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II.

Heute Abend habe ich das Kasino besucht; ja, ich habe mich nach dem Kasino begeben, um mich dort eine Weile herumzutreiben. Man muß doch irgendwo die Stunden des Zubettegehens erwarten.

Als ich mich nun dort befand und im Garten auf einer Bank saß und die Leute vorüberziehen sah, kam plötzlich ein fetter, dicker Mann, der mich schon seit einiger Zeit beobachtet hatte, auf mich zu.

– Ich täusche mich doch nicht? sagte er zu mir. Du bist Georges Vasseur?

– Ja.

– Erkennst Du mich nicht?

– Nein.

– Ich bin Clara Fistule, altes Haus.

– Nicht möglich!

– Aber selbstverständlich, selbstverständlich! Nun, das macht mir ein riesiges Vergnügen, Dich wiederzusehen.

Er zerdrückte mir fast die Hand vor Freude.

– Wie? Du wußtest nichts von mir? Aber ich bin ja hier eine bedeutende Persönlichkeit. Ich bin der Direktor des Reklamewesens. Ja, gewiß, altes Haus. Im Übrigen stehe ich Dir vollständig zur Verfügung.

Mit einer freundschaftlichen Begeisterung, die mich übrigens durchaus nicht rührte, bot er mir seine Dienste an: freien Eintritt ins Kasino, ins Theater, Kredit im Klub, freies Table-d'hote und die Dämchen ...

– Ja, wir werden uns hier nicht schlecht amüsiren! rief er. Und, weißt Du, Alles auf Pump. Nein, dieser verteufelte Georges! Donnerwetter, ja, das hatte ich wahrhaftig nicht erwartet.

Ich dankte ihm lebhaft, und um mir den Anschein zu geben, als ob ich irgend welches Interesse für ihn hätte, fragte ich ihn:

– Und Du? Bist Du schon lange hier?

– Als Kranker seit zehn Jahren, erwiderte er. Als Beamter der Badeanstalt seit vier Jahren ...

– Und bist Du zufrieden?

– Na, selbstverständlich, altes Haus!

Ehe ich hier fortfahre, möchte ich Ihnen Clara Fistule vorstellen. Ich habe hier gerade ein Bild von ihm zur Hand, das ich in meinen Notizen gefunden habe.

*

»Heute erhielt ich einen Besuch von Clara Fistule.

Clara Fistule ist keine Frau, wie man nach dem weiblichen Geschlecht seines Vornamens annehmen könnte. Er ist übrigens auch nicht ganz und gar ein Mann ... Er ist eine Art Zwischending zwischen Mensch und Gott. Einen Zwischenmenschen würde ihn Nietzsche nennen. Selbstverständlich ist er Dichter, aber er ist nicht nur Dichter, er ist auch Bildhauer, Komponist, Philosoph, Maler, Architekt, er ist Alles. ›Ich totalisire in meinem ›Ich‹ die verschiedentlichen Intellekte des Weltalls,‹ erklärte er; ›aber es ist recht ermüdend und ich beginne langsam, matt zu werden, ganz allein das erdrückende Gewicht meines Genies zu tragen.‹ Clara Fistule ist noch nicht 17 Jahre alt und, oh Wunder, er ist schon seit langer Zeit in die Tiefe aller Dinge hinabgetaucht. Er kennt das Geheimniß der Quellen und das Räthsel aller Abgründe. Abyssus abyssum fricat.

Sie stellen ihn sich zweifellos seltsam lang und bleich vor, mit einer Stirn, die vom Anstürmen des Gedankens verunstaltet ist, mit vom Träumen und Nachdenken verzehrten Augenlidern? Keineswegs!

Clara Fistule ist ein dicker, feister, schwerfälliger Geselle und von dem gedrungenen Wuchse eines Auvergnaten. Seine Wangen erstrahlen in feuerrother Gesundheit. Er ist sich aber über die körperliche Solidität seines Leibes nicht klar und hält sich gern für ein unkörperliches Wesen. Obwohl er Geschlechtslosigkeit predigt und durch alle Gassen Ausdrücke wie »die Scheußlichkeit, ein männliches Wesen zu sein« und »der Schmutz, als ein Weib zu gelten« schreit, schwängert er doch verstohlen sämmtliche Obsthändlerinnen seines Viertels.

Sie sind ihm sicher schon in den Gemäldeausstellungen, in der Bodinière und bei den Vorstellungen der freien Bühne begegnet. Er ist ein Wesen, das mit einem langen, perlgrauen Überrock bekleidet ist, die Brust in eine kupferrothe Sammtweste gepreßt. Der Schädel, mit seinem langen schlichten Haare, ist mit einem weiten, weichen Schlapphut bedeckt, einem Presbyterhut, auf dem ein Bändchen mit sieben Eichelknöpfen befestigt ist, zur Erinnerung an die sieben Schmerzen des Weibes. So beschaffen ist Clara Fistule. Wie Sie jedenfalls bemerkt haben, stimmen die verschiedenen Einzelheiten nicht allzugut zusammen. Aber Logik kann man von 17jährigen Genies, die Alles verstehen, Alles gefühlt und Alles gesehen haben, nicht verlangen.

Ich empfing Clara Fistule in meinem Arbeitszimmer. Zunächst begann er einen verächtlichen Blick auf die Ausstattung der Wände, die erfindungsreiche Anlage meiner Bibliothek und meine Bilder zu werfen.

Ich erwartete eine Schmeichelei.

– Oh! meinte er, ich interessire mich nicht für solche Sachen. Ich lebe nur im Abstrakten.

– Ist es wohl möglich? antwortete ich, ein wenig verstimmt. Das muß Ihnen zuweilen recht unbequem sein.

– Keineswegs, mein lieber Herr. Das Material der Möbel, die unsymmetrische Rohheit der Wanddekoration bringt mir immer eine Wunde bei. So bin ich auch dazu gelangt, mich gänzlich von diesen kleinlichen Äußerlichkeiten zu befreien. Ich unterdrücke die Umgebung, ich erhebe mich über das Materielle. Meine Bilder, meine Wände sind nur Lichtbilder meines »Ichs«; ich bewohne ein Haus, das nur durch meine Gedanken geschaffen ist und das nur die Strahlen, die von meiner Seele ausgehen, schmücken. Aber darum handelt es sich nicht ... Ich kam zu Ihnen, um von viel ernsteren Dingen zu sprechen ...

Clara Fistule geruhte jedoch, auf einem Sessel, den ich ihm anbot, Platz zu nehmen. Ich entschuldigte mich, daß ich ihm nur einen Sessel zur Verfügung stellen konnte, der so wenig Harmonie mit den Ausstrahlungen seines Astralgesäßes besaß.

– Mein bester Herr, sagte er zu mir, nachdem er eine leutselige, herablassende Geberde als Einleitung gemacht hatte, ich stelle mich Ihnen als der Erfinder einer neuen Methode zur Fortpflanzung des Menschengeschlechtes vor.

– Ah?

– Ja! Ich nenne dies die Stellogenesis. Es ist dies eine Art des Empfängnisses, die mir außerordentlich am Herzen liegt. Ich kann mich eben gar nicht mit dem Gedanken zurechtfinden, daß ich – Clara Fistule – durch die Brutalität eines Mannes und die prostituirende Beihilfe eines Weibes geschaffen sein soll. Deshalb habe ich auch nie die beiden niedrigen Geschöpfe, die das bürgerliche Gesetzbuch meine Eltern nennt, als solche anerkennen wollen.

– Das ehrt Sie, stimmte ich bei.

– Nicht wahr? Sehen Sie, mein bester Herr, es ist doch nicht statthaft, daß ein intelligentes Wesen, wie ich es bin, daß ein nur aus Seele bestehendes Wesen, wie ich es bin, kurz, daß ein der Allgemeinheit überlegenes Wesen, das vom menschlichen Körper nur den unbedingt nöthigen äußeren Schein behalten hat; ich sage, daß es nicht statthaft ist, daß ein solches Wesen aus den scheußlichen Gliedern, die nicht nur Liebesinstrumente, sondern auch die Abzugskanäle der Entleerungen sind, hervorgegangen sein kann. Wenn ich davon überzeugt wäre, daß ich mein Leben einer solchen Kombination von Scheußlichkeiten verdanke, möchte ich keinen Augenblick diese ursprüngliche Entehrung überleben. Aber ich glaube, daß ich von einem Stern gezeugt worden bin ...

– Ich glaube es auch.

– Ich glaube dies umsomehr, als ich zuweilen Nachts in meinem Schlafzimmer rings um mich herum einen eigenartigen Schein verbreite.

– Dazu gratulire ich Ihnen.

– Nun also, mein Herr, um ein für allemal zu Ende zu kommen mit dieser physiologischen Verirrung der Reproduktion des Menschen durch den Menschen, habe ich ein außerordentliches, elementares Werk geschaffen, das ich die »kosmogonischen Fähigkeiten« nenne. Es ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, eine Trilogie, welche ich, um sie umso klarer und fühlbarer zu machen, in drei Ausdrucksweisen anführe: Die Bildhauerei, die Dichtkunst und die Musik. Durch die Bildhauerei zeige ich mittelst geometrischer Linien und paralleler Kurven die Verschiebung des Stellar-Eies in dem genauen, furchtbaren Augenblick, da es von den tellurischen Pollen berührt, in menschlicher Form aufbricht ... Das Buch ist die rhythmische Paraphrase dieser Plastik und die Musik ist die orchestrirte Verdichtung, oder deren verdichtete Orchestrirung. Sie sehen, so verschieden es auch im Ausdruck erscheint, ist mein Werk durch die Auffassung und den Zusammenhang des Symbols einheitlich. Nun finde ich aber keinen Menschen, der die Herausgabe besorgen will. Mit anderen Worten: wollen Sie mir zwanzig Francs pumpen?«

Damit enden meine Notizen über Clara Fistule.

Durch den Umstand, daß ich ihm zwanzig Francs gepumpt hatte, die er mir übrigens niemals zurückgab, waren wir Freunde geworden und dann hatte ich eines schönes Tages nicht mehr von ihm sprechen hören.

Wie hatte es nur geschehen können, daß er von einem so hochschwebenden Traum in so tiefgelegene Wirklichkeit herabsank?

Ich drückte ihm meine Verwunderung darüber aus.

– Oho! Du findest mich verändert? sagte er zu mir; das entspricht vollkommen der Wahrheit und es ist eine ganz merkwürdige Geschichte. Soll ich sie erzählen?

Und ohne ein Zeichen der Zustimmung meinerseits abzuwarten, begann er folgenden seltsamen Bericht:

– Vor beiläufig zehn Jahren war ich leicht unpäßlich und wurde nach X. geschickt. Sicherlich verdient X. den Ruf großer Heilkräftigkeit, mehr als alle anderen Kurorte dieser Art. Während der sechs aufeinander folgenden Jahre, während deren ich in seinem Wasser Genesung suchte, in seinem Klima, durch die Behandlung seiner Spezialärzte gesund werden wollte, hörte ich nicht ein einziges Mal vom Tode sprechen, nicht ein einziges Mal ward mir kund, daß ein Kranker gestorben sei. Ja, der Tod schien in der That in diesem Winkel französischer Erde unterdrückt worden zu sein. Zur Steuer der Wahrheit muß angeführt werden, daß wohl täglich mehrere Personen plötzlich verschwanden, und, wenn man sich erkundigte ... lautete in diesen Fällen die unweigerliche Antwort: »Sie sind gestern abgereist«. Als ich eines Tages mit dem Direktor der Badeanstalt, dem Bürgermeister der Stadt und dem Pächter des Kasinos zusammen dinirte, äußerte ich mich entzückt über dieses dauernde Wunder, wobei ich jedoch einigen Unglauben merken ließ.

– Sie können Erkundigungen einziehen, riefen sie mir im Chor zu. Nun ist es schon zwanzig Jahre her, daß hier kein einziges Begräbniß stattgefunden hat. Unter solchen Umständen, mein bester Herr, haben wir aus dem Personal der Leichenbitter unsere Badewärter, unsere Croupiers und unsere Gesangskomiker herangebildet. Wir gehen allen Ernstes mit dem Gedanken um, unseren Kirchhof nunmehr in einen prächtigen Taubenschießplatz zu verwandeln.

Erst im letzten Jahre meines Kurgebrauches erfuhr ich das Geheimniß dieser außergewöhnlichen Unsterblichkeit. Das ging folgendermaßen zu:

Eines Nachts war ich ungewöhnlich spät auf der Heimkehr begriffen und Alles schien in der unsterblichen, glückseligen Stadt zu schlafen. Da unterschied ich plötzlich von einer Seitenstraße herdringend, dumpfes Geräusch, das Summen gedämpfter Stimmen und leises Flüstern, schwerfällige Schritte, ein eigenartiges Rasseln von Lasten, die aneinanderstießen. Ich bog in diese Straße ein, die eine einzige Gaslaterne nothdürftig erhellte, und zwar am anderen Ende, so daß über das ganze Bild nur ein düsteres, ungewisses, zitterndes Licht fiel. Noch ehe ich genau wahrnehmen konnte, was eigentlich vorging, hörte ich deutlich die folgenden Worte:

– Aber, Kreuzdonnerwetter! Seid doch nur still, ihr werdet noch die Fremden aufwecken! Wenn einem von diesen Kerlen die Laune käme, nachzusehen, was wir eigentlich hier treiben, dann wären wir in einer netten Tinte.

Ich trat noch näher und sah ein seltsames, unerwartetes, düsteres Schauspiel: zehn Särge, deren jeder einzelne von vier Männern getragen wurde. Zehn Särge in einer langen Reihe. Wovon die letzten sich gleich einer endlosen Prozession in Schatten und Dunkel verloren ... In einer Stadt, wo kein Mensch starb, hatte ich plötzlich eine förmliche Stauung von Särgen angetroffen ... Welche verblüffende Ironie des Schicksals!

Nunmehr begriff ich, weshalb seit zwanzig Jahren kein öffentliches Begräbniß in X. stattgefunden hatte. Die Todten wurden eben einfach in nächtlicher Stunde verschickt.

Wüthend darüber, daß ich durch städtische und Kasinobehörden so angeführt worden war, fragte ich einen der Leichenbitter, dessen rothe Nase in dieser shakespeareschen Nacht leuchtete:

– Hollah, mein Freund, was hat das denn zu bedeuten? rief ich ihn an, indem ich auf die Särge deutete.

– Das da? Das sind Koffer – Koffer von Fremden, die abreisen.

– Koffer? Ha, ha, ha!

– Jawohl, Koffer. Wir tragen sie auf den Bahnhof, auf den großen Bahnhof.

Ein Schutzmann, der die ganze Expedition leitete, kam auf mich zu.

– Gehen Sie Ihrer Wege, mein Herr, bat er mich höflich. Sie sind diesen Leuten im Wege, die sich ohnehin schon verspätet haben. Diese Koffer – denn es sind in der That Koffer – haben ein gehöriges Gewicht, und der Zug wartet nicht.

– Der Zug? Ha, ha, ha! Und wohin geht denn eigentlich der Zug?

– Aber ...

– Er geht zur Ewigkeit, nicht wahr?

– Ewigkeit? sagte der Schutzmann ganz kalt; dieses Land kenne ich nicht.

Du kannst Dir jedenfalls lebhaft vorstellen, daß ich am nächsten Morgen dem Bürgermeister der Stadt, dem Direktor der Badeanstalt und dem Pächter des Kasinos durch dieses Abenteuer Entsetzen einflößte. Ich drohte ihnen, Alles zu enthüllen. Sie besänftigten mich, indem sie mir einen bedeutenden Geldbetrag zur Verfügung stellten und mich durch einen günstigen, langdauernden Vertrag zum alleinigen Direktor des Reklamewesens ernannten. Ja, so geht's.

Dabei schlug er mich mit ruhiger Heiterkeit auf die Schenkel.

– Die Geschichte ist nicht schlecht, wie? meinte er.

Dann fuhr er fort:

– Apropos, hast Du schon einen Arzt?

– Jawohl.

– Fardeau-Fardat?

– Nein, Triceps, den Doktor Triceps, meinen Freund.

– Aha, umso besser; denn mit Fardeau-Fardat ist es so eine Sache. Höre mal! Die Geschichte muß ich Dir doch noch erzählen. Es gibt hier wirklich sonderbare Käuze. Man findet in der That nicht die Zeit, sich auch nur eine Minute zu langweilen.

Und Clara Fistule stürzte sich in eine neue Erzählung.

*

»Wie schon bemerkt, war ich Krankheit halber nach X. geschickt worden. Am Tage meiner Ankunft noch suchte ich den Doktor Fardeau-Fardat auf, dem ich angelegentlichst empfohlen worden war. Ich fand einen kleinen, charmanten, lebhaften und lustigen Menschen mit überschwänglicher Redseligkeit, komischem Gebahren, der nichtsdestoweniger Vertrauen einflößte.

Er empfing mich mit aufmerksamer Herzlichkeit, welche gewöhnlich war, und erklärte, nachdem er mich mit einem raschen Blicke vom Kopf bis zu den Füßen abgemessen hatte:

– Aha, aha! Blutarmuth, angegriffene Lungen? Neurasthenisch? Alkoholismus? Syphilitisch? ... ausgezeichnet ... Na, wir wollen mal sehen ... wollen mal sehen. Nehmen Sie einstweilen Platz.

Und während er, ich weiß nicht was, inmitten der Unordnung seines Schreibtisches suchte, fragte er mich mit einem meckernden Lachen in der Stimme, ohne mir die Zeit zu lassen, eine Antwort zu geben:

– Bedauerliche erbliche Belastung? Schwindsüchtige Familie? Syphilitische Eltern? Von väterlicher Seite? Von mütterlicher Seite? ... Verheirathet? ... Junggeselle? ... Aha! ... also die Dämchen! Ach ja, die Dämchen! Na, freilich! Paris! ... Paris! ...

Nachdem er endlich gefunden hatte, was er suchte, begann er mich von neuem des Längeren und Breiteren auszufragen, jedoch mit mehr Methode. Er untersuchte mich mit peinlicher Genauigkeit, maß meinen Brustkasten mit den Bewegungen eines Schneiders, prüfte meine Muskelkraft mit einem Dynamometer, notirte in einem kleinen Notizbuche meine Antworten und Einwände; dann wandte er sich mir plötzlich mit freundlicher, jovialer Miene zu:

– Vor Allem eine Frage? Falls Sie hier vom Tode ereilt werden sollten ... würden Sie sich dann einbalsamiren lassen?

Ich fuhr, wie von der Tarantel gestochen, auf.

– Aber, Herr Doktor?

– Nun, nun, soweit sind wir ja noch nicht, berichtigte sich dieser liebenswürdige Arzt. Zum Teufel auch; aber schließlich, man kann nie wissen ...

– Ich glaubte, sagte ich ein wenig entsetzt, ich glaubte, in X. stürbe man niemals?

– Selbstverständlich! selbstverständlich! Im Prinzip stirbt man hier nicht, aber schließlich ... ein unvorhergesehener Zufall ... persönliches Pech ... eine Ausnahme, nicht wahr, eine Ausnahme von der Regel kann sich immer ereignen? Sie haben neunundneunzig Chancen auf hundert, daß Sie hier nicht verscheiden. Das ist so klar wie irgend etwas ... Aber trotzdem ...

– Nun, ich finde, dann brauchen wir gar nicht davon zu sprechen, Herr Doktor.

– Verzeihung, das ist außerordentlich wichtig. Schon wegen der Art der Behandlung. Alle Wetter!

– Schön, Herr Doktor, falls ich außergewöhnlicherweise und nur dieses einemal hier sterben sollte, würde ich mich nicht einbalsamiren lassen ...

– Oho! meinte der Doktor ... daran thun Sie sehr unrecht. Wir haben nämlich hier einen großartigen Einbalsamirer ... ein wahres Wunder, einen genialen Menschen. Das ist in der That eine ganz einzige Gelegenheit, mein bester Herr, allerdings läßt er sich sehr theuer bezahlen, aber er ist eben auch ein Künstler in seiner Art. Wenn Jemand hier einbalsamirt wird von seiner feinfühligen Hand, so glaubt der Todte, er sei noch am Leben. Er hat die vollkommenste Illusion; man möchte meinen, er würde laut aufschreien. Ja, er balsamirt ein ... balsamisch!!!

Und da ich noch immer den Kopf schüttelte, um ein energisches Nein auszudrücken, fuhr er fort:

– Sie wollen also nicht? Nun, meinetwegen. Schließlich hat man ja hier nicht allgemeinen Einbalsamirungszwang.

Und auf die Notizbuchseite, wo er alle die Bemerkungen, die er in Bezug auf meine Krankheit aufgenommen hatte, einschrieb, schrieb er mit rothem Stift und großen Buchstaben: »Nicht einbalsamiren«. Dann schrieb er mir ein endloses Rezept auf, das er mir mit den Worten übergab:

– Hiernach leben Sie, das ist eine ernste Kur. Ich werde Sie täglich besuchen, sogar zweimal des Tages.

Dann drückte er mir warm die Hand und rief im Fortgehen:

– Na, sei es, wie es sei, im Grunde haben Sie nur recht daran gethan. Auf Wiedersehen, morgen!

Ich muß hier bemerken, daß ich nach und nach Geschmack an seiner genialen, aufopfernden Pflege fand. Seine Originalität, seine unwandelbare Fröhlichkeit, die immer ganz von selbst zum Ausdruck kam und nur manchmal etwas absonderlich erschien, hatten mich ganz und gar für ihn gewonnen. Mit der Zeit wurden wir treue, intime Freunde.

Als er sechs Jahre darauf eines Abends bei mir dinirte, theilte er mir mit, daß ich endgiltig geheilt sei, was ihm so aufrichtige Freude zu bereiten schien, daß ich bis in die Tiefe des Herzens hinein gerührt war.

– Und wissen Sie, lieber Freund, sagte er zu mir, daß Sie fast von den Pforten des Todes zurückgekommen sind? Alle Wetter, ja!

– Ich war also sehr krank, nicht wahr?

– Ja, wie man's nimmt. Eigentlich verhält sich die Sache etwas anders. Erinnern Sie sich noch des Tages, als ich so sehr in Sie drang, Sie mögen sich einbalsamiren lassen?

– Selbstverständlich ...

– Nun, ja, wenn Sie damals »Ja« gesagt hätten, dann wären Sie ein todter Mann gewesen ...

– Aber ich bitte Sie, weshalb denn?

– Nun, weil ...

Er unterbrach sich plötzlich, wurde ernst und sorgenvoll, was einige Sekunden lang andauerte; dann fand er seine gewohnte Fröhlichkeit wieder und erklärte:

– Nun, weil die Zeiten damals schlecht waren; man muß doch leben ... Herrgott, haben wir damals arme Kerle einbalsamirt ... Leute, die in diesem Augenblicke ebenso lebendig und frisch wären wie ich ... Was soll man machen? Der Tod der Einen ist das Leben der Anderen ...

Dann zündete er sich eine Zigarre an.

*

Clara Fistule hatte geendet ... Ich war höchst verblüfft über diese vertrauliche Mittheilung, während er noch zu mir bemerkte:

– Der Doktor Fardeau-Fardat ist ein prächtiger Kerl, dessen kannst Du überzeugt sein ... Nur ... siehst Du ... Du darfst mich nicht mißverstehen ... bei ihm ist man seiner Sache niemals so recht sicher ... er balsamirt ein ... balsamisch ... Na, sei es, wie es sei ... gestehe mir nur, daß Du mich recht verändert findest?

– Alle Wetter, ja! entgegnete ich; es gibt also keine kosmogonischen Kräfte mehr für Dich ... auch keine Stellogenesis?

– Was sprichst Du da? rief Clara Fistule aus. Mein Gott, die Begeisterung der Jugend ... Das Alles liegt jetzt recht ferne ...

Es fiel mir an jenem Abend außerordentlich schwer, mich von meinem Freunde zu befreien, der mich absolut nach dem Spielsaale schleppen wollte. Er versprach sogar, mich mit sehr netten Dämchen bekannt zu machen ...

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