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XIX.

Wir haben gestern bei Triceps dinirt. Es war ein Diner zu Ehren seines Freundes und Beschützers, des Dr. Trépan. Zehn Gäste haben daran theilgenommen, lauter reiche, lauter glückliche Leute. Während des Mahles und nach dem Mahle haben wir natürlich nur von dem menschlichen Elend gesprochen. Die reichen Leute haben das merkwürdige Bedürfniß über das Elend der Armen zu weinen, wenn sie sich mit feinen Sachen vollgestopft und köstliche Weine getrunken haben ... Nichts vermag so sehr, wie ein feines Gastmahl, uns zu sozialistischen Betrachtungen anzuregen. Unsere Diskussion, die mit der Philosophie begonnen hatte, entartete nach und nach in Anekdoten. Und Jeder erzählte seine Geschichte ...

Einer der Gäste, ein bekannter Schriftsteller, ein großer, rother Mensch, mit wulstigen Lippen und großen Faunohren sagte:

– Avenue de Clichy. Ein Uhr Morgens. Es regnet. Auf dem kothigen Pflaster kommt man nur mit Mühe vorwärts. Die Avenue ist fast verlassen. Nur selten kommt ein Passant vorüber, das Gesicht unter dem aufgestülpten Kragen verborgen. Auf den Trottoirs wandeln nur wenige Frauen, welche die Vorübergehenden mit ihren stereotypen Einladungen behelligen:

– Mein Herr, mein Herr, kommen Sie zu mir ...

Und wenn man eine solche Einladung unbeachtet läßt, folgen sogleich unfläthige Flüche und Drohungen. Dann wird es still. Das Weib geht weiter, kehrt um, es ist ein ewiges Kommen und Gehen, und wenn ein Mann auftaucht, stürzen sie sich auf ihn, wie die Raben auf ein Feld, wo ein Aas liegt ...

Seit fünf Minuten folgt mir ein Weib, welches ich nicht sehe, nur von Zeit zu Zeit höre ich wie es ruft:

– Mein Herr, mein Herr, kommen Sie mit mir!

Unter einer Straßenlaterne bleibe ich stehen. Auch das Weib bleibt stehen, aber außerhalb des Lichtkreises. Ich kann sie dennoch gut betrachten. Sie ist nicht schön, nein, weder schön, noch verführerisch, und ihr kümmerliches Aussehen läßt uns nicht an die Sünde denken. Denn die Sünde muß die Freude sein: seidene Gewänder, Wohlgerüche, geschminkte Gesichter, gefärbte Haare und das Fleisch geschmückt wie ein Altar. Nichts von all' dem hat die Unglückliche mir zu bieten. Sie ist alt, mehr durch das Elend, als durch die Jahre; welk durch den Hunger oder durch den Suff, deformirt durch die entsetzliche Arbeit ihres Metiers. Von dem Zuhälter, der sie ausplündert, zu dem Polizisten gesendet, der sie brandschatzt, zwischen dem Hotel Garni und dem Gefängnisse hin- und herwandernd: eine wahre Jammergestalt. Ein leichtes Tuch von schwarzem Wollstoff bedeckt ihre Brust, kothige Röcke schlagen an ihre Beine; ein ungeheurer Hut sitzt auf ihrem Kopfe, ein Hut, dessen Federn im Regen zerfließen. Auf dem Bauche hält sie die Hände gekreuzt, zwei armselige, von der Kälte geröthete Hände. Wäre nicht diese späte Stunde und dieser Ort, wären nicht ihre Rufe, so würde ich sie für eine stellenlose Magd, nicht aber für ein Trottoir-Mensch halten. Ohne Zweifel hat sie das Bewußtsein ihrer Häßlichkeit, ohne Zweifel weiß sie, wie wenig Wollust verheißend ihr Körper ist, denn sie weicht unter meinem Blicke immer mehr zurück und sucht das Dunkel zwischen sich und mich zu legen. Mit einer furchtsamen, zitternden Stimme, welche mehr Almosen zu verlangen, als ein Vergnügen anzubieten scheint, wiederholt sie:

– Mein Herr, mein Herr, kommen Sie zu mir. Ich werde Alles machen, was Sie wollen. Mein Herr, mein Herr! ...

Da ich ihr nicht antworte – nicht aus Ekel, oder Verachtung, sondern weil ich in demselben Augenblicke eine Schnur rother Korallen bemerke, welche ihren Hals umgibt – fügt sie im Flüstertone hinzu:

– Mein Herr, wenn Sie lieber wollen ... Ich habe zu Hause ein kleines Mädchen, sie ist erst 13 Jahre alt, und sehr hübsch ... und sie kennt die Männer schon wie ein Weib. Mein Herr, ich bitte Sie, kommen Sie zu mir ...

Ich frage sie:

– Wo wohnst Du?

Sie zeigt mir eine Straße gegenüber, welche auf die Avenue mündet und sagt:

– Hier, ganz nahe, zwei Schritte entfernt. Sie werden sehr zufrieden sein, kommen Sie.

Sie durchschritt die Straße eilend, um mir nicht Zeit zu lassen, meine Absicht zu ändern. Bei jedem Schritt, welchen sie macht, wendet sie den Kopf, um sich zu versichern, daß ich ihr nicht durchgegangen sei. Mehrere Männer, die aus einer Schänke kommen, beschimpfen sie im Vorübergehen. Wir verschwinden jetzt in dem Gäßchen, sie voraus, ich hinterdrein; und während wir so gehen, wird es um uns her immer finsterer.

– Hier ist es, sagt das Weib ... Du siehst, daß ich nicht gelogen habe ...

Sie stößt eine nur angelehnte Thüre auf. Wir betreten einen schmalen Gang, der von einer rauchigen Petroleumlampe schwach beleuchtet ist. Wir treten ein ... meine Füße treten auf weiche Dinge, meine Arme streifen feuchte Dinge.

– Warte ein wenig, mein Schätzchen ... die Treppe ist nicht verläßlich ...

Sie hat sich jetzt gefaßt; sie begreift, daß sie sich nicht mehr demüthigen müsse, daß sie vielleicht nicht mehr so häßlich sei, weil ich da bin, sie mich festhält und mich erobert hat. Sie hat einen Mann nach Hause gebracht, welchen sie durch kosende Worte festhalten, durch Liebesversprechungen freigebig stimmen muß. Ich bin nicht mehr der unschlüssige Herr, den sie vorhin auf der Straße anflehte, ich bin jetzt das »Schätzchen«, der erwartete Glücksfall, der vielleicht die Mittel bringt, daß man morgen zu essen und zu saufen haben wird ... Der Suff läßt den Hunger vergessen und läßt Alles, Alles vergessen ...

Sie zündet eine Kerze an und geht voraus, um mir den Weg zu zeigen. Der Aufstieg ist sehr mühsam, die Unglückliche kann nur mit Anstrengung emporsteigen. Sie keucht und röchelt. Mit der rechten Hand hält sie ihren Bauch, der ihr lästig ist, wie ein allzu schweres Bündel.

– Sei nicht ungeduldig, Schatz, es ist im zweiten Stock.

Das Treppengeländer ist klebrig, die Mauern triefen, die Treppenstufen krachen unter dem Tritte; man muß seinen Magen stärken gegen den Ekel, welchen unerträgliche Gerüche Einem da verursachen. Auf den Treppenabsätzen, durch die Thüren hört man Stimmen, welche lachen, schreien, bitten, feilschen, drohen, fordern, unfläthige, weinselige, gedämpfte Stimmen ... Ach diese Stimmen! Die Traurigkeit dieser Stimmen an diesem Orte der Nacht, des Schreckens, des Elendes und ... des Vergnügens! ...

Endlich sind wir an Ort und Stelle. Der Schlüssel hat im Schlosse geknirscht, die Thüre geht kreischend auf und wir befinden uns in einer kleinen Stube, wo es keine anderen Möbel gibt, als einen zerrissenen und hinkenden Lehnsessel von grünem Rips und eine Art Feldbett, auf welchem eine alte Frau geschlafen hat, die sich bei dem Geräusch unseres Eintrittes aufrichtet, wie ein Gespenst, und mich mit ihren runden, gelben, seltsam starren Augen betrachtet. Vor dem Fenster, auf einem von Wand zu Wand ausgespannten Stricke sind Wäschestücke zum Trocknen aufgehängt.

– Ich hatte Dir gesagt, daß Du das wegnehmen sollst, sagt das Weib von der Straße der alten Frau im Tone des Vorwurfes. Die Alte läßt ein Brummen vernehmen, sammelt die Wäschestücke und wirft sie in einem Haufen auf den Lehnsessel hin.

Noch eine Thüre wird geöffnet, das ist das Zimmer ... Hier sind wir allein. Ich frage:

– Wer ist diese Alte?

– Es ist Diejenige, die mir das kleine Mädchen leiht.

– Ihre Mutter?

– Oh nein, ich weiß nicht, woher sie die Kleine genommen hat. Ich bin erst seit gestern da. Die arme Frau hat kein Glück ... Ihr Sohn ist in Neu-Kaledonien. Ein Deportationsort für schwere Verbrecher. Er war ehemals mein Liebhaber ... Er hat den Uhrmacher von der Rue Blanche kalt gemacht. Du wirst Dich wohl des Falles erinnern ... Ihre Töchter sind in Freudenhäusern und geben ihr nichts ... Sie muß doch auch leben ... Wie glaubst Du?

Dann fügte sie hinzu:

– Sie führt die Kleine hieher, denn bei ihr, ach, dort sieht es gar zu armselig aus!

Das Zimmer ist kaum möblirt und zeugt von unsagbarer Armuth. Die Fenster haben keine Vorhänge, im Kamin brennt kein Feuer. Es ist kalt in der Stube. Das Weib entschuldigt sich:

– Ich habe keine Kohle, auch kein Holz. Der Winter ist sehr rasch gekommen. Und dann: vor einem Monate sind die Polizeiagenten gekommen und haben mich eingesteckt. Ich bin erst seit drei Tagen wieder in Freiheit. Wenn ich zwanzig Francs hätte, um sie ihnen zu geben, würden sie mich in Frieden lassen. Ach, diese Kameele! ... Es gibt unter ihnen solche, die nur »ein Vergnügen« verlangen, andere wieder fordern Geld ... Von mir verlangen sie immer Geld ... Das sollte doch nicht erlaubt sein ...

Im Hintergrunde des Zimmers steht ein breites Bett mit zwei Polstern. Daneben ein anderes, kleineres Bett, wo ich ein schmales, bleiches, schlafendes Gesicht bemerke, das von blonden Haaren umgeben ist.

– Das ist die Kleine, mein Schatz ... Mache es Dir bequem ... Ich werde sie wecken ... Ach, Du wirst sehen, wie geschickt und lasterhaft sie ist. Du wirst sehr zufrieden sein ...

– Nein, nein, laß' sie schlafen.

– Ach, ich muß Dir sagen, sie geht nicht mit Jedem ... Sie geht nur mit feinen Herren, die freigebig sind ...

– Nein, laß' sie schlafen.

– Wie Du willst, mein Schatz.

Sie ist sich des Verbrechens nicht bewußt, welches sie mir vorschlägt und meine Weigerung setzt sie in Erstaunen ... Ich frage sie:

– Und wenn die Polizei sie bei Dir fände! Weißt Du, daß Du das Zuchthaus riskirst?

Die Frau zuckt mit den Achseln und sagt:

– Ach ja, was will man da machen! ...?

Beim Anblick meiner ernsten und traurigen Miene hat sie abermals den Muth verloren. Sie wagt es nicht in den Spiegel zu blicken, sie wagt es auch nicht, sich mir in dem kärglichen Lichte ihrer Kerze zu zeigen. Von ihrem Hute träufelt das Wasser, wie von einem regennassen Dache ... Sie hat den Leuchter auf den Kaminsims gestellt und ist dann zu dem großen Bette gegangen, wo sie im Halbdunkel sich zu entkleiden beginnt.

– Nein, laß das, sage ich zu ihr, ich will auch Dich nicht.

Und ich lege zwei Goldstücke in ihre Hand, zwei Goldstücke, welche sie hin und her dreht und dann mit blödem Blicke wortlos betrachtet.

Auch ich habe ihr nichts zu sagen. Was sollte ich ihr auch sagen? Sollte ich ihr die Reue, die Schönheit der Tugend predigen? Das sind Worte, Worte ... Nicht sie ist die Schuldige, sie ist so, wie die Gesellschaft sie haben wollte, deren unersättlicher Appetit jeden Tag seine Ladung von menschlichen Seelen haben muß ... Sollte ich ihr vom Hasse, von der Empörung reden? ... Wozu wäre das gut? ... Es wären abermals nur Worte. Das Elend ist zu feig, es hat nicht die Kraft, gegen die egoistische Freude der Glücklichen ein Messer zu zücken oder die Brandfackel zu schwingen ... Besser, ich schweige. Ich bin übrigens nicht hieher gekommen, um Reden zu halten, wie ein Sozialist. Es ist nicht die Stunde, um hohle Deklamationen zu halten, die Niemandem nützen ... Ich bin gekommen, um zu schauen und ich habe geschaut ... Es bleibt mir nichts übrig, als zu gehen ... Gute Nacht!

Das Kind schläft noch in seinem Bette, umgeben von seinen goldblonden Haaren. Die Ausschweifungen der Unmannbaren haben bereits ihren Mund verwelkt, ihren Athem verpestet und Falten um ihre Augen gelegt. Ich höre die Alte im Nachbarzimmer hin- und hergehen, daß die Dielen krachen. Das Weib, das mich hergeführt, verbirgt seine zwei Goldstücke unter dem Kopfpolster und sagt mir leise:

Die Alte wird wüthend sein, weil Du nicht mit der Kleinen gewesen bist ... Gib ihr etwas, damit sie mir nicht Alles nehme, was Du mir gegeben hast. Es ist eine bösartige, rohe, schlechte Alte ... Warte, ich will Dir leuchten ... Die Treppe ist sehr unsicher ...

Folgendes erzählte der Andere:

»Neulich hatte ich einen Schreiner bei mir, welcher meine Bücherei in Stand setzte. Es ist ein sehr intelligenter Mensch, der gerne plaudert. Während er arbeitete, fragte ich ihn:

– Haben Sie Kinder?

– Nein, erwiderte er in rauhem Tone.

Und nach einer kurzen Pause fügte er sanfter hinzu:

– Ich habe keine mehr ... Ich hatte deren drei ... sie sind gestorben ...

Dann, nachdem er wieder eine Weile still geschwiegen, fuhr er kopfschüttelnd fort:

– Meiner Treu! wenn man sieht, was vorgeht, und die schwere Mühe, die man im Leben hat, da ist es wohl besser für sie, daß sie todt sind ... die armen kleinen Kerle ... wenigstens leiden sie nicht.

Ich fragte ihn weiter:

– Ist es schon lange her, daß das letzte gestorben ist?

– Zehn Jahre! lautete die Antwort.

– Und seither?

– Seither ... Sie begreifen wohl ... habe weder ich, noch meine Frau deren haben wollen. Nein, wahrhaftig nicht ...

Ich sprach ihm von dem Gesetzentwurfe Piot's und bemerkte ihm, daß wenn dieser Vorschlag Gesetz würde, die Kinderlosen eine Steuer zu gewärtigen hätten.

Er schien nicht sonderlich erstaunt, da er gewohnt war, das Leben als Philosoph zu betrachten.

– Ich bin auf alle Gesetze gefaßt, sagte er mir ohne Bitterkeit. Ich weiß, was ein Gesetz ist. Ich weiß, daß die Gesetze nicht für uns sind; die Gesetze sind immer für die reichen Leute und gegen die Armen geschaffen. Aber dasjenige Gesetz, von welchem Sie sprechen, ist immerhin sehr stark ... denn, wenn ich keine Kinder mehr habe, so ist es ihre Schuld ...

– Ihre Schuld? Wessen Schuld?

– Nun, die Schuld der Behörden, des Staates, was weiß ich? Die Schuld all' der Leute, welche diese zu vollziehen haben ... Das ist doch ganz einfach und gar nicht neu ... Der Staat – man muß ihm diese Gerechtigkeit widerfahren lassen – schützt das Geflügel, die Stiere, die Pferde, die Hunde, die Schweine mit wunderbarem Eifer und einem sehr scharfen Verständniß für den wissenschaftlichen Fortschritt. Für diese verschiedenen und interessanten Thiere hat man Züchtungs-Methoden von vollkommener Hygiene erfunden. Auf dem ganzen Gebiete Frankreichs gibt es zahllose Gesellschaften zur Verbesserung der Racen der Hausthiere. Diese Hausthiere haben schöne Ställe, Hürden, Geflügelhöfe, wohlgelüftet, wohl erwärmt, mit allem Nöthigen versehen, ja zuweilen mit großem Luxus ausgestattet ... Man erhält diese Thiere in dauernder und streng überwachter Gesundheit, geschützt vor allen ungesunden Keimen und Ansteckungen, geschützt durch tägliche Waschungen, durch rationelle Desinfektionen ... Ich, der ich mit Ihnen da spreche, habe Hühnerställe gebaut, die wahre Paläste zu nennen sind ... Das ist sehr gut. Ich bin nicht eifersüchtig auf die große Sorgfalt, welche man den Thieren widmet ... Man ertheile ihnen Preise bei den Ausstellungen, man gebe ihnen Geldsummen, ich habe nichts dagegen einzuwenden ... Meines Erachtens haben alle lebenden Wesen das Recht auf Schutz und auf so viel Glück, als man ihnen nur verschaffen kann ... Aber ich möchte, daß die Kinder, die Kinder der Menschen nicht systematisch von allen den Wohlthaten, welche den Thieren zugewendet werden, ausgeschlossen werden, wie es thatsächlich der Fall ist ... Nun wohl, es scheint, daß dies unmöglich ist. Ein Kind – das zählt nichts. Dieser menschliche Wurm kann verrecken und verschwinden, was liegt daran? Man organisirt sogar im Wege der Staatsverwaltung Hekatomben von Neugeborenen, als ob wir von einer gefährlichen Überwucherung der Gattung bedroht wären. Und die Herren dieser schönen Gesellschaft beklagen sich noch bitter über die Abnahme der Geburten, während sie selbst Diejenigen sind, welche die Geburten hindern oder die Kinder bald nach ihrer Geburt durch die sichersten und raschesten Vorgänge tödten ... Denn die wahre Kindesmörderin ist diese Gesellschaft, die so grausam ist den zu Müttern gewordenen Mädchen gegenüber, welche ihre Kinder nicht ernähren können ...

All' das hatte er mit ruhigem Tone vorgebracht, während er auf einer Leiter oben sitzend, langsam und genau ein Brettchen sägte. Als das Brettchen durchgesägt war, kreuzte er die Arme, und indem er mich von oben herab betrachtete, fuhr er fort:

– Ist es nicht wahr, was ich spreche, mein Herr? Was erzählen uns die Leute mit ihrer verdammten Entvölkerung? Wenn diese Leute in ihr Gewissen schauen und ehrlich erkannt haben werden, daß der Fehler nicht an uns liegt, sondern an der Zusammensetzung der Gesellschaft selbst, an der Barbarei und kapitalistischen Selbstsucht der Gesetze, welche nur die Glücklichen schützen, dann wird man über die Sache reden können ... Bis dahin werden wir fortfahren den menschlichen Samen, die Keime des Lebens in den Wind zu streuen ... Was kümmert mich der Reichthum und der Ruhm eines Landes, wenn ich nur ein Recht habe: zu verrecken vor Elend, Unwissenheit und Sklaverei? ...

Ich fragte ihn dann, warum und wie seine drei Kinder gestorben wären.

– Wie bei uns alle, oder fast alle sterben, erwiderte er ... Ach, die Geschichte ist kurz und es ist die Geschichte aller meiner Genossen ... Das Elend kann in der Form zuweilen sich ändern, aber im Grunde ist es immer das nämliche. Ich sagte Ihnen vorhin, daß ich drei Kinder hatte. Alle drei waren gesund, stark, gut gebaut, geeignet zu einem guten Leben, ich versichere Ihnen dies ... Die zwei ersten, in Abständen von dreizehn Monaten geboren, sind in der nämlichen Weise von hinnen gegangen. Bei uns ist es selten, daß die Mutter selbst ihre Kinder säugen könne ... Schlechte oder ungenügende Nahrung, Plackerei mit dem Hauswesen, Überbürdung mit der Arbeit, kurz. Sie wissen ja, woran es liegt ... Die Kinder wurden mit der Saugflasche genährt und geriethen dabei rasch in Verfall. Nach vier Monaten waren sie schwächlich und krank. Der Arzt sagte: »Mein Gott, es ist immer die nämliche Geschichte, die Milch taugt nichts, die Milch vergiftet die Kinder.« Da sagte ich dem Arzte: »Zeigen Sie mir, wo die gute Milch ist, und ich will welche kaufen.« Doch der Arzt schüttelte den Kopf und erwiderte: »Es gibt in Paris keine gute Milch, schicken Sie Ihr Kind auf das Land.« Ich übergab denn das Kind der öffentlichen Wohlthätigkeit, welche es bei einer Amme auf dem Lande unterbrachte. Acht Tage später war das Kind todt. Es starb, wie alle anderen starben, aus Mangel an Sorgfalt, als Opfer der bäuerlichen Grausamkeit ... Mein drittes Kind behielt ich zu Hause. Es gedieh sehr schön; allerdings war das zu einer Zeit, wo meine Frau und ich guten Erwerb hatten und das Geld im Hause nicht fehlte. Das Kind war fett, rosig, und schrie niemals. Man kann sich ein schöneres und kräftigeres Kind gar nicht denken.

Ich weiß nicht, wie es eine Augenkrankheit bekam, welche damals im Stadtviertel herrschte ... Der Arzt sagte mir, man müsse das Kind ins Krankenhaus bringen. Es war ein eigenes Spital für diese Krankheit da. Ach, an Spitälern fehlt es nicht! Das Kleine ward wieder gesund, allein an dem Tage, da seine Mutter es abholte, fand sie es verstört, in abscheulichen Krämpfen sich windend. Es hatte eine Diarrhöe bekommen und man hatte es nicht genügend gepflegt. Die Mutter war darüber erstaunt. Ein Arzt der Anstalt sagte ihr: »Bei uns werden nur die Augenkrankheiten kurirt. Wenn Sie wollen, daß man das Kind von der Diarrhöe kurire, müssen Sie es in ein anderes Spital bringen.« Die Arme flehte vergebens. Sie nahm dann ihr Kind in die Arme, um es in ein anderes Spital, das man ihr anwies, zu bringen. Während der Fahrt dahin starb das Kind ... Und da kommt nun die Gesellschaft und sagt uns: »Machet Kinder!« Nein, wahrhaftig, ich habe genug!

Und indem er die Achseln zuckte, fügte er mit kräftiger Stimme hinzu:

– Diese schönen Herren sind wirklich wunderbar. Anstatt Kniffe zu suchen, wie man die Bevölkerung vermehren könnte, thäten sie besser, Mittel zu finden, wie man das Glück der Bevölkerung mehren könnte. Ja, ja, darum kümmern sie sich wenig.

Als er seine Arbeit beendigt hatte, betrachtete er die Bände, die in den verschiedenen Abtheilungen der Bibliothek aufgestellt waren.

– Voltaire, sagte er, ... Diderot, Rousseau, Michelet, Tolstoi, Krapotkin, Anatole France, ja, ja, das ist sehr schön, aber was nützt es? Die Idee schläft in den Büchern, die Wahrheit und das Glück gehen daraus niemals hervor.

Er raffte seine Geräthschaften zusammen und ging traurig seiner Wege.

Ein Dritter, der Gutsbesitzer in der Normandie war, erzählte Folgendes:

Der Vater Rivoli hatte eine Mauer. Diese Mauer stand längs einer Straße und sie war sehr schadhaft geworden. Die Regengüsse und die Spitzhacke des Wegmachers hatten die Mauer unterwühlt, die aus dem Gefüge gerathenen Steine wollten nicht mehr halten und es entstanden Breschen in der Mauer. Und dennoch bietet die Mauer mit ihrem Aussehen einer alten Ruine einen ganz hübschen Anblick. Die Kante ist mit einigen Iris gekrönt, in den Spalten sprießen Frauenhaar, Leinkraut und Hauswurz; in den Lücken zwischen den Bruchsteinen wagen sich auch einige schwächliche Mohnstengel hervor. Allein der Vater Rivoli hat keinen Sinn für die Poesie seiner Mauer, und nachdem er sie lange untersucht und an den lose gewordenen Steinen gerüttelt hatte, welche den wackeligen Zähnen im Gebiß eines alten Mannes glichen, entschloß er sich endlich, die Mauer auszubessern.

Er braucht keinen Maurer, denn er hat in seinem Leben alle Handwerke ausgeübt. Er versteht Mörtel zu mischen, er kann ein Brett hobeln, ein Stück Eisen schmieden, einen Dachbalken zimmern. Ein Maurer ist zu theuer und kommt auch nicht schneller vorwärts. Der Vater Rivoli kaufte ein wenig Kalk, ein wenig Sand und trug auf der Straße am Fuße der Mauer einige Bruchsteine zusammen, die er in seinem Weingarten gefunden hatte. Und nun geht er an die Arbeit.

Doch kaum hatte er eines Morgens ein halbes Dutzend Kellen von Mörtel an die Mauer geworfen, um das erste Loch zu stopfen und den ersten Stein zu befestigen, als plötzlich hinter ihm eine strenge Stimme sich vernehmen ließ:

– He, Vater Rivoli, was macht Ihr da?

Es ist der Wegekommissär, der seinen Rundgang macht. Auf dem Rücken trägt er einen Sack voll geometrischer Instrumente und unter dem Arm zwei roth und weiß angestrichene Meßstangen. Er installirt sich auf der Böschung als furchtbare Statue der Verwaltungsordnung und hebt von neuem an:

– Ach, ach, in Eurem Alter setzt man sich noch in Strafe! Was macht Ihr da?

Der Vater Rivoli hat sich umgewendet und sagt:

– Nun, ich bessere meine Mauer aus. Sie sehen doch wohl, daß sie einzustürzen droht ...

– Ich sehe es, antwortete der Wegekommissär, aber habt Ihr eine behördliche Erlaubniß?

Der Vater Rivoli richtet sich erschrocken auf und stemmt die beiden Hände auf seine steifen Lenden.

– Eine Erlaubniß, sagen Sie? ... Gehört meine Mauer mir? ... Muß ich eine Erlaubniß haben, um mit meiner Mauer zu machen, was ich will? Um sie niederzureißen oder aufzurichten, wenn es mir so beliebt?

– Stellt Euch nur nicht so dumm, alter Bösewicht! Ihr wißt doch wohl, wovon die Rede ist.

– Schließlich, fragt Vater Rivoli hartnäckig, gehört die Mauer mir oder nicht?

– Diese Mauer gehört Euch, aber sie steht auf der Straße und Ihr habt nicht das Recht, eine Mauer auszubessern, die Euch gehört und zugleich auf der Straße steht.

– Aber Sie sehen doch, daß sie nicht mehr halten will und daß sie, wenn ich sie nicht ausbessere, niederstürzen wird, wie ein todter Mensch ...

– Das ist möglich, das geht mich nichts an. Ich werde ein Protokoll aufnehmen, erstens, weil Ihr ohne Erlaubniß Eure Mauer ausgebessert habt; zweitens, weil Ihr gleichfalls ohne Erlaubniß Materialien auf einer öffentlichen Straße niedergelegt habt. Auf eine Strafe von 50 Thaler könnt Ihr Euch gefaßt machen, Vater Rivoli! Das wird Euch lehren, den Unwissenden zu spielen.

Vater Rivoli reißt das zahnlose Maul weit auf ... Seine Verblüffung ist eine derartige, daß er kein Wort hervorzubringen vermag. Nach einer Weile stöhnt er, indem er mit trostloser Geberde nach seiner Mütze greift:

– 50 Thaler? Ist das möglich, Jesus mein Gott?

Der Wegkommissär fährt fort:

– Und das ist noch nicht Alles. Ihr werdet Eure Mauer ausbessern ...

– Nein, nein, ich werde sie nicht ausbessern. Sie ist nicht 50 Thaler werth. Soll geschehen, was da will.

– Ihr werdet Eure Mauer ausbessern, fährt der Beamte in befehlendem Tone fort, weil sie einzustürzen droht und in ihrem Einsturze die Straße beschädigen könnte ... Und merkt Euch wohl: wenn Eure Mauer einstürzt, werde ich abermals ein Protokoll aufnehmen und dann bekommt Ihr 100 Thaler Strafe.

Der Vater Rivoli ist entsetzt.

– 100 Thaler! Ach, welches Unglück! In welcher Zeit leben wir denn?

– Doch vorher – hört Ihr wohl? – werdet Ihr auf gestempeltem Papier vom Präfekten eine Erlaubniß einholen.

– Ich kann nicht schreiben.

– Das geht mich nichts an. Kurz, Ihr seid gewarnt!

Der Vater Rivoli kehrt in sein Haus zurück. Er weiß nicht mehr, wozu er sich entschließen soll, aber er weiß, daß die Verwaltung den armen Leuten gegenüber keinen Spaß kennt. Wenn er seine Mauer ausbessert, hat er 50 Thaler Strafe zu zahlen, wenn er sie nicht ausbessert, hat er 100 Thaler Strafe zu zahlen ... Man verpflichtet ihn, seine Mauer auszubessern und man verwehrt es ihm gleichzeitig. In allen Fällen ist er der Schuldige und muß zahlen ... Seine Gedanken verwirren sich, ihm brennt der Kopf und im Gefühle seiner Ohnmacht und seines Jammers seufzt er:

– Und unser Abgeordneter hat mir neulich gesagt, daß ich souverän bin, daß nichts ohne mich geschieht und daß ich thun kann, was ich will ...

Er beräth sich mit seinem Nachbar, der das Gesetz kennt, weil er Gemeinderath ist.

– Das ist so, Vater Rivoli, sagt ihm dieser mit wichtiger Miene. Ihr müßt das thun ... und weil Ihr nicht schreiben könnt, will ich Euch gerne diesen kleinen Dienst erweisen. Ich will Euch das kleine Gesuch aufsetzen ...

Das Gesuch wird abgesendet. Es vergehen zwei Monate und der Präfekt antwortet nicht. Die Präfekten antworten niemals ... Sie machen Gedichte, sie flirten mit den Damen der Standesbeamten oder sie sind in Paris, wo sie ihre Abende im Olympia-Theater oder in anderen Tingeltangeln zubringen. Jede Woche bleibt der Wegkommissär vor dem Hause des Vaters Rivoli stehen.

– Nun, was ist's mit der Erlaubniß?

– Noch nichts.

– Ihr müßt eine Reklamation absenden.

Die Reklamationen versinken in den Ämtern der Präfektur dort, wo das Gesuch versunken ist. Jeden Tag lugt Vater Rivoli auf der Straße nach dem Postboten aus. Doch niemals bleibt der Postbote vor seiner Thüre stehen. Und die Breschen in seiner Mauer werden größer und die Steine machen sich immer mehr los und rollen auf die Böschung. Der Mörtel bröckelt ab, denn es ist die Zeit der Herbstregen gekommen. Die arme Mauer verfällt immer mehr.

Und in einer Nacht, da es einen heftigen Sturm gegeben, ist die Mauer vollends eingestürzt. In aller Frühe, bei Tagesanbruch, hat Vater Rivoli das Unglück gesehen. Und in ihrem Sturze hat die Mauer die Weintrauben-Spaliere mitgerissen, welche im Herbste schöne Früchte geliefert haben. Und nichts schützt fortan die Wohnstätte des armen Mannes. Die Diebe und Landstreicher können zu jeder Minute eindringen, um seine Hühner abzufangen, ihm die Eier zu stehlen ... Und dann kam der Wegkommissär und rief furchtbar:

– Ihr seht nun, was ich sagte! Eure Mauer ist eingestürzt. Parbleu, ich will ein Protokoll aufsetzen! ...

Der Vater Rivoli beginnt zu weinen.

– Ist das meine Schuld? Ihr habt mich noch gehindert, sie auszubessern! ...

– So weint doch nicht, es ist keine so große Sache. Mit den 50 Thalern der ersten Strafe macht es Alles in Allem 150 Thaler und die Kosten ... Das könnt Ihr schon noch bezahlen.

Doch der Vater Rivoli kann es nicht bezahlen. Sein ganzes Vermögen ist sein Weingarten und liegt in seinen beiden Armen, welche in unermüdlicher Arbeit den Weingarten bestellen. Der arme Mann wird trübsinnig ... Er geht nicht mehr aus seinem Hause, wo er den ganzen Tag vor dem kalten Herde sitzt, den Kopf auf die beiden Hände gestützt. Der Gerichtsvollzieher ist zweimal gekommen, er hat das Haus und den Weingarten gepfändet, in acht Tagen soll all' das verkauft werden. Eines Abends verläßt nun Vater Rivoli seinen Sessel vor dem kalten Herde und geht still, ohne Licht, in den Keller hinunter ... Unter den alten Zapfen, unter dem Arbeitsgeräth und den leeren Körben sucht er einen starken Strick hervor, welcher ihm dazu diente, die Weinfässer hinabzurollen ... Dann geht er in seinen Weingarten hinauf ... Mitten im Weingarten steht ein alter Nußbaum, welcher seine knotigen starken Äste weit ausstreckt. Er befestigt den Strick an einem der hohen Zweige, indem er mittels einer Leiter den Baum erklettert. Dann legt er den Strick um seinen Hals und läßt sich mit einem Ruck hinabfallen ... Am nächsten Morgen bringt der Postbote die Erlaubniß des Präfekten. Er sieht den Gehängten vom Morgenwind geschaukelt; und auf dem Zweige über dem Gehängten zwitschern zwei Vögelein ...

Ein Vierter erzählt:

Nach einem unfruchtbaren Tage entschloß sich Jean Guenille spät Abends heimzukehren ... Heim! ... So nannte er eine Bank, welche er auf dem Square der Place d'Anvers ausgewählt hatte und auf welcher er seit einem Monate schlief, geschützt durch einen alten, schattenreichen Kastanienbaum ... In diesem Augenblicke bekam er auf dem Boulevard, vor dem Vaudeville-Theater, wo es Abend für Abend ein großes Gedränge gab, zwei Sous, und zwar zwei solche Sous, die keinen Kurs mehr hatten.

– Zwei schlechte Sous einem so armen Teufel zu geben, wie ich bin! ... Ein Millionär! ... Ist das nicht ein Jammer?

Er sah den Herrn, der ihm dieses Almosen gegeben hatte, später noch einmal. Es war ein schöner, fein gekleideter Herr, mit weißer Kravate und einem Stock mit goldenem Knopfe. Und Jean Guenille zuckte ohne Haß die Achseln und ging seiner Wege.

Was ihn am meisten verdroß, war, daß er nach der Place d'Anvers gehen mußte ... Das war weit und doch wollte er sein Heim auf der gewissen Bank aufsuchen. Alles in Allem war es dort nicht so schlecht und er war wenigstens sicher, nicht gestört zu werden ... denn er war den Sicherheits-Agenten schon bekannt, welche sich seiner schließlich erbarmt hatten und ihn dort ruhig schlafen ließen.

– Sapristi, sagte er sich, das war ein schlechter Tag! Seit drei Wochen hatte ich keinen so schlechten ... Man hat doch Recht zu sagen, daß das Gewerbe darniederliege. Wenn es die Schuld der Engländer ist, wie man behauptet, dann hole der Teufel die Engländer!

Er setzte sich wieder in Gang und gab die Hoffnung nicht auf, unterwegs doch einen barmherzigen Herrn oder einen großmüthigen Betrunkenen zu treffen, der ihm zwei Sous geben würde ... zwei wirkliche Sous, die ihm gestatten würden, am nächsten Morgen ein Stück Brod zu kaufen ...

– Zwei Sous, zwei echte Sous, das ist doch nicht das Goldland! sagte er sich, während er langsam dahinwanderte. Denn nebst seiner Müdigkeit hatte er auch noch einen Bruch, der ihm große Schmerzen verursachte.

Und wie er so seit einer Viertelstunde dahinwanderte, schier daran verzweifelnd, den providentiellen Herrn zu treffen, fühlte er plötzlich unter seinen Füßen etwas Weiches ... Zuerst glaubte er, es wäre ein Haufen Unflath ... dann aber dachte er, es könnte doch etwas sein, was man essen kann. Weiß man denn jemals? Das Glück liebt die armen Leute nicht und hat für sie nur selten frohe Überraschungen ... Und dennoch erinnerte er sich, eines Abends in der Rue Blanche eine Hammelskeule gefunden zu haben, eine schöne, große, frische Hammelskeule, welche ohne Zweifel, ein Metzger von seinem Karren verloren hatte. Was er jetzt unter den Füßen hatte, war keine Hammelskeule, das war sicher; vielleicht nur eine Kotelette, vielleicht ein Stück Kalbsleber ...

– Meiner Treu, sagte er sich, ich will mal schauen, was es ist ...

Und er bückte sich, um den Gegenstand aufzuheben, auf den er getreten war.

– Ei, ei, machte er, als er den Gegenstand berührt hatte, das ist nichts Eßbares ... Ich bin wieder einmal betrogen ...

Die Straße war menschenleer ... Kein Polizeimann, auf seinem Rundgange begriffen, war zu sehen. Jean Guenille näherte sich einer Gaslaterne, um den Gegenstand genau zu besichtigen, den er in der Hand hatte ...

– Oh, oh, das ist aber stark! murmelte er.

Es war eine Brieftasche von schwarzem Maroquinleder, mit silbernen Ecken ... Jean Guenille öffnete die Brieftasche und prüfte den Inhalt ... In einem der Fächer fand er ein Päckchen Bankbillets ... Zehn Stück Noten zu tausend Francs, mittels einer Stecknadel zusammengehalten ...

– Ei, ei, das ist nicht übel, wiederholte er.

Und mit dem Kopfe nickend fügte er hinzu:

– Wenn ich bedenke, daß es Leute gibt, die solche Brieftaschen haben und in diesen Brieftaschen Banknoten bis zu 10.000 ... Ist das nicht ein Jammer! ...

Er untersuchte nun die anderen Fächer der Brieftasche, aber es war nichts da, nichts, keine Karte, keine Photographie, kein Brief, nicht das geringste Anzeichen, welches auf die Spur des Eigenthümers dieses Reichthums, den er in der Hand hielt, geführt hätte.

Er schloß die Brieftasche und sagte sich:

– Nun, ich danke schön. Jetzt muß ich das dem Polizeikommissär bringen. Das lenkt mich von meinem Wege ab und ich bin schon recht, recht müde ...

– Nein, wahrhaftig, ich habe heute kein Glück!

Die Straße war menschenleer, Niemand ging vorüber, kein Polizeimann auf seinem Rundgang war zu sehen ... Jean Guenille machte Kehrt und ging nach dem nächsten Polizeikommissariat ...

Jean Guenille hatte viele Mühe zu dem Beamten zu gelangen. Seine zerfetzte Kleidung und sein fahles, fleischloses Gesicht waren die Ursache, weshalb man ihn anfänglich für einen Missethäter hielt ... Und es fehlte nicht viel, daß man sich auf ihn gestürzt und ihn nach dem Gefängniß geschleppt hätte ... Doch durch sein sanftes und beharrliches Bitten erlangte er endlich die Gunst, in das Amtszimmer des Herrn Polizeikommissärs geführt zu werden.

– Herr Polizeikommissär, grüßte Jean Guenille, ich bringe Ihnen etwas, was ich soeben auf der Straße gefunden habe.

– Was ist es?

– Da ist es, Herr Polizeikommissär, erwiderte der arme Kerl, indem er mit seinen dürren, knochigen Fingern die Brieftasche hinreichte.

– Gut, gut. Natürlich ist nichts in der Brieftasche?

– Schauen Sie selbst, Herr Polizeikommissär.

Dieser öffnete die Brieftasche und holte das Päckchen Banknoten heraus. Er zählte die Noten und sagte, die Augen vor Überraschung weit aufreißend:

– Wie, was? Sprechen Sie doch! Da sind 10.000 Francs! Sapristi! das ist doch eine Riesensumme, eine ungeheure Summe!

Jean Guenille war ruhig geblieben und sagte:

– Wenn ich bedenke, daß es Leute gibt, welche 10.000 Francs in ihrer Brieftasche haben! ... Ist das nicht ein Jammer! ...

Der Kommissär hörte nicht auf, mit verblüfften Blicken den Vagabunden zu betrachten, mit Blicken, in welchen sich weit mehr Erstaunen als Bewunderung ausdrückte.

– Und Sie haben das gefunden? Sapristi! da sind Sie ja ein ehrlicher Mann! ein wackerer Mann! Sie sind ein Held, ohne Zweifel, Sie sind ein Held! ...

– Oh, Herr Kommissär ...

– Ein Held, ich bleibe dabei, denn schließlich hätten Sie das Geld ja einstecken können ... Kurz, Sie sind ein Held. Es ist eine glänzende That, eine heroische That! Ich finde keinen anderen Ausdruck. Sie verdienen einen Tugendpreis. Wie heißen Sie?

– Jean Guenille, erwiderte der Bettler.

Der Kommissär streckte die Hände in die Luft und rief:

– Und er heißt Jean Guenille! Lumpenhannes. Es ist wunderbar! Man könnte ein Buch daraus machen! Was ist Ihre Beschäftigung?

– Ach, erwiderte der Bettler, ich habe keine Beschäftigung ...

– Wie, keine Beschäftigung? Sie leben von Ihren Renten?

– Ich lebe von der öffentlichen Mildthätigkeit, Herr Kommissär. Aber kann ich auch wirklich sagen, daß ich davon lebe? ...

– Ei, zum Teufel! Ich glaube, daß die Dinge eine schlimme Wendung nehmen ...

Hier machte der Kommissär eine Grimasse und sagte in weniger begeistertem Tone:

– Kurz, Sie sind ein Bettler.

– Ach ja, Herr Kommissär.

– Ja, ja, ein Bettler.

Der Kommissär war ernst geworden. Nach kurzer Weile fuhr er fort:

– Und wo wohnen Sie?

Jean Guenille antwortete entmuthigt:

– Wo sollte ich wohnen?

– Sie haben keine Wohnung?

– Leider, nein.

– Sie haben keine Wohnung? Wollen Sie sich über mich lustig machen, mein wackerer Mann?

– Ich versichere, daß ich keine habe.

– Aber Sie müssen doch eine Wohnung haben; das Gesetz zwingt Sie eine Wohnung zu haben.

– Und das Elend zwingt mich, keine Wohnung zu haben. Ich habe keine Arbeit, ich habe keine Hilfsquellen, und wenn ich die Hand ausstrecke, gibt man mir schlechte Sous ... Überdies bin ich alt und krank und habe einen Bruch.

– Einen Bruch ... das ist gut ... davon ist nicht die Rede ... Aber Sie haben keine Wohnung ... Sie sind im Zustande des Umherstreichens ... Sie haben sich ganz einfach des Vergehens der Landstreicherei schuldig gemacht ... Ein Held! Gewiß sind Sie ein Held! Aber Sie sind auch ein Vagabund ... Und wenn es keine Gesetze gibt für die Helden, so gibt es doch deren gegen die Vagabunden ... Ich bin genöthigt, das Gesetz anzuwenden. Es verdrießt mich, denn was Sie gethan haben, ist sehr schön; aber was wollen Sie? Das Gesetz ist das Gesetz ... Sie verteufelter Mann! ... Was war das auch für eine seltsame Idee! ...

Während er so sprach, wiegte er die Brieftasche in seiner Hand. Dann fuhr er fort:

– Da ist diese Brieftasche ... Zugegeben ... Es gibt wohl nur wenige Leute, die an Ihrer Stelle und in Ihrer Lage diese Brieftasche auf die Polizei getragen hätten ... Das gebe ich zu. Ich will nicht behaupten, daß Sie ein Dummkopf waren, indem Sie die Brieftasche hieher brachten. Nein, im Gegentheil. Ihre Handlungsweise war eine sehr verdienstliche, sie ist einer Belohnung würdig ... Und diese Belohnung, die nicht weniger als fünf Francs ausmachen darf, werden Sie sicherlich bekommen, sobald wir die Person auffinden, welcher diese Brieftasche mit dem Inhalte von 10.000 Francs gehört ... Ja, aber aus all' dem folgt noch nicht, daß Sie eine Wohnung haben. Und davon ist jetzt die Rede, Jean Guenille. Verstehen Sie mich wohl? Es gibt im Gesetz keinen Artikel, welcher Sie verpflichtet, auf der Straße eine mit Banknoten gefüllte Brieftasche zu finden ... Dagegen gibt es ein Gesetz, welches Sie nöthigt, eine Wohnung zu haben ... Sie hätten weit besser gethan, eine Wohnung zu finden, anstatt einer Brieftasche ...

– Nun, und? fragte Jean Guenille.

– Sie werden, erwiderte der Kommissär, heute Nacht auf dem Polizeiposten schlafen und morgen liefere ich Sie nach der Centralpolizei ab.

Und er läutete. Zwei Polizei-Sergeants traten ein. Der Beamte machte eine Handbewegung und während die Polizei-Soldaten Jean Guenille auf den Posten führten, seufzte der Bettler:

– Wahrhaftig, ich habe heute kein Glück! Diese verdammten Spießbürger ... Thäten sie nicht besser, ihre Brieftaschen in ihren Taschen zu bewahren, als sie zu verlieren? Ist das nicht ein Jammer?

Ein Fünfter endlich erzählte:

– Sie werden verzeihen, wenn meine Erzählung weniger heiter ist. Was wir eben gehört haben, war das komische Elend; hören Sie nun das tragische Elend. Es ist ebenso schmerzlich, wenn auch weniger heiter.

Und er begann:

– Eines Tages läutete es an meiner Thüre. Es war ein Mann von etwa 50 Jahren, sehr ärmlich gekleidet, krank und gebrechlich aussehend, mit überspannten Bewegungen und unzusammenhängenden Reden. Nach einigen Erklärungen, welche die Magd, die nichts davon begriff, entsetzten, verlangte er mich zu sehen. Die Dienstleute haben keinen Sinn für das Geheimnißvolle. Sie lieben nicht die armen Leute und haben eine förmliche Angst vor den leidenden Gesichtern ... Man sagte dem Manne, daß ich nicht zu Hause wäre und nur sehr spät, vielleicht überhaupt nicht heimkehren würde. Der Mann wurde einen Augenblick fassungslos, aber er beharrte nicht bei seinem Verlangen, sondern ging wortlos seiner Wege ... Eine halbe Stunde später kam er wieder und läutete an meiner Thür. Der Ausdruck seines Gesichtes schien nicht mehr der nämliche zu sein ... Er war jetzt ruhig, fast heiter, er lächelte der Magd zu und in seinem Lächeln lag viel Sanftmuth und Güte. Mit außerordentlich höflicher Stimme sagte er:

– Sie werden dem Herrn diese vier Blätter übergeben, welche ich unten bei dem Hausbesorger geschrieben habe. Sie werden sie ihm übergeben, sobald er heimkehrt. Vergessen Sie es nicht, es ist von höchster Wichtigkeit ...

Und mit leiser, fast geheimnißvoller Stimme fügte er hinzu:

– Es handelt sich um das Glück der Menschheit. Sie sehen also, wie dringend die Sache ist. Doch still, sagen Sie der Köchin nichts davon. Die Köchinnen kümmern sich wenig um das Glück der Menschheit ...

Gleichzeitig übergab er ihr vier Blätter Papier, eines nach dem anderen, welche mit einer breiten, bald sehr fest, bald wankend geschriebenen Schrift bedeckt waren. Stellenweise war die Tinte noch nicht getrocknet.

– Still, sagte er nochmals, ich zähle auf Sie.

Dann hüpfte er ohne weitere Erklärungen die Treppe hinab.

Der Gast, der dies erzählte, zog aus der Tasche seines Smoking eine kleine Papierrolle, die er auseinanderfaltete.

– Wenn es unter uns Leute von Geschmack gibt, dann tugendhafte Leute und Vaudevillisten, so bitte ich sie, nicht zuzuhören ... Folgendermaßen lautet der Brief:

Und er las:

»Mein Herr! Ich kenne vollkommen den Grund, weshalb Ihr mich nicht begreifet, weshalb Ihr mich nicht liebet und niemals lieben werdet, weshalb Ihr, so viel Ihr auch seid, mich auf dem Schafott sterben oder auf den Galeeren verderben lassen werdet, kühl, ohne einen Blick des Erbarmens für mich, ja selbst ohne einen Blick der Neugierde für mich.

Ihr Herren seid gesunde, kräftige Bursche. Ihr habt eine feste Haut, klare, gute Augen und lange Arme und habt einen Bauch. Ja, einen Bauch ... Aber das thut nichts. Auch ich habe einen Bauch ...

Ihr Herren seid geboren und aufgewachsen in reizend schönen Gegenden, wo überall die Nahrung wächst, ja überhaupt nichts als Nahrung wächst ... Und die Muskel voll Kraft, die Adern voll heißen Blutes, die Lungen voll reiner Lust, habt Ihr Euch dem Entzücken und der Fruchtbarkeit Eurer Wohnsitze entrissen und habt nach Paris gebracht dieses so schöne Ideal, das so gut nach dem frischen Grase der Wiesen riecht, das Aroma der Quellen, die Ruhe, die Stille der tiefen Wälder, den Geruch der Viehställe und des Heues; nach Paris, welches Ihr – gestatten Sie mir diese Bemerkung – so wenig kennt.

Ich, der ich nichts habe, möchte viel darum geben, wenn ich kein Pariser wäre und es niemals gewesen wäre! ... Vielleicht hätte ich dann ein weniger trostloses Aussehen, vielleicht würde ich dann weniger leiden und hätte etwas mehr Haare aus dem Kopfe ... Und wäre ich nicht in Paris geboren, dann wäre ich vielleicht anderswo geboren, so wie Ihr alle, oder wäre ich vielleicht überhaupt nirgends geboren, was für mich ein großes Glück wäre ...

Denn ich bin das Pariser Kind. Hervorgegangen aus erbärmlichen Lenden und entarteten Racen ... Mein Vater war das Verbrechen, meine Mutter war die Noth. Meine Gespielen waren Bibi Sapeur, La Gousse, Titi und Trompela-Mort. Mehrere dieser armen Kerle sind auf den Galeeren, andere auf dem Schafott gestorben. Und ich fühle, daß mir vielleicht ein ähnlicher Tod vorbehalten ist ... Bis zu meinem elften Lebensjahre habe ich keine Getreidefelder gesehen, keine Quelle, keinen schönen Wald. Ich habe nichts als Messer gesehen, wüthende Augen, rothe Hände, armselige Hände, roth vom Blute, weil sie getödtet haben, bleiche Hände, weil sie gestohlen haben. Und was hätten sie Anderes thun können?

Im Zorn, im Hunger und wohl auch in der Liebe haben meine Augen den Reflex dieser Messer, die ich in meiner Kindheit gesehen, und wer sie sieht, möchte gleich an die Guillotine denken. Und meine Hände, ach, meine Hände! ... Sie haben Alles gesehen, und weil sie Alles gesehen haben, so viele furchtbare, traurige oder schmerzliche Dinge, sind sie geballt geblieben, müssig, unfähig zur Arbeit.

Ich habe mich in den Fabriken und Werkstätten von Paris herumgetrieben ... Ich habe Lasten gehoben und Pfosten angestrichen. Ich habe Rauch geschluckt und bin in die Brunnen hinabgestiegen. Und ich habe mich nicht satt essen können und habe unter meinen Gefährten Niemanden gefunden, der mich geliebt hätte ... Man hat keine Zeit dazu und die Arbeit macht das Herz rauh, daß schließlich die Einen die Anderen verabscheuen ...

Später, mit dreißig Jahren bin ich in ein Haus eingetreten, wo die Dinge nicht so gingen. Es war ein Bürgerhaus. Dort durfte ich nicht herumbummeln; dort gab es einen Herrn anstatt zweihundert, dort hieß es gehorchen. Ich fügte mich und beherrschte meine Nerven, die schönen, angenehmen Tage thaten das Übrige ... Da es auf dem Lande war, wurde mein Sinn besänftigt bei den Spaziergängen durch die Felder und in den Wäldern; ich plauderte mit den plätschernden Quellen, mit den Blumen auf den Böschungen der Straßen und auf den Wiesen ... Schon alt durch die Noth und erschöpft durch die Arbeit, hatte ich Jugendträume, wie man deren mit sechzehn Jahren hat ...

Dann bin ich nach Paris zurückgekommen und bin in den Straßen herumgeschlendert, habe mich des Abends in den Wirthshäusern, in den Schlupfwinkeln herumgetrieben und habe schließlich Kameraden gefunden ... Es waren brave, rechtschaffene Leute, halbe Trunkenbolde, ganze Trunkenbolde, halbe Zuhälter, ganze Zuhälter, traurig und fröhlich, mildherzig und grausam ... und ich liebte jene Leute, weil sie wenigstens ein Herz hatten ... Ja, aber all' dies heißt noch nicht leben ...

Die Sachen fühlen und sein Elend herumführen, dahin und dorthin, vom Abend bis zum Morgen, von der Weinstube nach dem Gefängniß: das heißt nicht leben.

Und nun will ich Folgendes thun, vorausgesetzt, daß man mich nicht in dem Maße haßt, um mich in einem Narrenhause, oder in einem Bagno, oder in einem Spital einzusperren ... Ich will endlich eine soziale Gefahr werden. Ich will allein für das ganze Volk von Paris und für die Bauern, die ich liebe, ich will allein hingehen und allen Deputirten und allen Wählern, und mögen deren hundert Millionen sein, Besuche machen und sie fragen, ob sie sich noch nicht lange genug über uns lustig gemacht haben?

Für das Volk von Paris und für die Bauern, welche ich liebe, werde ich Herrn Loubet aufsuchen; ich werde ihn zwingen, mit mir zu allen Weinschänken der Rue de la Roquette, der Rue de la Charonne und des Faubourg Antoine zu kommen, an einem Tage, wo die Arbeitslöhne ausgezahlt werden. Und ich werde ihn zu allen Gemeindevorstehungen führen, wo die Arbeitsgesuche angeschlagen sind. Und ich werde ihn in alle Spelunken führen, wo die armen Bettler ihre armen kranken Köpfe sinken lassen.

Für das Volk von Paris und für die Bauern, die ich liebe, werde ich den König von Belgien und den Prinzen von Wales einladen, und alle Könige und alle Reichen und alle Glücklichen, mit mir in die öffentlichen Häuser von Montmartre, in die Kerker, in die Polizeigefängnisse zu kommen, damit sie sich ihrer Reichthümer und ihres Glückes schämen und damit sie lernen die Dirnen lieben und die Zuhälter schätzen und alle die braven Herzen, gegen welche sie Gesetze schaffen, Spürhunde der Polizei loslassen, Schafotte zimmern, anstatt ihnen Paläste und Statuen zu errichten.

Für das Volk von Paris und für die Bauern, die ich liebe, werde ich nach Rom gehen und dem Papste sagen, daß sie von seinen Priestern nichts mehr wissen wollen. Und ich werde den Königen, den Kaisern, den Republiken sagen, daß es aus ist mit ihren Armeen, mit ihrem Gemetzel, mit all' dem Blut und all' den Thränen, mit welchen sie unsinnigerweise das Weltall bedecken. Und alle diese Gesichter und alle diese Bäuche sollen mein Messer und meine Hand zu fühlen bekommen. So werde ich meine Rolle einer sozialen Gefahr erfüllen.

Ich habe die feste Zuversicht, Sie demnächst zu sehen, an einem Tage, wo Sie nicht mit Geschäften überhäuft sein und frühzeitig heimkehren werden, und es nicht gar so eilig haben werden.

Ich liebe nicht die Leute, die es gar so eilig haben ...

 

Der Erzähler faltete den Brief wieder zusammen und steckte ihn in die Tasche ... Stillschweigen war eingetreten und ich fühlte etwas, wie einen kalten Wind, welcher mir über den Nacken fuhr ...

Triceps, der sich ganz und gar seinen Hausherrnpflichten widmete, hatte während all' dieser Erzählungen kein Wort gesprochen ... Aber er war nicht der Mann, der daraus nicht wissenschaftliche Schlüsse gezogen hätte.

– Meine Freunde, sagte er, ich habe Ihre Erzählungen aufmerksam angehört; und sie bestärken mich noch mehr in meiner Meinung, die ich seit langer Zeit, besonders aber seit dem Budapester Kongresse, mir von dem menschlichen Elend gebildet habe. Während Sie behaupteten, daß die Armuth das Resultat eines fehlerhaften und ungerechten gesellschaftlichen Zustandes sei, sage ich, daß sie nichts Anderes ist, als ein individueller physiologischer Verfall ... Während sie behaupteten, daß die soziale Frage nur durch die Politik, durch die Volkswirthschaft, durch die streitbare Litteratur gelöst werden kann, schrie ich sehr laut, daß sie nur durch die Heilkunde gelöst werden kann ... Das ist offenbar ... Es kann keinen Zweifel geben ... Ach, die Wissenschaft, welches Wunder! ... Sie wissen, durch welche strenge, unbeugsame Versuche wir – einige wissenschaftliche Forscher und ich – dahin gelangt sind, auszusprechen, daß das Genie – beispielsweise – nichts Anderes ist, als eine furchtbare Trübung des Verstandes. Die Männer von Genie sind Maniaken, Alkoholiker, Entartete, Narren ... So haben wir lange geglaubt, daß Zola – zum Beispiel – sich des gesündesten Verstandes erfreue. Alle seine Bücher schienen diese Wahrheit zu bestätigen, laut auszuschreien. Aber keineswegs! Zola? ... Ein Delinquent ... ein Kranker, den man pflegen muß, anstatt ihn zu bewundern. Ich begreife nicht, daß wir noch nicht erlangt haben, daß er im Namen der nationalen Gesundheitslehre in einem Tollhause eingeschlossen werde ... Und passen Sie gut auf, meine Freunde: was ich von Zola sage, das sage ich auch von Homer, von Shakespeare, von Molière, von Pascal, von Tolstoi ... Narren, lauter Narren! ... Sie wissen auch, daß die sogenannten Geistesfähigkeiten, die sogenannten sittlichen Tugenden, auf welche der Mensch so stolz ist und welche wir durch die Erziehung zu entwickeln so eifrig bemüht sind ... jawohl, daß die Intelligenz, das Gedächtnis der Muth, die Rechtschaffenheit, die Entsagung, die Ergebenheit, die Freundschaft u. s. w., u. s. w. nichts als schwere physiologische Fehler sind, Entartungen, mehr oder minder gefährliche Äußerungen der großen, einzigen, furchtbaren Krankheit unserer Zeit: der Nevrose ... Nun denn: eines Tages legte ich mir folgende Frage vor: »Was ist die Armuth?« Und ich antwortete augenblicklich: »Eine Nevrose, sicherlich!« Zuerst klügelte ich und sagte mir: »Entledigen wir uns aller Gemeinplätze, aller Formeln, welche seit Jahrhunderten Schriftsteller, Dichter und Philosophen sich vererben ... Wie? in einer Zeit der Produktion und Überproduktion, wie die unserige ist, kann es vorkommen, daß es noch Arme gibt? Ist es faßbar, ist es möglich, daß in einer Zeit, wo man zu viel Tuch, zu viel Sammt, zu viel Seide, zu viel Leinwand, zu viel Wollstoffe fabrizirt, noch Leute anzutreffen sind, die elendiglich gekleidet sind? ... Daß menschliche Wesen vor Hunger und Noth verrecken, während Nahrungsmittel jeder Art die Märkte des Universums überschwemmen? ... Welcher – scheinbar unerklärlichen – Anomalie ist es zuzuschreiben, daß wir bei so viel vergeudeten Reichthümern, bei so viel unnützem Überfluß Menschen sehen, die hartnäckig arm bleiben?« Die Antwort war leicht. »Sind es Verbrecher? Nein. Sind es Maniaken, Entartete, Narren? Ja. Kurz: es sind Kranke ... Und ich muß sie heilen ...«

– Bravo! Bravo! rief Jemand.

Ein Anderer rief:

– Ah, das ist schön!

Triceps fuhr ermuthigt fort:

– Sie heilen? Ohne Zweifel. Aber man muß diese Klügelei von dem Gebiete der Hypothese auf das Gebiet strenger Experimente hinüberleiten ... von den Sümpfen der Volkswirthschaftslehre, aus den Torfgruben der Philosophie in die vegetabilische Erde der Wissenschaft verpflanzen. Mir wird das ein Kinderspiel sein. Ich habe mir zehn Arme verschafft, welche alle Merkmale der äußersten Noth zeigen ... Ich habe sie der Einwirkung der X-Strahlen ausgesetzt ... Hören Sie wohl! ... Sie zeigten im Magen, in der Leber, in den Eingeweiden Funktionsfehler, die mir nicht genügend charakteristisch und speziell schienen ... Das Entscheidende war eine Reihe schwärzlicher Flecke am Gehirn und dem ganzen cerebrospinalen Apparat ... Niemals habe ich solche Flecke an dem Gehirn von Reichen oder Wohlhabenden wahrgenommen. Fortan war ich aufgeklärt; ich zweifelte keinen Augenblick länger, daß dies die Ursache der dementalen und nevropathischen Affektion, genannt Armuth sei.

– Welcher Art waren diese Flecke? fragte ich.

– Ähnlich jenen, welche die Astronomen an der Peripherie des Sonnengestirns entdeckten, erwiderte Triceps mit unverwüstlicher Ruhe ... Mit der Eigentümlichkeit jedoch, daß sie anscheinend eine hornartige Verhärtung hatten ... Und merke, mein Freund, wie Alles sich aneinander fügt, wie eine Entdeckung die andere herbeiführt ... Gestirn und Gehirn: begreifst Du? Fortan hatte ich in der Hand nicht blos die Lösung der sozialen Frage, sondern auch die viel wichtigere Lösung eines Problems, welche ich seit fünfzehn Jahren suchte: die Einheitlichkeit der Wissenschaften.

– Wunderbar! ... Und weiter?

– Ich habe nicht die Zeit, Ihnen eine vollständige physiologische Beschreibung dieser Flecke zu geben ... Das wäre übrigens für Sie auch zu schwierig; begnügen Sie sich damit zu wissen, daß ich nach sehr ausdauernden histologischen Analysen die Natur dieser Flecke genau bestimmen konnte. Alles Übrige war für mich nichts. Ich schloß meine Armen in Zellen ein, welche für die Behandlung, die ich anwenden wollte, eingerichtet waren ... Ich unterwarf sie einer intensiven Ernährung, Einreibungen mit Jod auf dem Schädel, einer ganzen Serie von geschickt abgestuften Douchen. Ich war entschlossen, diese Heilmethode fortzusetzen bis zu vollständiger Heilung ... das heißt, bis diese Armen reich geworden ...

– Nun, und?

– Nun denn: nach sieben Wochen hatte einer dieser Armen zweimalhunderttausend Francs geerbt ... ein anderer hatte das große Los in der Panama-Lotterie gewonnen ... ein dritter hatte bei dem »Matin« eine glänzende Stellung als Theater-Berichterstatter gefunden ... Die sieben anderen sind gestorben ... Sie waren zu spät zu mir gekommen ...

Plötzlich machte er eine Pirouette und schrie:

– Nevrose! Nevrose! Nevrose! Alles ist Nevrose! Der Reichthum ist auch eine Nevrose! Gewiß! ... Offenbar! ... Und die Hahnreischaft? ... Ach, meine Kinder! Und das Bier? Und die Chartreuse? ... Und die Zigarren? ...

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