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V.

Herr Isidor Josef Tarabustin, Professor am Gymnasium von Montauban, war soeben zugereist, um mit seiner Familie die Sommersaison in X. zu verleben. Herr Tarabustin leidet an einem Katarrh der Eustachischen Trompete, Frau Rose Tarabustin an Wassersucht im Knie; der Sohn Louis Pilate Tarabustin an einer Verkrümmung des Rückgrates: wie man sieht, ist das eine recht moderne Familie. Und außer diesen eingestandenen und übrigens achtungswerthen Krankheiten haben sie noch andere, die sie am Quell des Lebens gefaßt haben. Durch welch' unreine Vererbungen, durch welch' schmutzige Leidenschaften, durch welche verderbten, heimlichen Ausschweifungen, durch welche ehelichen Sümpfe wurden nur Mann und Frau Tarabustin, der Eine sowohl wie die Andere, gezeugt, um dieses Exemplar krankhafter Menschheit hervorzubringen, diese verkrüppelte und von Skropheln zerfressene Mißgeburt, die der junge Louis Pilate ist. Dieses Kind erscheint mit seiner erdfarbenen, verdorbenen Haut, seinem zickzackförmig gebogenen Rücken, seinen verkrümmten Beinen, seinen schwammigen und weichen Knochen siebzig Jahre auf dem Rücken zu haben. Er besitzt durchaus das Wesen eines kleinen, hinfälligen, von Manien geplagten Greises. Wenn man sich in seiner Nähe befindet, bedauert man es wirklich, daß man ihn nicht tödten kann. Als ich das erste Mal alle diese Tarabustins erblickte, schoß mir der Gedanke durch den Kopf, auf sie loszugehen und ihnen zuzurufen:

– Weshalb kommt Ihr hierher und beleidigt durch Eure dreifache Anwesenheit, durch die Immoralität Eurer dreifachen Anwesenheit die wilde Herrlichkeit der Gebirge und die Reinheit der Quellen? ... Kehrt nach Hause zurück! Ihr wißt doch, daß es keine Quelle gibt – so wunderwirkend sie auch sein möge – die jemals die Jahrhundert alte Fäulniß Eurer Organe und den sittlichen Schmutz, in dem Ihr geboren wurdet, wegwaschen könnte ...

Aber ich bedenke, daß Herr Isidor Josef Tarabustin über die Beredtsamkeit einer solchen Sprache erstaunen würde und dieser komischen Aufforderung keineswegs Folge leisten möchte.

Tagtäglich begegnet man zu gewissen Stunden am Morgen in den Alleen oder den Wäldchen Herrn Tarabustin, der feierlich-methodisch das Bad verläßt, diesen großen Säemann von Worten und Gesten, der auf seinen kurzen Beinen den ungesunden Bauch und das beulenbehaftete Gesicht spazieren führt. Seine Familie begleitet ihn; zuweilen ist auch ein Freund Vierter im Bunde, ein Zimmernachbar, der gleich ihm Professor ist, dessen krankhafte, wie mit Mehl bestreute Haut ihm ein Pierrotgesicht verleiht, das mit Asche bestäubt worden ist. Man kann sich gar nichts Schöneres vorstellen, wenn sie längs des Sees einherwandeln und mit den Schwänen sprechen, während der junge Louis Pilate nach den Thieren mit Steinen wirft.

– Ich möchte wohl wissen, weshalb man dieses Geflügel Schwäne nennt? fragt Herr Isidor Josef Tarabustin, worauf sein Freund grinsend zur Antwort gibt:

– Das sind eben Gänse, deren Hals etwas zu lang gerathen ist, weiter nichts ... Die Leute sind eben aufs Lügen erpicht.

Am Abend schreitet Herr Tarabustin majestätisch auf der Landstraße, welche nach Spanien hinüber führt, einher, bis zum »letzten Gashahn Frankreichs.« Er erklärt mit pathetisch erhobener Stimme:

– Wir wollen bis zum »letzten Gashahn Frankreichs« gehen!

Seine Gattin folgt ihm, mühsam vorwärtswatschelnd. Sie ist weichlich und von gelbem Fett förmlich aufgetrieben. Hinter ihr schleicht ihr Sohn, der die größten Misthaufen, die breitesten Kuhfladen, welche um diese Stunde zahlreich auf der Straße liegen, wo tagsüber zahllose Ochsen- und Pferdegespanne einherzogen, aufsucht, um mit dem Fuße hineinzutreten. Wenn sie bei dem »letzten Gashahn Frankreichs« angelangt sind, macht Herr Tarabustin Halt, denkt lange nach oder verkündet, je nach der Beschaffenheit seiner Laune, moralische Grundsätze oder Gedanken von hoher Philosophie, zum Zwecke geistiger Erbauung seiner Familie. Dann kehrt er langsam nach der Stadt zurück und begibt sich nach dem licht- und lustlosen Schlafzimmer, das er in einem engen, feuchten, ungesunden, düsteren Hause gemiethet hat, in das selbst während der Mittagssonne kein Lichtstrahl dringt, da es durch eine doppelte Reihe von Bäumen verfinstert ist. Alle Drei begeben sich in ihre Betten, die nebeneinander stehen und während ihre Lungen vertrauensvoll das Gift ihrer Ausathmungen austauschen, schlafen sie ein ... Zuweilen, wenn der Sohn schlummert, geben sie sich häßlichen Liebesspielen hin und stimmen durch ihre Malthusküsse das Schweigen der Nacht trostlos.

Gestern bin ich auf der Landstraße nach Spanien Herrn Isidor Josef Tarabustin begegnet. Er war am Fuße der letzten Gaslaterne von Frankreich stehen geblieben. Sein Weib hielt sich zu seiner Rechten, sein Sohn zu seiner Linken und dies hob sich vom Hintergrund in der Dämmerung, die der Mond silbern färbte, wie eine seltsame Scene der Passion ab, eine possenhafte Parodie des Leidensganges von Golgatha.

Kein Lebewesen ging mehr über diesen Weg, weder Thiere noch Menschen. An der Wegkreuzung des engen Thales spuckte der Wildbach zwischen dem wilden Felsgeröll und rollte Kiesel mit dem Klingen einer Harmonika ... Und der Mond glitt langsam auf dem Himmel zwischen dem Schlunde der beiden Gebirge herein, welche von Minute zu Minute weniger schwarz und nur noch von malvenfarbenen Nebeln verhüllt schienen.

Da ich voraussah, daß Herr Isidor Josef Tarabustin Worte von ewigem Werthe aussprechen würde und da ich diese zu vernehmen wünschte, verbarg ich mich hinter einer Böschung des Weges, um seine Beredtsamkeit nicht zu stören.

– Rose ... befahl plötzlich Herr Tarabustin ... und auch Du, Louis Pilate, betrachtet Beide diesen Apparat ... diesen Beleuchtungsapparat ... Und mit einer edlen Bewegung deutete er auf die Gaslaterne, die infolge übertriebener Sparsamkeit der Ortsverwaltung nicht angezündet worden war, denn es herrschte an jenem Abend Mondlicht ... Betrachtet diesen Apparat, begann der Professor von neuem ... und sagt mir, was das ist! ...

Louis Pilate zuckte die verkrümmten Achseln. Rose antwortete, indem sie ihr krankes Knie rieb:

– Aber das ist eben ein Gashahn, lieber Freund ...

– Zweifellos ist das ein Gashahn ... aber es ist kein gewöhnlicher Gashahn, wie alle die anderen auch ... Es ist dies eine ganz besondere Sache und um das Kind beim Namen zu nennen, eine höchst symbolische Sache ... Wenn Ihr ihn betrachtet ... sieh mal, meine theure Rose und auch Du, Louis Pilate! ... fühlt Ihr denn nicht eine Regung ... eine Rührung ... ein Schaudern ... kurz ein starkes, mächtiges ... religiöses ... ja, sagen wir es frei heraus ... patriotisches Gefühl? ... Geh' einen Augenblick in Dich, Rose ... Louis Pilate, steige in die Tiefe Deiner Seele hinab ... sagt Euch das also nichts? ...

Rose seufzte beinahe jammernd:

– Ach, Isidor Josef, weshalb soll ich angesichts dieser Laterne Regungen empfinden, die ich vor anderen Laternen nicht empfinde?

– Weil diese Laterne, theure Frau, einen Gedanken umschließt, einen heiligen Gedanken, einen mütterlichen Gedanken, ein Geheimniß, das kein anderer Laternenpfahl in seinem Inneren trägt ... weil eben, höre wohl auf meine Worte, weil eben diese Gaslaterne die letzte Gaslaterne Frankreichs ist, weil nach ihr ... das Gebirge kommt ... Spanien kommt ... Das Unbekannte ... verstehst Du? Kurz, das Fremde, das Ausland, weil hier das Vaterland allabendlich zur Freude, zur Dankbarkeit unserer Herzen sich erhellt und zu uns zu sagen scheint: »Wenn Du mich liebst, gehe nicht weiter!« Nun weißt Du, was es mit dieser Gaslaterne für eine Bewandtniß hat! ...

Frau Tarabustin betrachtete lang diese Gaslaterne, gab sich augenscheinlich die größte Mühe, um die göttliche Regung zu empfinden. Doch traurig, niedergedrückt durch den Gedanken, daß sie nicht dieselben Gefühle, die das Herz ihres Gatten schwellten, empfand, seufzte sie klagend:

– Ich besitze eben nicht Deine Geistesgröße, lieber Freund, und deshalb sehe ich auch nicht so viel schöne Dinge in einer einfachen Gaslaterne ... Das ist ein großes Unglück ... Für mich bleibt eine Gaslaterne stets eine Gaslaterne, selbst wenn es das letzte Gaslicht von Frankreich ist.

Herrn Tarabustin's Stimme nahm nun einen traurigen Klang an:

– Ja, leider! meinte er. Du bist eben nur ein Weib und bist nicht wie ich in die Tiefe der Dinge gedrungen ... Die Dinge, meine arme Freundin, sind nur scheinbare Vorstellungen, hinter denen die ewigen Symbole leben ... Das Gewöhnliche, die Alltäglichkeit nimmt nur den äußeren Schein wahr ... nur große Geister, wie ich, entdecken die Symbole hinter dem äußeren Schein, der sie verbirgt.

Dann trat eine Pause ein.

Der Athem der Tarabustins verdarb die belebende Reinheit der Abendluft; der Duft von wilden Nelken, der bis hierhergedrungen war, nahm schleunigst Reißaus und verlor sich im Thale. Selbst die Heimchen waren bei den Worten des Professors erstaunt über diesen Mißklang verstummt.

– Und was sagst Du, Louis Pilate?

Doch das Kind zertrat gerade unter seiner Sohle ein Glühwürmchen, das im Grase aufgeleuchtet hatte. Er gab keine Antwort. Da blickte Herr Isidor Josef Tarabustin ein letztes Mal den letzten Gashahn Frankreichs an, dann brach er auf, gefolgt von seinem Weibe, das wieder mühsam einherhinkte, gefolgt von seinem Sohn, der neuerdings im Miste und in den Kuhfladen zu waten begann.

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