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XVI.

Als ich heute Morgens aus dem Bade kam, begegnete ich Triceps, der einen Herrn von etwas kümmerlichem und linkischem Aussehen begleitete. Er trat an mich heran:

– Gestatte mir, daß ich Dir Herrn Rouffat vorstelle ... einen meiner besten Kunden, der gestern Abend mit einer Empfehlung meines Freundes Dr. Richard hier eingetroffen ist. Wie Du Herrn Rouffat hier siehst, kommt er aus dem Bagno, wo er sieben Jahre verbracht hat ... Ein Justizirrthum ... Ja, altes Haus ... Das ist gerade kein Verjüngungsmittel, alle Wetter ...

Herrn Rouffat's Mund umspielte ein schüchternes Lächeln.

– Und Du ... das muß Dich interessiren, ein Unschuldiger, der verurtheilt worden ist, das ist so recht ein Fall für Dich.

Ich tauschte mit dem Kunden Triceps' einen Händedruck und einige der Gelegenheit angepaßte Höflichkeitsphrasen aus.

Ich bemerkte, daß Herr Rouffat trotz seiner Schüchternheit und seines linkischen Wesens sich ein gewichtiges Aussehen zu geben sucht. Augenscheinlich betrübt es ihn jetzt, da er wieder frei ist, nicht länger im Bagno gewesen zu sein ... Er schien auf diese Thatsache stolz zu sein und derselben den Glorienschein der Märtyrer zu entlehnen.

Als einige Badegäste vorübergingen, rief Herr Rouffat mit lauter Stimme und auffälligen Bewegungen, so daß er von den Leuten gehört werden mußte:

– Jawohl, mein Herr, ich bin das Opfer eines Justizirrthums und ich habe im Bagno sieben Jahre lang gelebt ... gelebt? Man möchte das nicht für möglich halten.

Da fragte mich Triceps:

– Gehst Du ins Hotel zurück?

– Ja.

– Nun schön, dann gehen wir miteinander. Herr Rouffat wird Dir seine Geschichte erzählen. Sie ist großartig, altes Haus, ein ausgezeichneter Stoff zu einem Artikel.

Im Hotel angelangt, ließ ich Portwein und Sandwiches auf mein Zimmer bringen, und Herr Rouffat begann, nachdem er sich ein wenig gestärkt hatte, folgendermaßen:

– Als ich eines Morgens wie gewöhnlich meinen Spaziergang auf der Straße von Trois-Fétus machte, bemerkte ich nicht ohne Überraschung einige hundert Meter vor mir auf einem Hügel eine Gruppe von Landleuten, zwischen denen sich ein Gendarm bewegte und drei in schwarze Überröcke gekleidete und mit Cylinderhüten versehene Herren, welche lebhaft gestikulirten.

Alle diese Leute standen rings herum mit ausgestrecktem Halse und vorgeneigtem Kopfe, um etwas, was ich nicht zu unterscheiden vermochte, zu betrachten. Ein Wagen, eine Art von Miethlandauer, der schon sehr alt war und den man nur noch in den Provinzen, fern von Paris findet, hielt neben der Gruppe auf der Straße.

Diese seltsame Ansammlung von Leuten setzte mich in Erstaunen und beunruhigte mich, denn der Weg lag gewöhnlich verlassen da, man begegnete auf ihm nur Fuhrmännern und von Zeit zu Zeit einem Radfahrer ... Gerade wegen dieser Einsamkeit hatte ich ihn mir ausgewählt, weil er mit alten Ulmen begrenzt war, die den seltsamen, unglaublichen Vorzug hatten, frei zu stehen und nicht von der Behörde der Brücken und Straßen verstümmelt zu werden ... Je weiter ich vorwärts schritt, desto lebhafter ging es in der Gruppe zu.

Der Kutscher des Landauers hatte sich gleichfalls mit dem Gendarm an dem Gespräche betheiligt.

– Es ist irgend ein Grenzstreit, sagte ich mir ... Vielleicht ein Duell, das man im letzten Augenblick verhindert hat.

Dann näherte ich mich der Gruppe, innerlich von der Hoffnung angestachelt, daß diese letzte Hypothese sich bewahrheiten würde.

Ich wohnte seit kurzer Zeit in Trois-Fétus und kannte keinen Menschen dort, da ich von Natur aus sehr schüchtern bin und grundsätzlich den Verkehr mit Menschen, in denen ich stets nur Betrügerei und Unglück finde, fliehe. Außer diesem täglichen Morgenspaziergang auf dem wenig besuchten Wege blieb ich den ganzen Tag lang in meinem Hause eingeschlossen, las geliebte Bücher, oder kümmerte mich um die Beete meines bescheidenen Gartens, den hohe Mauern und ein dichter Vorhang von Bäumen gegen die Neugierde der Nachbarn schützte. Ich war also nicht nur nicht beliebt bei dem Volke der Gegend, sondern der Wahrheit entsprechend vollständig unbekannt. Ich bekam nur den Briefträger zu Gesicht, mit dem ich in häufigen Verkehr treten mußte wegen der Unterschriften, die er häufig von mir verlangte und der Irrthümmer, die er sich ohne Unterlaß in seinem Dienste zu Schulden kommen ließ. Nicht wahr, all' dies sage ich Ihnen nur, um meinen Bericht verständlicher zu machen und nicht von der thörichten Eitelkeit über meine Person zu sprechen und dummerweise meine Art zu leben, zu lobpreisen. Ach Gott, nein.

Ich näherte mich also der Gruppe, in der schweigsamen, vorsichtigen Art, mit welcher ich jeden Vorgang in meinem Leben, auch den kleinsten, begleite; und ohne die Aufmerksamkeit von irgend Jemand zu erwecken, – so viel Diskretion, wenn ich mich so ausdrücken kann, so viel Lautlosigkeit, hatte ich daran gesetzt, um mich in eine Sache zu mengen, bei der ich nichts zu thun hatte, – drang ich mitten unter diese seltsamen Geschöpfe, die, ich weiß nicht was, auf dem Hügel betrachteten ... und ein fürchterliches Schauspiel, an das ich keineswegs gedacht hatte, bot sich meinen Augen ... Auf dem Rasen lag ein Leichnam ausgestreckt, der Leichnam eines armen Teufels, wenn man nach den schmutzigen Fetzen, die ihm als Kleidungsstücke dienten, urtheilen will; sein Schädel war nur noch ein röthliches Gemenge und so flachgeschlagen, daß er einer Erdbeertorte glich.

Das Gras war niedergedrückt und zertreten an der Stelle, an der der Leichnam ruhte. Auf dem Abhang zitterten einige Stückchen purpurrothen Hirnes gleich Blumen auf den Spitzen der Gräser.

– Großer Gott! rief ich.

Und um nicht hinzusinken – so sehr fühlte ich mich von meinen Kräften verlassen – mußte ich die wenige Kraft, die mir noch blieb, zusammennehmen, um mich verzweifelt an den Mantel des Gendarmen festzuklammern.

Ich bin ein armer Mensch und kann den Anblick von Blut nicht ertragen. Die Adern leeren sich mir augenblicklich, der Kopf dreht sich, und schwirrt; in den Ohren klingt es mir, wie ein Mückenschwarm; die Beine knicken mir zusammen und schwanken; ich sehe vor mir Tausende von Sternen und Insekten mit feurigen Hörnern tanzen; selten endete dieses Unwohlsein, ohne daß ich in Ohnmacht gesunken wäre. Als ich noch ganz jung war, brauchte ich nicht einmal Blut zu Gesicht zu bekommen, es genügte schon, daß ich daran dachte, um allsogleich die Besinnung zu verlieren. Der bloße Gedanke, nein, nicht der Anblick, der bloße Gedanke an eine schreckliche Krankheit oder an eine schmerzliche Operation verursacht in meinem Innern einen plötzlichen Stillstand des Blutumlaufes, ein Gefühl des Todes, wobei mein Bewußtsein gänzlich aussetzt. Noch heute werde ich ohnmächtig, wenn mir die Erinnerung an einen unbekannten Vogel kommt, dessen ekelhaftes verwestes Fleisch mir eines Abends vorgesetzt wurde.

Angesichts des Leichnams wurde ich durch ein gewaltsames Zusammenraffen meines Willens, durch eine heftige Anspannung meiner ganzen Energie nicht vollkommen ohnmächtig. Aber ich war todtenblaß geworden, die Schläfen, die Hände, die Füße waren eiskalt geworden, Schweiß tropfte überall von meinem Leib herab. Ich wollte meiner Wege gehen.

– Pardon! sagte da einer der Männer im schwarzen Überrock zu mir, indem er rauh seine Hand auf meine Schulter legte ... Wer sind Sie?

Ich nannte meinen Namen.

– Wo wohnen Sie?

– In Trois-Fétus.

– Und weshalb sind Sie hierhergekommen? Was thun Sie hier?

– Ich ging auf der Straße spazieren, wie ich es tagtäglich zu thun pflege ... Da erblickte ich eine Menschenansammlung auf dem Hügel, ich wollte erfahren, was los sei. Aber das macht mir einen zu überwältigenden Eindruck ... Ich gehe meiner Wege.

Da deutete er mit einer kurzen Bewegung auf den Leichnam:

– Kennen Sie diesen Menschen?

– Nein, keineswegs, stammelte ich. Wie sollte ich ihn auch kennen? ... Ich kenne hier Niemanden ... Ich bin erst seit kurzer Zeit in der Gegend ansässig.

Der Mann mit dem Überrock schaute mich mit einem zickzackförmigen Blick an. Dieser Blick blendete mich und schmetterte mich zu Boden.

– Sie kennen also diesen Mann nicht? Und dennoch sind Sie, als Sie ihn erblickten, todtenblaß geworden? ... Sie haben fast die Besinnung verloren? ... Glauben Sie vielleicht, daß das mit natürlichen Dingen zugeht?

– Ich bin nun einmal so, das ist nicht meine Schuld, ich kann weder Blut noch Todte zu Gesicht bekommen, ohne ... Ich werde bei dem kleinsten Anlaß ohnmächtig ... Das ist ein physiologisches Phänomen.

Der schwarze Mann grinste, als er sagte:

– Na schön, jetzt kommt die Wissenschaft an die Reihe ... Ich war ja darauf gefaßt, obwohl diese Art der Vertheidigung schon ziemlich abgenützt ist ... Die Angelegenheit erscheint mir nunmehr ganz klar. Der Beweis ist geliefert.

Dann befahl er, zu dem Gendarm gewandt:

– Bemächtigen Sie sich dieses Mannes.

Vergebens suchte ich zu widersprechen, etwa in folgender Weise:

– Aber ich bin doch ein anständiger Mensch, ich bin ein Ehrenmann, ich habe noch nie Jemandem etwas zu Leide gethan; ich werde wegen nichts und wieder nichts ohnmächtig, jeder Kleinigkeit halber ... ich bin unschuldig!

Diese Worte fanden kein Gehör ... Der Herr im Überrock begann wieder den Leichnam mit einem durchdringenden und rächenden Blick zu betrachten, und der Gendarm bedeckte, um mich zum Schweigen zu bringen, meinen Rücken mit Faustschlägen.

Meine Angelegenheit lag in der That klar genug da ... Sie wurde übrigens rasch durchgeführt ... Während der zwei Monate, welche die Untersuchung in Anspruch nahm, konnte ich eben nicht in befriedigender Weise mein Erbleichen und meine Verwirrung angesichts des Leichnams erklären. All' die Erklärungen, die ich dafür angab, schienen mit den kriminalistischen Theorien im hellsten Widerspruch zu stehen. Weit davon entfernt, mir zu nützen, häuften sie nur neue erdrückende Beweise auf mich, das »Damoklesschwert«, die augenscheinlichen, greifbaren, unumstößlichen Beweise, die es für mein Verbrechen gab. Mein Leugnen wurde von der Presse, den Menschenkennern, den Gerichtspersonen als seltene Verstocktheit bezeichnet. Man hielt mich für feige, niedrig gesinnt, unklar und ungeschickt; es wurde von mir gesagt, ich sei ein ganz gewöhnlicher Mörder, der keinerlei Sympathie verdiene, und täglich verlangte man nach meinem Kopfe.

Bei der Gerichtsverhandlung sagte das ganze Dorf Trois-Fétus gegen mich aus. Jedermann sprach von meinem verdächtigen Gebahren, von meiner Ungeselligkeit, von meinen verstohlenen Morgenspaziergängen, die augenscheinlich nur in Absicht auf das Verbrechen, das ich mit so raffinirter Wildheit begehen wollte, gemacht wurden. Der Briefträger erklärte, ich empfing viele geheimnißvolle Korrespondenzen, Bücher mit seltsamen Umschlägen, argwohnerregende Packete. Es gab ein Gefühl des Abscheues auf der Geschwornenbank und inmitten der Menge, als mir der Präsident des Gerichtshofes zum Vorwurf machte, daß in meiner Wohnung Bücher wie »Verbrechen und Sühne«, »Wahnsinn und Verbrechen«, die Werke von Goncourt, Flaubert, Zola, Tolstoi gefunden worden seien. Aber dies Alles bedeutete in der That nichts, als Begleitanklagen, die dem großen Schrei des Geständnisses, der in meinem Erbleichen gelegen war, sich noch hinzugesellten.

Und mein Erbleichen beichtete dermaßen die Schandthat, sie schrie sie so laut über alle Dächer aus, daß selbst mein Advokat nicht von meiner Unschuld zu sprechen wagte, die so klar durch mein Erbleichen widerlegt worden war. Er plaidirte auf Unzurechnungsfähigkeit, krankhafte Sucht und unbeabsichtigten Mord. Er erklärte, daß ich die Beute von Wahnsinnsanfällen sei, daß man in mir einen Mystiker, einen krankhaften Wollüstling, einen Dilettanten der Litteratur sehen müsse. In einer großartigen Schlußphrase beschwor er die Geschworenen, kein Todesurtheil gegen mich auszusprechen, und bat mit bewunderungswürdigen Thränen, mit Thränen des Mitleids, daß ich fürder mit meiner gefährlichen Krankheit in eine Zelle, in die Vergessenheit des Narrenhauses eingesperrt werde. Dennoch wurde ich unter dem Beifall der Menge zum Tode verurtheilt ... Aber zufällig beliebte es dem Herrn Präsidenten der Republik, das Schafott in lebenslängliches Bagno zu verwandeln. Ich würde mich noch heute im Bagno befinden, wenn nicht vergangenes Jahr der wirkliche Mörder, von Reue getrieben, öffentlich sein Verbrechen und meine Unschuld bekannt hätte ...

Als Herr Rouffat zu Ende gelangt war, betrachtete er sich wohlgefällig im Spiegel ... »Ja wahrhaftig!« schien er sich zuzurufen, »ich bin ein edles Opfer ... Das sind wohl Abenteuer, die nicht Jedem zustoßen ...«

Dann erzählte er uns in gesuchten Worten seine sieben Folterjahre.

Ich beklagte ihn aufrichtig. Um ihm ein Trosteswort zu sagen, um seinem eigenen Unglück all' den Jammer der armen Opfer menschlicher Justiz beizugesellen, äußerte ich freundlich zu ihm:

– Ja leider, mein Herr, so gehts ... Sie sind nicht der Einzige, über den die ganze menschliche Gesellschaft, welche in Irrthümern lebt, hergefallen ist. Die Irrthümer herrschen, falls es nicht absichtliche Schandthaten sind. Der unglückliche Dreyfus hat seinerseits davon ebenfalls eine furchtbare Erfahrung gemacht ...

Bei dem Namen Dreyfus leuchteten Herrn Rouffat's Augen in wildem Hasse auf.

– Oh, Dreyfus, sagte er bitter, das kommt doch nicht auf dasselbe heraus.

– Und weshalb denn?

– Weil Dreyfus ein Verräther ist, mein Herr, und weil es schändlich, beispiellos verbrecherisch erscheint, daß dieser Elende nicht zur Ehre der Justiz, der Religion und des Vaterlandes bis ans Ende seines allzu leichten Dornenweges gegangen ist.

Triceps wälzte sich in seinem Stuhle vor Lachen.

– Ach ja, siehst Du! rief er. Ich habe es Dir doch gesagt.

Herr Rouffat hatte sich erhoben und sah mich feindselig, mit herausfordernden Blicken an ... Und dann ging er seiner Wege, indem er mit kreischender Stimme die Worte ausrief:

– Es lebe das Heer! Tod den Juden!

Als Herr Rouffat weggegangen war, blieben wir, Triceps und ich, einige Augenblicke lang unbeweglich sitzen, wobei wir uns verblüfft anstarrten.

– Ist das aber eine Kanaille! rief ich, da ich die Entrüstung, die in mir kochte, nicht länger bemeistern konnte.

– Nein, rief Triceps ... ein Narr ist er! Ich bin kein Dreyfusard, ich habe auch das Recht dazu, es nicht zu sein, da mir das bei meiner Kundschaft schaden würde. Du verstehst mich doch? Aber er? Ich wiederhole Dir nur: Er ist ein Narr!

Dann erging er sich in Erörterungen über sein Lieblingsthema, nämlich über den Wahnsinn. Aus seinen Beobachtungen, über die er berichtete, will ich hier eine Aufzeichnung wiedergeben. Triceps hob dieselbe hervor, um mir deutlich zu beweisen, daß Herr Rouffat wahnsinnig sei.

»Jean Loqueteux setzte sich, müde von seiner langen Wanderung am Wegrande nieder, den Kopf im Schatten einer Ulme, die Füße im Straßengraben, der infolge eines niedergegangenen Wolkenbruches eine feuchte Frische besaß. In diesem Augenblick stach die Sonne hart auf die wieder trocken gewordene Landstraße nieder und die Hitze war erstickend. Jean Loqueteux nahm von seinem Rücken einen Sack, der mit Kieselsteinen gefüllt war. Er zählte die Kiesel, reihte sie nebeneinander im Grase auf, that sie dann wieder ernst und vorsichtig in den Sack zurück und sagte:

– Die Rechnung stimmt vollkommen. Ich habe noch immer meine zehn Millionen, das ist wahrhaftig komisch. Vergebens schenke ich Jedermann etwas davon – denn ich bin kein schlechter Reicher, ich bin kein Geizhals! ... und nie fehlt etwas davon ... zehn Millionen ... Ja, soviel sind es! ...

Er wog den Sack auf den Händen, wischte sich die Stirn ab und stöhnte:

– Wie schwer es doch ist, zehn Millionen zu tragen! ... Meine Schultern sind über und über blutig gedrückt, mit den Hüften komme ich gar nicht mehr vorwärts ... ja, wenn ich wenigstens noch mein Weib hätte, so würde sie mir doch helfen! ... Aber sie ist todt, sie ist daran gestorben, weil sie zu reich war ... Und auch mein Sohn ist Gott weiß an was gestorben ... Ich bin also ganz allein da, um diese Last zu tragen, ... das reicht nicht mehr aus ... Ich müßte mir ein Wägelchen anschaffen, das ich selber ziehen würde ... oder das ich durch einen Hund ziehen ließe ... Großer Gott! ... wie müde und matt bin ich! ... Man hat ja keine Ahnung davon, ... wie häufig Millionäre arme Teufel sind, die man von Herzen beklagen muß ... Ach, Herr Jesus, wir sind nicht zu beklagen, die Reichen! ... Ich zum Beispiel habe doch zehn Millionen ... Das steht felsenfest, denn ich fühle sie ja hier in meinem Sacke. Na also! das verhindert nicht, daß ich hier auf der Landstraße bin ... ganz wie ein Vagabund ... Man möchte es nicht glauben ...

Er streichelte seine nackten, aufgeschwollenen Füße, die von den weiten Märschen bluteten, an der Frische des thaubenetzten Grases ...

– Nein, wahrhaftig! rief er noch, es gibt Augenblicke, in denen ich lieber ein armer Mensch wäre, so einer, wie die, denen ich täglich auf der Landstraße begegne ... ein armer Teufel von einem Bettelsack ... der keinen rothen Heller bei sich hat ... der vom Mitleid der Vorübergehenden lebt ... meiner Treu, ja! ...

Jean Loqueteux war beinahe nackt, da er nur mit Fetzen angethan war ... nein, nicht einmal mit Fetzen, sondern mit Schmutzstreifen, mit zerschlissenen Überresten, die von Fett starrten. Die Haut erschien roth und zernarbt zwischen den Rissen und Löchern des Rockes.

Er hatte Strohstückchen, Wollenfetzchen und kleine Federn im Barte stecken, was dem Durcheinander eines Sperlingnestes glich.

Nachdem er lange in seiner Tasche herumgesucht hatte, entnahm er derselben eine Brodrinde, die hart und schwarz wie ein Stück Kohle war; er verzehrte sie langsam, methodisch. Das Brod knirschte unter seinen Zähnen, wie ein Kieselstein, der zerklopft wird.

Und von Zeit zu Zeit hielt er mit dem Essen inne und sagte mit vollem Munde und blutendem Zahnfleisch:

– Das ist's ja eben ... ich verstehe keine Silbe davon ... ich habe zehn Millionen ... sie sind hier stets in Handweite; ich kann sie ergreifen, sobald ich nur will ... ich wäre hübsch blöde, wenn ich nicht zugriffe, da sie sich stets erneuern, wenn ich etwas davon fortgenommen habe ... Wenn nichts mehr davon vorhanden ist, gibt es doch noch etwas, ja das Geld hört nie auf ... ich kann mich dadurch freigebig gegenüber den Armen auf der Landstraße zeigen ... gegen die kleinen Soldaten auf den Promenaden, den Greisen, die auf den Schwellen ihrer Häuser darben ... den hübschen Mädchen, die längs der Hecken hinziehen und ihre Lieder anstimmen ... ich streue sie nach allen vier Himmelsrichtungen aus, diese Schätze ... ich kann nie das Ende davon zu Gesicht bekommen ... Na also, trotz alledem habe ich mir nie ein anderes Brod als das, welches ich hier esse, verschaffen können. Wahrhaftig! es ist nicht gut. Es schmeckt nach Schmutz und Schweiß ... es riecht nach der Mistgrube ... es riecht nach ich weiß nicht was ... selbst die Schweine würden es verschmähen ... Da steckt etwas dahinter, worüber ich mir nicht klar werden kann ... Ein Mißverständniß, das ich nicht begreife ...

Er nickte mit dem Kopfe, betastete sein Säckchen und wiederholte, indem er weiter kaute:

– Kurz: ich besitze zehn Millionen, das steht fest ... hier sind sie ja ... ich kann sie angreifen ... so reich sein ... und sich nicht einmal satt essen können ... das ist wirklich stark ... auch nicht in einem Bette schlafen zu können, in einem Hause, gegen Sonne und Frost geschützt ... Ja, stets von den anderen Menschen vertrieben und von den Hunden gebissen zu werden, wenn ich mich einer Ansiedlung nähere. Das ist auch zu stark ... es ist ja unglaublich ... nein, wahrhaftig! In der Welt gehts nicht, wie es gehen sollte.

Nachdem er fertig gegessen hatte, streckte er sich am Rande des Straßengrabens aus, seinen Reichthum zwischen den Beinen, und sank in einen ruhigen, tiefen Schlaf.

An jenem Tage wurde Jean Loqueteux von patrouillirenden Gendarmen auf der Landstraße aufgegriffen, wo er eingeschlummert war und jedenfalls von wundervollen Palästen und reichlich mit Speisen und weißem Brode beladenen Tafeln träumte.

Da er keine Legitimationspapiere bei sich hatte, da seine Antworten eine bei dieser Art von Hungerleidern ungewohnte Zusammenhanglosigkeit aufwiesen, hielten ihn die Gendarmen für einen Trunkenbold, sie nahmen an, er sei ein gefährlicher Mensch, vielleicht ein Mörder, bestimmt aber ein Brandstifter; schließlich brachten sie ihn nach der Stadt, wo er in Erwartung eines Bessern in der Polizeiwache eingesperrt wurde. Nachdem er verschiedenen Verhören unterworfen worden war, nachdem man peinlich genaue Untersuchungen über seine Vergangenheit veranstaltete, wurde er nach dem Gefängniß gebracht, wo er erkrankte und von dort nach dem Spital, wo er fast gestorben wäre. Als er wieder gesundete, stellte der Arzt in einer gelehrten Untersuchung die Verwirrung der geistigen Fähigkeiten des armen Teufels fest und verfügte, daß er sofort in einem Irrenhause untergebracht werde. Jean Loqueteux blieb sanft und höflich, suchte sich zu entschuldigen, so gut er nur konnte, wenn er von seinen zehn Millionen in bescheidenen, gewählten Ausdrücken sprach und erbot sich, eine bedeutende Summe für eine milde Stiftung zur Verfügung zu stellen. Man hörte nicht auf ihn und gebot ihm sogar mit größerer Grobheit, als es der Vorschrift entsprochen hätte, Stillschweigen und eines Morgens schlossen sich die schweren Thore des Irrenhauses hinter ihm.

In seiner neuen Laufbahn als Narr, als offizieller Narr, zeigte sich Jean Loqueteux unendlich sanft, gefällig, nützlich und vernünftig. Nachdem er zunächst in der Abtheilung der ruhigen Geisteskranken untergebracht worden war, ließ man ihn nach zwei Jahren der Beobachtung, während deren er keinen gefährlichen Tobsuchtsanfall gehabt hatte, sozusagen frei; ich verstehe darunter, daß man eine Art von Dienstboten aus ihm machte und daß man ihn mit Arbeiten jeder Art überhäufte.

Man gab ihm zuweilen auch heikle Beschäftigungen außerhalb der Anstalt, denen er sich nach bestem Können klug und ehrlich widmete, zumal sie eine moralische Verantwortung in sich schlossen.

In der ersten Zeit seiner Einschließung sprach er häufig mit geheimnißvoller, diskreter, vielversprechender Miene von seinen zehn Millionen. Wenn er einen seiner Genossen unglücklich sah, wenn er ihn sich über irgend etwas beklagen hörte, sagte er zu ihm:

– Weine nicht ... fasse Muth ... an dem Tage, da ich von hier fortgehen kann, werde ich meine zehn Millionen suchen und Dir eine geben ...

So hatte er wohl mehr als hundert Millionen vertheilt; aber bald nahm diese Manie ab, wurde immer unbedeutender und verschwand schließlich bis zu dem Grade, daß er sich nicht mehr in den Fallen, die der Irrenhaus-Direktor und ich seiner Vernunft stellten, fangen ließ. Wenn der Direktor geschickt auf raffinirten Umwegen Jean Loqueteux' Erinnerungen zum Gegenstand seines richtigen Wahnsinnes zurückführte, zuckte Jener die Achsel und schien zu sagen:

»Ja, ich war einst wahnsinnig, ich habe an das Dasein dieser zehn Millionen geglaubt ... aber heute weiß ich wohl, daß es nur Kiesel waren.« Mehrere Jahre lang widersprach er sich nicht ein einziges Mal.

Jedermann hielt ihn für geheilt. Es war allen Ernstes die Rede davon, ihm die Freiheit wiederzuschenken. Er selbst hatte dies in rührenden Bitten oft genug herbeigewünscht, da er von Heimweh nach den Landstraßen und den Speichern ergriffen worden war, wo man Abends inmitten des frischen Heues einschlummert, wo man unter dem feenhaften Zelt des gestirnten Himmels ausruht. Aber ich zauderte noch immer.

Eines Morgens ließ ich Jean Loqueteux zu einem letzten Versuch holen. Der Direktor wohnte ernster als gewöhnlich gestimmt, diesem Vorgange bei, desgleichen mehrere Beamte.

– Jean Loqueteux, sagte ich zu ihm, ich werde Ihren Entlassungsschein unterzeichnen ... aber vorher möchte ich Ihnen noch einige Fragen stellen. Bemühen Sie sich, vernünftige Antworten zu geben.

Die Narren haben zuweilen bewunderungswürdige Ahnungen ... Jean Loqueteux fand eine gewisse Feindseligkeit in meinem Blicke, er fühlte, daß all' diese Leute herbeigekommen waren, um ihm eine Falle zu stellen. Da hatte er eine Idee.

– Herr Doktor, sagte er zu mir ... ich möchte Sie einen Augenblick lang unter vier Augen sprechen ...

Und als sich die Anderen entfernt hatten, begann er von neuem:

– Herr Doktor, ich muß bestimmt dies Haus verlassen, ich fühle, Sie möchten mich zurückhalten; nun also, wenn Sie mich gehen lassen, hören Sie mich wohl an, so werde ich Ihnen eine Million geben ...

– Wahrhaftig? ...

– Ich schwöre es Ihnen, Herr Doktor, und wenn eine Million nicht genügt, schön, so werde ich Ihnen zwei geben.

– Wo sind denn Ihre Millionen, mein armer Loqueteux?

– Ja, Herr Doktor, die befinden sich an einem Orte, den ich genau kenne, am Fuße eines Baumes, unter einem riesigen Steine ... Und in all der Zeit müssen sie viel Junge bekommen haben! Aber still, kein Wort! ... Da kommt der Herr Direktor zurück und belauscht uns ...

Und am nämlichen Abend bezog Jean Loqueteux wieder das Narrenhaus, wo er seinen Kameraden vorstöhnte:

– Ich bin zu reich, das verargt man mir ... ich bin zu reich ...

Triceps unterbrach sich:

– Alle Wetter! Meine Konsultation, die ich ganz vergessen habe. Er sprang auf, griff nach seinem Hut und sagte lachend, was wie ein elektrisches Glockenzeichen klang:

– Ach was! ... wenigstens sind sie während der Zeit ruhig ...

Und Herrn Rouffat's Stimme und Bewegungen nachahmend, schrie er:

– Es lebe das Heer, Tod den Juden!

Dann eilte er wie der Wirbelwind fort.

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