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XIII.

Heute erhielt ich von meinem Freunde Ulric Barrière, der in Rußland reist, einen sehr langen Brief ... Ich entnehme den zahlreichen Bogen einzelne besonders bezeichnende Stellen:

 

»… In den großen Städten habe ich einige schöne Kavallerieregimenter gesehen. Man zeigt sie übrigens mit einer gewissen Absichtlichkeit den Fremden und macht eine Miene dabei, als ob man zu ihnen sagen wollte: »Haha! Das ist ein schreckliches, glänzendes Heer ... Wehe dem, der sich daran reibt!« In der That sind das keine Regimenter von Soldaten, sondern eigentlich von Clowns. Ich habe mehreren Revuen beigewohnt und hatte jedesmal den Eindruck, im Circus zu sein. Die Reiter sind erstaunlich; sie machen tausend geschickte Kunststücke, sie turnen und voltigiren mit der größten Leichtigkeit auf Pferden, die eigens für diese Spiele abgerichtet sind. Und das glänzt, gleißt und funkelt. Ich bin überzeugt, daß bei Franconi ihr Erfolg riesenhaft sein würde. Trotz des umfangreichen Apparates dieser Manöver erhielt ich nicht den Eindruck, einer Macht gegenüber zu stehen, sondern glaubte vielmehr nur einer Theaterparade beizuwohnen. Ich fürchte, hinter diesem außerordentlich bunten, goldigen Schmuck gibt es nichts und ich weiß wirklich nicht, ob ich mich darüber freuen soll.

Als ich heute Nachmittag in mein Hotel zurückging und eine Vorstadt des Ortes durchkreuzte, sah ich an einer Straßenecke einen steinalten Juden sitzen. Mit krummer Nase, gabelförmigem Bart, trübseligen Augen, mit stinkenden Fetzen bekleidet und trotzdem sehr würdig aussehend, wärmte er in der Sonne seinen Jammerleib ...

Ein Offizier ging vorüber und ließ einen großen Säbel über das Straßenpflaster hinter sich her rasseln. Als er den Juden sah, blieb er vor ihm stehen und begann ohne jede Veranlassung, nur zum brutalen Zeitvertreib, ihn zu beschimpfen ...

Der alte Jude schien ihn gar nicht zu hören. Wüthend über diese Gleichgiltigkeit, die frei von Furcht war und eher Verachtung vermuthen ließ, ohrfeigte der Offizier den Greis mit seiner in Handschuhen steckenden Hand so heftig, daß der arme Teufel zu Boden fiel, und wie ein Hase, den ein Schuß getroffen, zusammenknickte. Einige Vorübergehende, die bald zu einem Auflauf anwuchsen, hatten Halt gemacht, freuten sich des Abenteuers, starrten den hingestürzten Juden an, und brüllten: »Hu! Hu!« Dabei versetzten sie ihm Fußtritte und spuckten ihm in gemeiner Weise auf den Bart. Der Jude stand mit Mühe auf, da er schon sehr alt war und gebrechlicher als ein kleines Kind schien, und ohne Zorn in den Augen, die nur Staunen vor diesem unerklärlichen, unlogischen brutalen Akt ausdrückten, sagte er:

›Weshalb schlägst Du mich? ... Habe ich Dir irgendwie Unrecht zugefügt? Hast Du Dich über mich zu beklagen? ... Kennst Du mich überhaupt? ... Das geht doch gegen den gesunden Menschenverstand, mich zu schlagen ... Bist Du denn wahnsinnig?‹

Der Offizier zuckte die Achseln und ging weiter, gefolgt von der ganzen Menge, die ihm wie einem Helden zujubelte. Der alte Jude nahm seinerseits wieder ruhig auf dem Steine Platz. Ich sprach ihn an. ›Sie sind alle so,‹ sagte er zu mir. ›Sie schlagen uns ohne Grund. Dieser Offizier weiß nicht, was er that. Aber schließlich ist er gar kein so schlechter Kerl ... Er könnte mich ja todtschlagen ... Kein Mensch würde ihm einen Vorwurf daraus machen, im Gegentheil, man würde ihn beglückwünschen. Und zweifellos würde er befördert werden. Nein, wahrhaftig, er ist kein ganz schlechter Kerl.‹«

*

»In dem Maße, als man in diesem Lande vordringt und sich von den großen Centren entfernt, von der industriellen Thätigkeit, sieht man nichts mehr als Elend und Jammer. Es krampft sich Einem das Herz bei diesem Anblick zusammen. Überall erblickt man ausgemergelte Gesichter, gekrümmte Rücken, leidende, knechtische Gestalten. Etwas unaussprechlich Schmerzliches lastet auf der Erde und auf den vor Hunger erschlafften Menschen. Man könnte sagen, daß über diesen verzweifelten Landstrich hinweg stets der Wind des Todes weht. Die düsteren Wälder, in denen Wölfe hausen, sehen furchtbar aus, und die kleinen, schweigsamen, dumpfen Städte gleichen Friedhöfen. Nirgends erblickt man glänzende Uniformen oder Pferde, die im Walzertakt gehen können; die Reiter mit ihren Clownsprüngen sind verschwunden. Ich frage: ›Und die Armee? Wo ist denn diese fürchterliche Armee?‹ Da zeigt man mir Geschöpfe in Fetzen gehüllt, ohne Waffen, ohne Stiefel, der größte Theil von Schnaps berauscht, so streifen sie auf den Wegen umher und bedrängen die Bauern, rauben als wilde Bettler, als Landstreicher und dunkle Mörder die Bewohner aus. Und man sagt ganz leise zu mir: ›Das ist das Heer. Es gibt kein anderes. Hier und dort werden in den Städten schöne Regimenter gehalten, welche tanzen und gute Musikkapellen haben, aber das Heer, das sind diese armen Teufel ... Man darf ihnen nicht zu sehr zürnen, daß sie so sind, denn sie sind nicht glücklich, man gibt ihnen nicht täglich zu essen.‹ Ein Anderer gestand mir ein: ›Es gibt weder Waffen, noch Munition, noch Ausrüstungsstücke in den Arsenalen und Magazinen. All' das wird verkauft ... Der Teufel weiß wem ... Alles wird hier verkauft.‹ ... Das habe ich übrigens selbst erfahren, wie Du sehen wirst.«

*

»Seit einigen Wochen bin ich der Gast des Prinzen Karaguine. Sein Schloß ist bewunderungswürdig. Es besteht aus einer Reihe von imposanten Bauten, Prunkhöfen, Terrassen von königlicher Pracht und großartigen Gärten. Das Leben darin ist geschäftig, glänzend und rauschend, wie in einer Stadt. Es gibt hier Ställe für hundert Pferde, eine militärisch gedrillte Dienerschaft, die wie Theaterstatisten uniformirt ist. Die Küche ist ausgezeichnet. Es gibt da seltene Weine und reizvolle Frauen, deren Sinn nur auf Liebe gerichtet ist. Die Güter, die zu dem Schlosse gehören, haben eine fast endlose Ausdehnung, mit Feldern und Forsten, auf einem Raume, welcher an Umfang einem kleinen Königreiche gleichkommt. Wir gehen häufig auf die Jagd. Ich glaube, es gibt nirgends in Frankreich, selbst nicht bei den reichsten Finanzleuten, Jagden, die mit Wild so reich bevölkert wären. Tagtäglich gibt es eine Metzelei, eine Zerstörungswuth, blutige Reihen getödteter Thiere. Abends finden Bälle, Theatervorstellungen, wilde Liebeleien und nächtliche Feste im Parke und in den feenhaft erleuchteten Gärten statt ... Und dennoch bin ich traurig, furchtbar traurig. Ich kann mich an diese wahnsinnige Eleganz, an diesen Luxus, an diese ständigen Vergnügungen nicht gewöhnen. All' dies ist in zu bitterem Gegensatz zu dem traurigen Elend, welches zwei Schritte von uns herrscht. Trotz des Frohsinns, trotz der Schwelgereien, die mich häufig der ruhigen Überlegung entreißen, ist mir, als ob ich beständig um mich herum weinen hörte. Ich kann die Gewissensbisse nicht loswerden, die ich fühle, Gewissensbisse darüber, daß ich an diesen Orgien theilnehme, welche durch die Folterqual eines ganzen Volkes ermöglicht werden. Gestern wurden während der Jagd drei Bauern getödtet. Übrigens ist das ein gewöhnlicher Vorfall, von dem nicht viel Federlesens gemacht wird. Man ließ sie einfach liegen. Während ein Heer von Dienern das erlegte Wild sorgsam auflas und wegtrug, blieben die Leichen der drei Bauern auf der Moosdecke liegen, in jener tragischen Lage, in die sie das Blei der Jäger gebracht hatte. Sie werden nicht einmal begraben werden. ›Wozu denn?‹ sagte der Prinz zu mir, auf meine Frage, die zu stellen ich für angemessen hielt ... ›Die Wölfe werden heute Nacht ihr Leichenbegängniß besorgen. Kann man sich ein besseres Grab für solche Geschöpfe vorstellen?‹ Dann war nicht weiter die Rede von ihnen.«

*

»An dem Tage, da ich zum ersten Mal das Schloß betrat, bemerkte ich, als ich Prunkhöfe durchkreuzt, unter wahren Triumphbögen durchgegangen, lange Säulenhallen entlanggeschritten und Marmorbassins bei meinem Vorübergehen bemerkt hatte, neben einem Ehrenvestibül – mit monumentalen Treppenstufen, dessen Seiten mit rothen Porphyrstatuen und Malachit-Estraden verziert waren – eine jämmerliche Bude, die aus schlecht zusammengezimmerten Brettern bestand und mit Stroh gedeckt war. Sie nahm sich inmitten der Schönheit dieser Façade wie eine Eiterbeule auf dem frischen Gesicht eines Weibes aus. Als der Prinz mein Erstaunen bemerkte, sagte er zu mir: ›Diese Bude ist der Grundstein meines Vermögens ... Hier verkaufe ich Branntwein an meine Bauern ... Das sämmtliche Getreide, sämmtliche Kartoffeln der Gegend gehen hier in Branntwein verwandelt ein ...‹ Und fröhlich fügte er hinzu: ›Ja, Sie sind in ein Land von Trunkenbolden gekommen. Man kann sich gar keine schlimmeren Säufer als meine Bauern vorstellen ... Es gibt Tage, wo Jedermann auf meinem Gebiet besoffen ist ... Das ist komisch, wirklich komisch anzusehen. Aber was soll man dagegen thun? Je mehr sie sich dem Trunke ergeben, desto reicher werde ich ...‹ Dabei gilt der Prinz für einen der liberalsten unter den großen Herren ... Er scheint wirklich viel für seine Bauern gethan zu haben ... Er ist selbst an hoher Stelle beargwöhnt, ein Revolutionär zu sein ... Wie müssen also erst die sein, die nicht für Revolutionäre gelten?«

*

»Neulich bemerkten wir, daß es keine einzige Patrone mehr im Hause gab. Diese Entdeckung war umso bedauerlicher, als am nächsten Morgen eine große Jagd stattfinden sollte. Man konnte nicht daran denken, Munition aus der Stadt, die sehr weit entfernt vom Schlosse lag, holen zu lassen, denn ein heftiger Wolkenbruch hatte am Vorabend die Wege grundlos gemacht. Alle Welt war außer sich.

– Nun schön, sagte der Prinz, gehen wir doch bis zum Arsenal ... Vielleicht finden wir dort Munition.

– Wie? rief ich ziemlich verblüfft, das Arsenal verkauft Munition?

– Aber selbstverständlich, mein Lieber ... Munition, Gewehre, Kanonen, Alles, was man haben will.

Das Arsenal lag einige Kilometer vom Schlosse entfernt. Wir begaben uns auf unserem Spaziergange nach dem Dejeuner dorthin.

Der wachhabende Offizier empfing uns höchst liebenswürdig, doch auf die Frage des Prinzen hin entschuldigte er sich:

– Ich bin wirklich verzweifelt! Aber wir haben heute Morgen den kleinen Vorrath, der uns noch geblieben, verkauft.

– Aber die Shrapnells? Die Granaten?

– Alles ist leer, Durchlaucht ... vollständig leer.

– Ach, das ist äußerst unangenehm!

Der Offizier dachte einen Augenblick lang nach, dann äußerte er:

– Nun schön! Vielleicht haben die Leute noch einige Patronen in ihren Tornistern.

– Sehen Sie doch nach, mein Herr, bat der Prinz ...

Der Offizier ging. Nach Verlauf von einigen Minuten kehrte er zurück, gefolgt von einem Soldaten, der eine Art von Korb trug, in dem sich gegen hundert Patronen befanden.

– Das ist Alles, was uns übrig blieb, sagte der Offizier. Entschuldigen Sie!

Der Prinz fragte:

– Wieviel macht es, mein Herr?

– Zehn Rubel, Durchlaucht.

– Alle Wetter, das ist ein bischen theuer.

– Ach ja, erklärte der Offizier kläglich. Hier ist doch nichts umsonst zu haben ...

Dann wandte er sich an den Soldaten und befahl:

– Trage diese Patronen in das Schloß des Prinzen Karaguine.

Bei der Heimkehr vertraute mir der Prinz noch Folgendes an:

– Ein reizendes Land, nicht wahr? Ja, mein Lieber, wenn Sie genug Geld hätten, um die ganze Artillerie unseres Väterchens des Zaren zu bezahlen ... könnten Sie sie mit Leichtigkeit nach Frankreich mitnehmen ...

Ich lächelte.

– Das wäre jedenfalls ziemlich theuer.

Und der Prinz kam zu dem phlegmatischen Schluß:

– Oh, das hängt nur von den Umständen ab.«

*

»Die Prinzessin Karaguine ist eine heißblütige, bewegliche Frau mit bildschönen, wilden Augen, die eine eigene Leidenschaft für Thiere besitzt. Sie verbringt einen Theil ihrer Zeit im Stall, inmitten der Hengste, deren biegsame Flanken und deren leuchtendes Fell sie streichelt. Sie hat in ihrem Gefolge stets sechs riesige Jagdhunde, die hell, stark und reißend wie Tiger aussehen ... Heute Morgens sah ich sie, wie sie nach ihrem gewohnten Ritt vom Pferde stieg. So wie sie sich auf dem Boden befand, raffte sie mit einer lebhaften Bewegung ihr Kleid auf, schob die Reitpeitsche unter die Achselhöhle und küßte das dampfende Maul des Hengstes. Und da von diesem Kuß ein wenig Schaum von dem Thier an ihren Lippen geblieben war, verschlang sie ihn mit einem Zungenschlage, mit einer Art wollüstiger Gier. Und ich glaubte in ihren hellen Augen das wilde Gelüst der Pasiphaë aufleuchten zu sehen ...«

*

Abends dinirte ich im Kasino, wohin mich Clara Fistule eingeladen hatte. Unter den Gästen befand sich ein russischer Schauspieler mit Namen Lubelski. Wie sich von selbst versteht, sprachen wir von seiner Heimath und da mir der Kopf noch ganz warm von dem Briefe meines Freundes Ulric Barrière war, glaubte ich mich als wohlinformirten Mann ausgeben zu können und erzählte die verschiedenen Episoden des Berichtes. Herr Lubelski sagte kein Wort. Nur von Zeit zu Zeit stimmte er mit leichtem Kopfnicken bei, seltener schüttelte er den Kopf. Da er viel getrunken hatte, erzählte er nach dem Diner auf die Bitte Clara Fistule's Folgendes:

»Ich habe den Kaiser Alexander III. genau gekannt. Er war ein ausgezeichneter Mensch, wenn man überhaupt von einem Kaiser sagen darf, daß er ein Mensch wäre; ein einfacher Mensch, wie Sie, wie ich, wie alle Welt. Meiner Treu! ich würde mir diese Kühnheit nicht herausnehmen. Kurz, er war ein ausgezeichneter Kaiser, ein wahrer Vater seines Volkes. Es freut mich aufrichtig, daß Ihre Republik seinen Namen einer Brücke von Frankreich gegeben hat. Das ist eine Brücke, welche, wie mir scheint, außergewöhnliche, geheimnißvolle Dinge vereinigen muß. Wenn ich behaupte, daß der Kaiser Alexander III. mein Freund war, so heißt das vielleicht zuviel sagen. Er ehrte mich mit seinem Wohlwollen, das entspricht der Wahrheit, und zeigte sich bei verschiedenen Gelegenheiten sehr edel und freigebig zu mir. So erhielt ich von ihm zwar keine Tabatière, aber ein silbernes Zigarettenetui, in dem mein Name mit seltsamen Steinen, wie man sie in den Bergwerken nahe dem Pol findet, gezeichnet ist ... Das Etui ist nicht viel werth und sieht auch nicht gerade schön aus. Ja, wahrhaftig, ich besitze auch noch eine Streichholzschachtel von ihm als Andenken aus einem unbekannten Metall, das nach Petroleum riecht, an dem man absolut nichts entzünden kann. Aber die Schönheit dieser kaiserlichen Andenken liegt ja nicht in ihrem Werth als Handelswaare; sie liegt einzig und allein in der Erinnerung, nicht wahr?

Ich nahm damals – es ist nun sechs Jahre her – in Rußland eine ähnliche Stellung ein, wie Ihr Frédéric Febvre unter der Regierung Napoleon's III. sie innehatte, natürlich nicht ganz die nämliche, denn es gibt nur einen Febvre auf der Welt. Das sagt Ihnen deutlich, daß ich Schauspieler bin. Kaiser Alexander fand großen Gefallen an meinem Talent, das aus hochmüthiger Eleganz und guter Haltung selbst in Momenten der Erregung bestand, etwa wie ein russischer Laffont, wenn Ihnen das genug sagt. Er kam oft, um mich in meinen besten Rollen anzusehen, und wenn er sich auch nicht zu demonstrativem Beifall herabließ, klatschte er doch an den geeigneten Stellen. Er war ein kultivirter Geist, und ich sage das, ohne ihm schmeicheln zu wollen, daß er in den dramatischen Werken, die ich vorführte, gerade an den schönen Scenen Gefallen fand, ohne im Übrigen das Textbuch in Anspruch zu nehmen, das, nebenbei bemerkt, bei uns daheim garnicht existirt. Oft ließ Seine Majestät mich zu sich rufen und beglückwünschte mich mit jenem speziellen kühlen Enthusiasmus, den sich ein absoluter Herrscher gestatten darf, der sich so viel Zwang in so mancher Richtung auferlegen muß. Sie wissen, in Rußland ist man nicht im Süden Frankreichs und die Sonne lacht dort ebenso wenig in die Seele hinein, wie in die schneebedeckten Fichtenwälder, in denen die Wölfe heulen. Das hat wenig zu bedeuten. Der Kaiser hatte mich so gerne, daß er mich nicht nur öffentlich durch seinen Beifall auszeichnete, sondern mich auch bei bedeutenden Anlässen um Rath fragte, selbstverständlich nur in Angelegenheiten meiner Kunst; denn ich sagte ja schon, es gibt nur einen Febvre auf der Welt. So wurde ich zum Beispiel beauftragt, die Vorstellungen im Winterpalast zu organisiren, sowie in anderen kaiserlichen Residenzen, so oft der Zar Feste gab, und meine Beliebtheit war so groß, daß Herr Raoul Gunzbourg mich mit scheelen Augen zu betrachten begann und mich bei Ihrem verstorbenen Sarcey verleumdete, damit mir heimgeleuchtet werde, wenn ich vielleicht eines Tages ebenfalls Lust bekäme, ein franco-russisches Gastspiel in Frankreich zu veranstalten.

Ich war also glücklich, besaß Geld, einen guten Namen, die besten Verbindungen, war einflußreich oder galt wenigstens dafür, was manchmal werthvoller ist, als es zu sein, und betete allabendlich, ehe ich schlafen ging, zu den Heiligenbildern, daß mein Leben weiter in dieser Weise verlaufe, da ich meinem Ehrgeiz Schranken zu setzen verstanden hatte und mir keine anderen Güter wünschte, als jene, deren ich mich erfreute, – ach, in vollkommenster Weise!

Hier wurde die Stimme des Erzählers ernst, seine Augen nahmen einen traurigen Ausdruck an und nachdem er einige Augenblicke schwieg, fuhr er fort:

»Als Waise und als Junggeselle lebte ich mit meiner Schwester beisammen, einem reizenden Frauenzimmerchen von fünfzehn Jahren, das die Freude meines Herzens, die Sonne meines Hauses war. Ich liebte sie über Alles. Wie hätte man auch dies reizende, laute, hübsche, geistreiche, zärtliche, begeisterte und edle Wesen nicht lieb haben sollen, in dem hinter dem Lachen, das ohne Unterlaß von seinen Lippen kam, alles Schöne, alles Große lebte. In dieser gebrechlichen Hülle eines lachenden Mädchens pochte ein glühendes, freies Herz. Dieses Erblühen nationalen Heldenthums gehört bei uns nicht zu den Seltenheiten. In dem erstickenden Schweigen, das auf unserem Lande lastet, in dem ungeheuren Argwohn der Polizisten, der es beengt, sucht das Genie zuweilen, um ein Asyl zu finden, um die Fessel zu verbergen, das unantastbare Heim auf, das das Herz eines Kindes oder einer Jungfrau sein muß. Meine Schwester war wirklich eine jener Auserlesenen. Nur Eines bereitete mir Kummer und Sorge: Die außerordentliche Freimüthigkeit ihrer Sprache und die rebellische Unabhängigkeit ihres Geistes, die sie nicht verschwieg und vor Niemandem verbarg, selbst nicht vor Leuten, in deren Gegenwart man am besten stumm und mit verschlossenem Herzen bleibt. Aber ich beruhigte mich, indem ich mir sagte, daß bei ihrer Jugend diese kleinen Überschwänglichkeiten keine Folgen haben könnten, obwohl es bei uns zu Lande kein Alter für die Justiz und das Unglück gibt.

Als ich eines Tages aus Moskau heimkehrte, wo ich einige Vorstellungen gegeben hatte, fand ich das Haus leer. Meine beiden alten Diener jammerten auf einer Bank im Vorzimmer.

– Wo ist denn meine Schwester? fragte ich.

– Oh weh! rief der eine, denn der andere sprach niemals, sie sind gekommen ... und sie haben sie mit der Bonne weggeführt ... Gott erbarme sich ihrer!

– Du bist wohl wahnsinnig, glaube ich? rief ich, oder Du hast zuviel getrunken, oder was sonst? Weißt Du denn überhaupt, was Du sagst? Vorwärts, erkläre mir, wo meine Schwester ist!

Der Alte hob sein trauriges Gesicht zur Decke empor:

– Ich sagte es Dir schon, stammelte er. Sie sind gekommen und haben sie weggeführt. Der Teufel weiß, wohin!

Ich glaubte, daß ich vor Schmerz die Besinnung verlieren würde. Dennoch fand ich die Kraft, mich an einem Vorhang festzuhalten und schrie heftig:

– Aber weshalb denn nur? Sprich, weshalb? Haben sie etwas gesagt? Sie werden das Mädchen doch nicht ohneweiters, ohne Grund fortgeführt haben? Sie haben doch gesagt, weshalb?

Der Alte schüttelte den Kopf und sagte:

– Sie haben nichts gesagt ... sie sagen ja nie etwas. Sie kommen wie die Teufel, man weiß nicht woher, und dann, wenn sie fortgegangen sind, kann man nur noch mit dem Kopf gegen die Wand rennen und weinen ...

– Aber sie? drang ich weiter in ihn ... sie? Sie hat doch wohl etwas gesagt? Sie hat sich doch gesträubt? Sie hat ihnen doch mit mir gedroht, mit dem Kaiser, der mein Freund ist? Sie hat doch irgend etwas gesagt?

– Was soll denn die theure Seele gesagt haben? ... und was hätte sie auch sagen können? Sie rang ihre kleinen Hände, wie vor den Heiligenbildern und dann ... Jetzt kannst Du und können wir beide, deren ganzes Leben sie war, nur noch weinen, so lange wir leben, denn sie ist dorthin gegangen, von woher man nie wieder zurückkehrt. Der liebe Gott und unser Vater, der Zar seien gesegnet!

Ich begriff wohl, daß ich keine andere Auskunft aus diesen resignirten, treuen, urwüchsigen Geschöpfen ziehen würde und lief auf die Straße hinaus, um wenn möglich einen Anhaltspunkt zu gewinnen. Ich wurde von einer Behörde zur anderen geschickt, von einem Bureau zum anderen, und überall traf ich auf stumme Gesichter, auf verschlossene Seelen, auf Augen, die wie Kerkerzellen verriegelt waren. Man hatte von dem Falle keine Kenntniß, man wußte nichts, man konnte mir überhaupt nichts mittheilen. Einige forderten mich auf, recht leise zu sprechen, kein Wort mehr zu sagen und getrost heimzukehren. In meiner Verzweiflung kam mir der Gedanke, um eine Audienz beim Kaiser nachzusuchen. Er war ja gut, er hatte mich gern. Ich würde mich zu seinen Füßen werfen und seine Gnade anflehen, seine Milde. Und dann, wer weiß, vielleicht wußte er gar nichts von diesem düsteren Akte der Justiz, die in seinem Namen geübt worden war, sicherlich wußte er kein Wort davon ...

Befreundete Offiziere, die ich um Rath fragte, redeten mir lebhaft diesen Gedanken aus.

– Davon dürfen Sie nicht sprechen ... Davon dürfen Sie auf keinen Fall sprechen. So etwas kann Jedermann passiren. Auch wir haben Schwestern, Freundinnen, die dort sind ... Davon darf man nicht sprechen ...

Um mich in meinem Schmerz zu zerstreuen, luden sie mich am nämlichen Abend zum Souper ein. Da sollte man sich mit Champagner berauschen, die Kellner zum Fenster hinauswerfen ... und Dirnen entkleiden ...

– Kommen Sie nur, mein Lieber; kommen Sie nur.

Die braven Freunde!

Erst den dritten Tag nachher konnte ich den Polizeidirektor sprechen. Ich kannte ihn sehr genau. Oft erwies er mir die Ehre, mich im Theater in meinem Garderobezimmer zu besuchen. Er war ein reizender Mensch, dessen Manieren, dessen geistreiche Unterhaltung ich bewunderte. Doch bei den erstem Worten, die ich von mir gab, rief er mit finsterer Miene:

– St! Denken Sie nicht mehr daran. Es gibt Dinge, an die man weder denken soll, noch denken darf.

Und unvermittelt erfragte er von mir zahlreiche intime Einzelheiten über eine französische Sängerin, die am Abend zuvor in der Oper großen Beifall gefunden hatte und die ihm sehr hübsch vorkam.

Endlich, acht Tage nach diesem schrecklichen Ereigniß – ich versichere Ihnen, mir waren sie ein Jahrhundert, ach ja, ein Jahrhundert der Angst, des tödtlichen Leides, der unaussprechlichsten Folter, die mich wahnsinnig zu machen schien, – wurde im Theater eine Galavorstellung gegeben. Der Kaiser ließ mich durch einen Offizier seines Gefolges rufen. Er war wie immer ernst, ein wenig traurig, erfüllt von einer etwas müden Majestät, von einem etwas eisigen Wohlwollen. Ich weiß nicht, weshalb ich bei dem Anblick dieses Kolosses – war es Ehrfurcht, Schreck oder der klare Eindruck einer fürchterlichen Allmacht? – das kleine Wörtchen »Gnade« nicht hervorzubringen vermochte, das eben noch meine Brust mit Hoffnung erfüllt hatte, in meiner Kehle zitterte und mir die Lippen versengte. Ich war wirklich gelähmt, vernichtet, wie todt ...

– Ich gratulire, mein Herr, sagte er zu mir. Sie haben heute Abend ganz wie Herr Guitry gespielt ...

Dann reichte er mir die Hand zum Kuß und entließ mich freundlich und huldvoll.

Der Erzähler sah auf seine Uhr und verglich die Zeit mit der Pendeluhr, die neben ihm auf einem Tischchen stand, dann begann er von neuem:

– Ich komme zu Ende ... Das ist auch gut, denn die Zeit drängt und diese Erinnerungen pressen mir das Herz zusammen ... Zwei Jahre vergingen. Ich wußte noch immer nichts; ich hatte noch immer nichts über dies furchtbare Geheimniß erfahren können, das mir mit einem Male das Wesen, das ich am meisten auf dieser Welt liebte, entrissen hatte. So oft ich einen Staatsbeamten befragte, konnte ich aus ihm nur dieses wirklich entsetzliche »St« herausbekommen, mit dem man in dem Augenblick, als das Unglück sich ereignete, meine eindringlichsten Beschwörungen aufgenommen hatte. All der Einfluß, den ich ins Feld zu führen suchte, diente nur dazu, meine Angst noch drückender zu machen und die Schatten zu verdichten, die so tragisch das Leben des armen, anbetungswürdigen Kindes, das ich beweinte, verdüstert hatten. Sie können sich vorstellen, daß ich für das Theater, für meine Rollen, für jenes bewegte Dasein, das mich früher so sehr begeisterte, keine Neigung mehr hatte. Aber ich dachte keinen Augenblick daran, diesen Stand, so peinigend er mir auch war, zu verlassen; denn dank meiner Stellung befand ich mich tagtäglich in Verbindung mit den bedeutendsten Persönlichkeiten des Reiches, die ich vielleicht eines Tages erfolgreich für mein furchtbares Unglück interessiren konnte. Ich stürzte mich von Hoffnung beseelt auf sie, da ich von ihnen immerhin etwas zu erreichen hoffte. Was den Kaiser betrifft, so bewahrte er mir dasselbe eisige Wohlwollen. Man sah deutlich, daß auch er an einem unbekannten Übel litt, mit bewunderungswürdigem, schweigsamem Muthe. Wenn ich seine Augen betrachtete, fühlte ich ... ach ja! ich fühlte brüderlich, daß er nichts wußte, daß auch er keine Ahnung hatte und daß er traurig durch die ganze unendliche Trauer seines Volkes war und daß der Tod allmälig diesen Riesenkörper eines Imperators und schwermüthigen Titanen benagte und zur Erde zog. Und ein unendliches Mitleid drang von meinem Herzen zu dem seinen ... Aber weshalb wagte ich es nicht, jenen Schrei auszustoßen, der vielleicht meine Schwester gerettet hätte? Weshalb nicht? ... Wehe mir! ich weiß es nicht.

Nach Tagen und Nächten unsagbaren Leides fühlte ich, daß ich nicht länger so weiter leben konnte und entschlossen, Alles auf Spiel zu setzen, begab ich mich zu dem Polizeidirektor.

– Hören Sie, erklärte ich in festem Tone, ich kam nicht, um Sie mit nutzlosen Worten zu belästigen ... Ich will nicht die Begnadigung meiner Schwester erbitten, ich frage Sie nicht einmal, wo sie sich befindet ... Ich will nur wissen, ob sie lebt oder ob sie schon gestorben ist?

Der Polizeidirektor machte eine ärgerliche Bewegung.

– Schon wieder? rief er. Weshalb denken Sie denn immer an diese Geschichte, mein Lieber? ... Sie sind wirklich nicht vernünftig, und Sie verursachen sich zwecklosen Kummer ... Alles das liegt ja schon so fern ... Stellen Sie sich vor, sie wäre todt ...

– Ich will das ja gerade wissen! drang ich weiter in ihn. Dieser Zweifel tödtet mich ... Ist sie todt oder lebt sie noch? Sagen Sie es mir ...

– Sie setzen mich in Erstaunen, mein Lieber ... Ich weiß doch Nichts davon ... Wie sollte ich das wissen?

– So erkundigen Sie sich doch! Schließlich ist es ja mein gutes Recht.

– Sie wollen es unbedingt?

– Ja, ja, ja, gewiß will ich es, schrie ich.

– Nun schön, sei es drum! Ich werde mich erkundigen, ich verspreche es Ihnen ...

Dann fügte er noch, nachlässig mit einem goldenen Federhalter spielend, hinzu:

– Nur ersuche ich Sie, in Zukunft, mein Lieber, sich über Ihr Recht eine minder vertrauliche Idee zu machen.

Als ich mich ein halbes Jahr nach dieser Unterhaltung eines Abends anzog, ehe ich die Bühne betrat, brachte mir ein Polizeibeamter einen amtlichen Brief. Ich riß das Couvert fieberhaft erregt auf. Der inliegende Zettel trug weder ein Datum, noch eine Unterschrift und enthielt nur die mit Rothstift geschriebenen Zeilen:

»Ihre Schwester lebt, aber ihr Haar ist schon weiß geworden.«

Und die Wände des Zimmers und das Licht und die Spiegel begannen sich um mich herum zu drehen, dann verschwand Alles und ich stürzte wie eine leblose Masse auf den Teppich hin ...

Der Erzähler stand auf. Er war ein wenig bleicher und gebeugter gleich einem Kranken geworden ... Er schwankte betäubt vom Schmerz, vielleicht auch vom Champagner; denn nichts treibt mehr zum Trunke als Seelenpein.

– Fünf Jahre sind seitdem vergangen! sagte er noch ... und heute würde die arme Kleine gerade dreiundzwanzig Jahre alt sein. Und der Kaiser ist gestorben. Und es gibt einen anderen Kaiser. Und es hat sich nichts geändert ...

Darauf drückte er uns die Hände und nahm Abschied von uns ...

*

Uns war die Seele von Rührung wie zusammengepreßt und der Abend hätte in allzu trauriger Weise seinen Abschluß gefunden, wenn nicht Vater Plançon, der Regisseur des Theaters, der mit uns dinirt hatte, den Einfall gehabt hätte, uns ein wenig aufzumuntern, indem er uns einige alte Lieder aus seiner Jugend vortrug. Er war aus der guten alten dramatischen Schule, und wollte nicht, daß der Vorhang im Theater wie im Leben nach einer allzu traurigen Lösung falle ...

Armer Vater Plançon ... Während er mit meckernder Stimme sang, und seinen Gesang mit Geberden begleitete, die denen eines Skelettes glichen, erzählte mir der Direktor des Kasinos folgende Geschichte über ihn:

Eines Abends wurde Vater Plançon feierlich nach dem Arbeitszimmer seines Direktors entboten.

– Nehmen Sie Platz, Vater Plançon, sagte jener zu ihm, wir wollen ein wenig plaudern ... Wie?

Vater Plançon war ein kleiner, runzeliger, kahler Biedermann mit glänzendem Gesicht, dessen etwas zu weite Kleider an seinem Leibe schlotterten. Er sah sehr armselig aus, doch seine langjährige Theaterangehörigkeit gab ihm eine Art von Karikaturwürde, ein Ansehen von hinfälliger Bedeutsamkeit, das sehr harmonisch zu seiner ganzen Persönlichkeit paßte und seinem armseligen Aussehen eine schwermüthige Komik verlieh. Da er in seinem Theater sehr schlecht besoldet wurde, hatte er schon lange der edlen Stellung eines Statisten das Gewerbe eines Perrückenmachers hinzugefügt, in dem er sich einst geschickt und von zweifelloser Ehrbarkeit erwies. Unglücklicherweise erschien ihm auf die Dauer dieses Gewerbe zu schwierig und zu wenig einträglich, so daß er es aufgab.

– Es ist ekelhaft, sagte er. Man findet nur noch schwarzes Haar und noch dazu nur Haar von Jüdinnen. Nirgends gibt es mehr blondes und wirklich französisches Haar. Und wissen Sie, mit dem schwarzen, verblichenen und fremden Haar arbeitet es sich schlecht ... Das ist nicht fein ... das ist nicht leicht ... kurz es ist unbrauchbar! ... Die Damen mögen meine Perrücken nicht mehr und haben wirklich Recht ... Das sind keine Perrücken mehr ...

Es mag auch bemerkt werden, daß seine Hand zu zittern begann, seine Finger wurden auf dem Puppenkopfe steif. Er verdarb alle seine Perrücken, die Niemand mehr abnehmen wollte. Da war er denn Versicherungsagent geworden. Aber der arme alte Plançon nahm nicht viele Versicherungen auf ... Er befand sich stets im Elend.

Vater Plançon nahm dem Direktor gegenüber Platz nach den Regeln der striktesten Inscenirungen. Den Körper vorgebeugt, die Beine in richtigen Winkel gestellt, den rechten Ellbogen ein wenig erhoben, die Hand flach auf den Schenkel gelegt, fragte er:

– Ist meine Pose so recht, Herr Direktor? Entspricht sie der Überlieferung?

– Ja, vollkommen, stimmte der Direktor bei.

– Also, ich lausche Ihren Worten, Herr Direktor.

Und der Direktor sprach Folgendes:

– Vater Plançon, nun sind es heute gerade zweiundvierzig Jahre, daß Sie dem Dramatischen Athenaeum-Theater angehören. Das verjüngt Sie nicht, mein armer Alter ... Mich übrigens auch nicht, das Theater nicht minder. Aber, was wollen Sie? So ist das Leben. Sie sind ein ausgezeichneter, braver Mann, ganz gewiß! Sie haben stets Ihr Amt mit Ehren bekleidet. Jedermann achtet Sie hier. Kurz, Sie sind die Gewissenhaftigkeit selbst, Vater Plançon ... Verhält es sich nicht so?

– Ich habe gearbeitet, Herr Direktor, erklärte der Biedermann. Und dieses »Ich habe gearbeitet« nahm in seinem Munde einen außerordentlich lyrischen Tonfall an.

– Ach ja, ob Sie gearbeitet haben, mein Lieber! Das will ich meinen. So wie Sie zu sagen verstehen: »Gnädige Frau, es ist angerichtet!« wird es einem Anderen niemals gelingen. Das liegt auf der Hand. Die ganze Kritik ist eines Sinnes darüber. Selbst wenn Sie nichts zu sagen hatten, wenn Sie nur ein Tablett herbeibringen mußten, eine Lampe auslöschen, einen Sessel abstäuben oder den kleinen Vicomte in das Zimmer der Marquise führen, so war das stets gleich großartig ... Es war fein ausgedacht ... kurz, es war eben das Richtige! Ja, Sie sind ein großer Künstler, mein Lieber, das läßt, sich nicht leugnen. In bescheidenen Rollen allerdings, aber dennoch ein großer Künstler, ja, Sie waren ein großer Künstler, darüber ist kein Irrthum möglich.

– Ja, die Natur, Herr Direktor! Ich habe die Natur studirt, erklärte der alte Statist, der sich bei diesem Lob in die Brust warf und seinen gebeugten Rücken aufzurichten versuchte.

Dann fügte er noch hinzu:

– Die Natur und die Überlieferung ... das war mein ganzes Geheimniß.

– Natürlich, selbstverständlich! Diener, wie Sie sie darstellten, werden heutzutage nicht mehr gemacht. Der Samen dazu ist verloren gegangen, im Theater sowohl wie im wirklichen Leben, nebenbei bemerkt. Fragen Sie doch einmal nur die jungen Leute von heutzutage darüber aus! Ach ja. Nun also, ich habe Folgendes beschlossen: Nächsten Monat wird Ihre Abschiedsvorstellung stattfinden. Es wird »Ruhm und Vaterland«, Ihre beste Rolle gegeben werden. Paßt Ihnen das? Kitzelt das nicht Ihre Eigenliebe?

Auf eine Bewegung hin, deren schmerzlichen Ausdruck der Direktor nicht bemerken wollte, fuhr er fort:

– Aber natürlich, selbstverständlich. Das ist ja auch ganz begreiflich ... Dieser verteufelte Vater Plançon! Wenn Sie im zweiten Akt die Thüren des Salons öffnen und Ihr: »Frau Gräfin, es ist angerichtet!« loslassen, so wirkt das riesig packend, das wissen Sie ja ... Das ist eine ganz besondere Note ... Das faßt Einem am Herzen, dagegen läßt sich nichts machen ... Ja, das rührt Einen in der Seele ... Und der Direktor schlug sich heftig an der Stelle des Herzens auf die Brust.

Aber trotz der ruhmreichen Erinnerungen war Vater Plançon ganz traurig geworden. Das hatte er nicht geahnt, daß auch für ihn der Tag anbrechen würde, da er das Theater zu verlassen gezwungen sein würde, wie er die Perrücken verlassen hatte. Und dieser Gedanke verwirrte ihn nicht nur wegen des dunkeln Elends, in dem er fürder sein Dasein verbringen müßte, sondern weil das Theater seine richtige Atmosphäre war, weil er außerhalb des Theaters keinen Gesichtskreis unterschied, außerhalb der Bretterwelt nur Schatten und Tod sah. So stammelte er denn, versteinert durch die Worte seines Direktors mit theatralischen Bewegungen, die seiner Lage entsprachen:

– Also ... nächsten Monat? Träume ich? ... Schon! ...

Wieso schon? ... Nach zweiundvierzig Jahren der Arbeit, guter und loyaler Dienste, nennen Sie dies schon? Aber, aber, Vater Plançon! ... Sie werden zweihundert Francs von der Tageseinnahme dieser Vorstellung erhalten. He, zweihundert Francs ... Ist das nicht nett? ... Und dann, gute Nacht, lieber Freund ... Nachher gibts Freiheit, Ruhe, Landleben ... Sie werden Ihre Kohlköpfe in Frieden pflanzen.

Und lustig bemerkte er noch:

– Dieser verteufelte Vater Plançon hat doch wahrhaftig Schwein ... und in »Ruhm und Vaterland« noch dazu ... das heißt also inmitten eines wahren Triumphes ... inmitten eines wahren Triumphes mit zweihundert Silberlingen ausrücken ... Und dabei sieht er gar nicht zufrieden aus! ... Ja, was wollen Sie denn eigentlich haben, Himmel-Bomben-Donnerwetter?

Der Direktor ging im Zimmer auf und ab, wobei er lebhaft gestikulirte und wiederholte:

– Was wollen Sie denn eigentlich haben? ... Ich gewähre Ihnen doch Alles, was irgend denkbar ist ... Ach ja, diese verteufelten großen Künstler! ... Sie bleiben sich alle gleich! ...

Nach einigen Augenblicken rührenden Schweigens, während deren dem Vater Plançon die Angst die Kehle zuschnürte, sagte er in sanftem Tone:

– Wohlan denn, Herr Direktor, mir ist's recht ... Nur sehen Sie einmal ... Ich möchte Sie um eine Liebenswürdigkeit bitten, eine ganz kleine Liebenswürdigkeit, die Sie mir nicht gut abschlagen können ... Am Tage meiner Abschiedsvorstellung ... möchte ich, ach ja, wahrhaftig, da ... möchte ich den kleinen Vicomte spielen ...

Der Direktor fuhr auf:

– Sie sind verrückt, ... ganz blödsinnig, schrie er. Das ist vollkommen unmöglich ... Und überhaupt der kleine Vicomte! ... Eine jämmerlich schäbige Rolle, die Ihres Talents unwürdig ist ... Nein, auf keinen Fall ... Nie würde ich das zulassen ... Ich will doch haben, daß Sie meinem Publikum einen unvergeßlichen Eindruck zurücklassen, Vater Plançon, verstehen Sie mich? ... Ich will absolut haben, daß man noch in fünfzig, in hundert, in dreihundert Jahren sage: »Es gab nur einen Vater Plançon, welcher: »Frau Gräfin, es ist angerichtet!« richtig von sich zu geben verstanden hat. Aber, mein Bester, ich vertheidige ja Ihren Ruhm gegen Sie selbst ... Ach, diese Komödianten, die Komödianten, diese schäbigen Komödianten! ... Man reicht ihnen unbestreitbaren Erfolg, sicheren Beifall, zehn, fünfzehn, zwanzig Herausrufe ... und als Zugabe noch ein baares Vermögen ... Und lieber setzen sie sich Gott weiß welchen thörichten Abenteuern aus ... Der kleine Vicomte! Nein! ... Nein, das ist zu blödsinnig ...

– Herr Direktor!

– Nein, auf keinen Fall ...

– Herr Direktor, hören Sie mich an, beschwor der alte Statist, der gleichfalls aufgestanden war und die Arme dem Direktor entgegenstreckte ... Ich rufe Sie zum Richter in meiner Lage an, Herr Direktor, ich lege meine Standesehre in Ihre Hand ... Aber hören Sie mich an, um des Himmels willen ... ich muß Ihnen dies anvertrauen ... Ich studire die Rolle des kleinen Vicomte nun schon seit mehr als zehn Jahren, ich arbeite sie aus, ich lese sie in meinem Heim verborgen allabendlich durch ... Diese Rolle zählt nur zehn Zeilen ... aber dennoch ist sie bewunderungswürdig, ich habe auch Effekte darin gefunden, ausgezeichnete Effekte! ... Ach, wenn Sie mir erlaubten! ... Das würde meiner Laufbahn die Krone aufsetzen, das Publikum bekäme dann unbekannte Seiten meines Talentes zu Gesicht ... Herr Direktor, lassen Sie mich den kleinen Vicomte spielen ...

– Nein, auf keinen Fall! ... Haben Sie mich verstanden? ...

– Herr Direktor, ich beschwöre Sie! ...

– Nein, sage ich Ihnen! ... Es ist völlig zwecklos ...

– Herr Direktor, lieber würde ich meine zweihundert Francs hergeben.

– Ach was! lassen Sie mich ungeschoren, Vater Plançon ... Sie widern mich bereits an! ... also vorwärts marsch!

Und brutal verabschiedete er ihn.

Vater Plançon fühlte sich namenlos unglücklich. Tagtäglich kam er ins Theater und irrte unruhig, schweigsam, fast hamletartig auf der Bühne und in den Gängen herum. Wenn seine Kameraden das Wort an ihn richteten, antwortete er Ihnen kaum. Und ständig hielt er folgenden Monolog:

– Der kleine Vicomte! Es ist unbegreiflich, mir eine so einfache Sache abzuschlagen, die doch so schön gewesen wäre, eine Sache, die mir zu neuem Ruhme verholfen hätte, die für das Publikum und für Sarcey eine wahre Offenbarung gewesen wäre! ... Was kann das diesem dicken Hundsfott schaden, der sich durch mein Talent, durch meine Nachtwachen fettgefressen hat? ... Ach ja! Ich habe kein Glück gehabt! Und kein Mensch wird je erfahren, was in mir lag, was hier unter diesem Schädel lebte ...

Er glaubte an eine Intrigue, an eine Verschwörung, er musterte Jedermann mit mißtrauischen Blicken, mit Blicken, denen der beklagenswerthe, sanfte Biedermann vergebens einen boshaften, rachsüchtigen Ausdruck zu geben suchte.

Endlich brach der große Tag an. Bis zum letzten Augenblick hatte Vater Plançon im tiefsten Innern auf ein Wunder gehofft. Und mit schmerzlich zusammengepreßtem Herzen, mit Thränen in den Augen sah er den Vorhang aufgehen, langsam, unerbittlich und der erste Akt von »Ruhm und Vaterland« begann. Der arme Biedermann erschien erst am Ende des zweiten Aktes. Als der Augenblick gekommen war, betrat er majestätisch mit seiner weißen Perrücke und seinen schwarzen Wadenstrümpfen die Bühne, öffnete mit edler Vornehmheit beide Flügel der Thür, wodurch sich der Speisesaal mit dem Licht seiner Krystallgläser und dem Widerschein seines Silberzeuges erhellte und meldete in dem feierlich-markirenden Ton, der ihm eigen war:

– Frau Gräfin, es ist angerichtet.

Plötzlich lehnten sich die unterdrückten Träumereien, sein erstickter Ehrgeiz, alle die Wünsche, deren Bitterkeit sein Leben vergiftet hatten, in seiner Seele auf und wollten sich endlich einmal Luft machen. Mit einem einzigen Male, in einer Minute äußerster Überreizung wollte er gegen seine Vergangenheit von demüthigen, stummen Rollen Widerspruch erheben, und endlich einmal beredt, herrisch, schrecklich in den Apotheosen erscheinen. Bruchstücke von Dramen, heftige Erwiderungen, von Leidenschaft durchtobte Standreden, angsterstickte Tremolos und Gefängnisse, Paläste, unterirdische Hallen und Dolche und Arquebusen durchtobten in wilder Jagd, in buntem Durcheinander flammroth und wildstromartig, gleich einem Lavafluß seinen Kopf. Er fühlte, wie in seiner Seele die wild aufschreienden brüderlichen Seelen eines Frédéric Lemaître, Mélingue, Dumaine, Monnet-Sully, Coquelin tobten und aufeinander losstürzten. Ein Rausch ergriff ihn, verwirrte seine Sinne und trieb ihn zu den außergewöhnlichsten Heldenthaten. Und, indem er seinen gekrümmten Rücken eines alten Dieners aufrichtete und die weiße Perrücke auf dem Kopf wie einen Hut zurückschleuderte, legte er die linke Hand auf die rauschende, pfeifende Brust, die rechte gleich einem edlen Degen auf die Gäste gezückt: so schrie er mit heiserer Stimme, mit der Stimme, die durch die Erregung, sich endlich als Held vor der Menge zu enthüllen, wie gebrochen war:

– Ja, Frau Gräfin, es ist angerichtet! ... Aber zuvor, Herr General, lassen Sie mich Ihnen sagen, ja, offen ins Gesicht sagen ... ein Mann, der ein Weib beleidigt und beschimpft, ist ... ein Feigling!

Dann trat er zur Seite, um die verblüfften Gäste vorübergehen zu lassen.

Ein Beifallsdonner durchdröhnte den Saal. Die Zuschauer, die durch diesen kraftvollen, überschwänglichen Abgang aufgeregt wurden, riefen Vater Plançon leidenschaftlich zurück. Aber der Vorhang blieb hartnäckig gesenkt, trotz der Schreie, trotz des Stampfens mit den Füßen, trotz der begeisterten Beifallsrufe, die noch während des halben Zwischenaktes ungeschwächt anhielten.

Was den Vater Plançon betrifft, so drängten sich seine Kameraden um ihn herum und machten ihm lebhafte Vorwürfe.

– Was ist Ihnen denn eingefallen, Vater Plançon? sagte die erste Liebhaberin ... Haben Sie denn plötzlich den Verstand verloren? ... Oder fühlen Sie sich nicht wohl? ...

– Nein, Frau Marquise, antwortete in edlem Tone Vater Plançon ... Sprechen Sie mir nur wieder von Ihrer Ehre ... Es gibt keine zwei Arten von Ehre ... Es gibt nur brave Leute ...

Indem er den Finger als Zeugen zur Decke emporhob, verschwand er im Halbdunkel der Coulissen ...

Und Vater Plançon sang noch immer.

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