicht und ich denke, er selbst weiß es auch nicht. Jedesmal, wenn ich ihn nach der Ursache dieser Selbstverbannung fragte, antwortete er mir kopfschüttelnd: »Was willst Du ... was willst Du?« ohne mir eine weitere Erklärung zu geben.

Eine seltsame Wahrnehmung: Roger hat nur sehr wenig gealtert. Er hat kein einziges graues Haar, noch eine einzige Runzel im Gesichte. Aber dennoch vermag ich ihn kaum zu erkennen in seiner Tracht eines Bergbewohners. Seine Augen sind erloschen, niemals flammen sie freudig auf. Und sein Antlitz hat den aschfarbenen Ton der Erde angenommen und er ist ein ganz anderer Mensch und gleicht nicht mehr demjenigen, den ich ehemals gekannt habe. Ein neues, mir unbekanntes Leben ist in ihm, vergebens versuche ich es, ihn zu enträthseln.

Ehemals kannte ich ihn als einen reizenden, leicht begeisterten Menschen mit lebhaften Leidenschaften. Er war nicht von überschwänglicher Heiterkeit in Worten und Geberden und seine Melancholie war diejenige all' der jungen Leute, welche von dem Gifte der Metaphysik gekostet haben. In unserem kleinen Kreise in Paris prophezeite man ihm keine üble Zukunft. Er hatte literarische Studien in mehreren modernen Revuen veröffentlicht, welche, ohne gerade Meisterwerke zu sein, dennoch von ernsten Vorzügen, von einem lebhaften Sinn für das Leben und einem sichtlichen Streben nach dem Großen Zeugniß ablegten. In der Kunst, in der Literatur, in der Philosophie, in der Politik bekundete er keine Unversöhnlichkeit. Nichts Krankhaftes lag in seinem Wesen. Keine anormalen Visionen, keine Verderbtheit seines Intellekts. Seine Vernunft schien auf festen Grundlagen aufgebaut ... Und wir vernahmen einige Monate später, daß er im Gebirge lebe.

Seitdem ich bei Roger bin, haben wir nicht ein einzigesmal von Literatur gesprochen. Wiederholt wollte ich das Gespräch auf diesen Gegenstand lenken, welcher ihm ehemals so willkommen war, aber er lenkte ab, mit einer Miene übler Laune. Er fragte nach Niemandem und wenn ich Namen erwähnte, die ihm ebenfalls theuer waren, so ließen sie ihn gleichgiltig. Ich merkte bei ihm nicht die Bitterkeit irgend eines Bedauerns. Er scheint Alles vergessen zu haben; seine ehemaligen Leidenschaften, seine ehemaligen Freundschaften scheinen nur mehr Träume, für immer zerflatterte Träume zu sein. Von meinen Arbeiten, von meinen Hoffnungen, die zum Theil verwirklicht, zum Theil gescheitert waren, sprach er kein Wort. Übrigens suchte ich in seinem Hause vergebens ein Buch, eine Zeitung, irgend ein Bild. Es ist nichts vorhanden und seine Häuslichkeit ist dermaßen entblößt von dem intellektuellen Leben, wie die Häuser der übrigen Bergbewohner seines Dorfes.

Gestern, als ich das letzte Mal den Versuch machte, das Geheimniß dieser unerklärlichen Entsagung zu erfahren, sagte er mir:

– Was willst Du, was willst Du? Der Zufall hat mich während einer Ferienreise hieher geführt. Die Gegend gefiel mir wegen ihrer unsagbaren Traurigkeit oder wenigstens glaubte ich, daß sie mir gefalle. Ich bin im folgenden Jahre wieder gekommen, ohne irgendwelche Pläne zu haben. Ich wollte blos einige Tage hier zubringen und bin zwanzig Jahre geblieben. Das ist Alles. Ich habe Dir nichts weiter zu sagen. Das ist sehr einfach, wie Du siehst.

Heute Abends fragte mich Roger:

– Denkst Du zuweilen an den Tod?

– Ja, antwortete ich ... und das erschreckt mich und ich bemühe mich das entsetzliche Bild von mir zu weisen.

– Es erschreckt Dich?

Er zuckte die Achseln und fuhr fort:

– Du denkst an den Tod und Du kommst und gehst und drehst Dich um Dich selbst und bewegst Dich nach allen Richtungen? Und Du arbeitest an vergänglichen Dingen und Du träumst von Vergnügen und sogar von Ruhm? Armer Kleiner!

– Die Ideen sind keine vergänglichen Dinge, protestirte ich, da sie die Zukunft vorbereiten, den Fortschritt lenken ...

Mit einer langsamen Bewegung der Hand zeigte er mir den Gürtel von schwarzen Bergen.

– Die Zukunft? Der Fortschritt? ... Wie kannst Du angesichts von all' dem solche Worte aussprechen, die keinen Sinn haben?

Und nach einer kurzen Pause fuhr er fort:

– Die Ideen, Wind, Wind, Wind! Sie vergehen ... Der Baum bewegt sich einen Augenblick, seine Blätter zittern und dann sind sie vorüber. Der Baum wird wieder unbeweglich wie früher, nichts hat sich geändert ...

– Du irrst ... Der Wind ist voll mit Keimen und entführt die Pollen, streut den Samen aus und befruchtet ...

– Dann schafft er Ungeheuer ...

Wir blieben einen Augenblick still.

Von dem Gürtel schwarzer Berge vor uns, rings um uns, von diesen unerbittlichen Felsen und Schieferwänden sank eine drückende Beklemmung, eine Erstickung auf mich hernieder. Mir war, als fühlte ich auf meinem Schädel die Wucht all' dieser Blöcke ... Roger Fresselou aber fuhr fort:

– Als der Gedanke an den Tod mir plötzlich kam, da fühlte ich gleichzeitig die ganze Kleinheit, die ganze Eitelkeit der Anstrengung, in welcher ich blöderweise mein Leben verzehrte. Aber ich setzte ein Ziel und sagte mir: »Ich habe vielleicht den unrichtigen Weg eingeschlagen ... Es ist vielleicht etwas Anderes zu thun, als was ich thue ... Die Kunst ist Verderbtheit, die Literatur ist Lüge, die Philosophie ist Mystifikation ... Ich werde mich den schlichten Menschen, den rohen, jungfräulichen Seelen nähern ... Es existirt ohne Zweifel an reinen Orten, fern von den Städten eine menschliche Materie, aus welcher man die Schönheit hervorbringen kann ... Gehen wir dorthin, suchen wir dort! Nun denn, es ist nichts, die Menschen sind überall die nämlichen ... Sie unterscheiden sich nur durch ihre Geberden ... Und von dem stillen Gipfel, wo ich sie sehe, verschwinden ihre Geberden ... Es ist nur mehr das Gewimmel einer Heerde, welche, was immer sie thue und wo immer sie hingehe, sich doch immer dem Tode nähert. Du sprichst von Fortschritt? Der Fortschritt ist nur ein Schritt nach dem unvermeidlichen Ende. Da bin ich denn hier geblieben, wo es nichts mehr gibt, als Asche, verbrannte Steine, erloschene Säfte, wo schon Alles in die große Stille der todten Dinge zurückgekehrt ist.

– Warum hast Du Dich nicht umgebracht? rief ich aus, gereizt durch die Stimme meines Freundes und auch selbst ergriffen durch die furchtbare Beklemmung des Todes, welche hier auf den Bergen und über den Abgründen schwebt und aus dem Glockengeklingel der Heerden, wie von Sterbeglocken zu mir heraustönt und sich auf den Abhängen des Plateaus vervielfacht ...

Roger antwortete mit ruhiger Stimme:

– Man tödtet nicht, was schon todt ist ... Ich bin seit zwanzig Jahren todt ... Und auch Du bist schon seit langer Zeit todt ... Wozu bewegst Du Dich in solcher Weise? ... Bleibe da, wohin Du gekommen bist ...

*

Ich habe den Führer bestellt, welcher mich zu den Menschen, zum Leben, zum Lichte zurückführen soll. Morgen bei Tagesanbruch reise ich ab.

Ende.

.


 << zurück