Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III.

Obwohl der Doktor Triceps nicht gerade mehr werth ist, als der Doktor Fardeau-Fardat ... nenne ich Triceps doch meinen Freund. Ich kenne ihn ja schon seit so langer Zeit ... Und da er doch nun einmal hier ist ... da er doch nach einer hübschen Reihe von Abenteuern schließlich in diesem Bade gestrandet ist, so nehme ich ihn ebenso gern wie einen anderen. Wenn man schon sterben soll, kommt es auf einen Arzt mehr oder weniger nicht an.

Das ist auch ein toller Kerl, wie Clara Fistule sich auszudrücken pflegt.

Äußerlich erscheint er als ein kleiner, mittelmäßig veranlagter, ehrgeiziger, unruhiger und starrköpfiger Mensch. Er kümmert sich um Alles und Jedes und glaubt in allen Dingen gleichmäßig erfahren und sachverständig zu sein. Er ist es, der im Jahre 1897 bei dem internationalen Ärzte-Kongreß in Ungarn die Entdeckung machte, daß die Armuth eine Nervenkrankheit sei. Im Jahre 1898 übergab er der biologischen Gesellschaft ein höchst gehaltvolles Denkschreiben, in dem er Blutschande als ein Mittel zur Wiederherstellung einer guten Rasse verkündet. Im folgenden Jahre passirte mir eine ziemlich ungewöhnliche Geschichte, die mir alles Vertrauen in seine diagnostische Fähigkeit gab.

Eines Tages hatte ich mich nach dem Keller begeben – Gott weiß, weshalb – dort fand ich in einer alten Schachtel unter einer Decke von Heu, die als Einpackmittel benutzt worden war, ja, da fand ich ... einen Igel. Zu einer Kugel zusammengerollt schlief er jenen tiefen schrecklichen Winterschlaf, dessen logische Erklärung uns die Gelehrten noch schuldig sind – man nennt dies, glaube ich, Morphologie? ...

Die Thatsache, daß dieses Thier in einer Schachtel schlummerte, verwunderte mich nicht gerade. Der Igel ist ein scharfsinniger und außergewöhnlich schlauer Vierfüßler. Statt sich für den Winter die wenig angenehme Schutzbedeckung unter dem unsicheren Dache verfaulender Blätter oder in der Höhlung eines alten, abgestorbenen Baumes zu suchen, hatte dieser richtig genug geurtheilt, daß er wärmer und ruhiger in einem Keller untergebracht sei. Berücksichtigen Sie ferner, daß er zu dieser raffinirten Annehmlichmachung seines luxuriösen Aufenthaltes diese Schachtel für den Winterschlaf ausgesucht hatte, weil sie an die Wand gelehnt stand, genau an der Stelle, wo das Rohr der Centralheizung vorüberging. Ich erkannte daran einen der den Igeln eigenthümlichen Kniffe, die nicht wie gewöhnliche arme Schlucker vor Kälte umkommen ...

Das Thierchen, das ich durch geschickte Bäder nach und nach aufweckte, schien nicht übermäßig verblüfft zu sein, daß in diesem Keller ein Mensch, der sich über seine Schachtel beugte, es indiskret untersuchte. Langsam rollte es sich auf, dehnte sich mit schlauen Bewegungen ein wenig, richtete sich auf seine niedrigen Pfoten auf, streckte sich wie eine Katze und kratzte mit seinen Nägeln den Boden ... Ein merkwürdiger Moment ist noch zu verzeichnen. Als ich ihn in die Höhe hob und in meine Hand nahm, rollte er sich nicht nur nicht wieder in eine Kugel zusammen, sondern er streckte sogar nicht eine einzige seiner Stacheln aus und runzelte auch nicht die Falten seiner winzigen Stirn. Im Gegentheil! An der Art, wie er brummte und seine Kinnladen bewegte, an der Art, wie sein schnupperndes Näschen zitterte, sah ich, daß er Freude, Vertrauen und ... Appetit zum Ausdruck bringen wollte. Das arme Teufelchen! Es erschien bleich und sozusagen hektisch, farblos nach Art der Salate, die lange Zeit an einem dunkeln Orte gelegen haben. Seine tiefschwarzen Augen glänzten in den eigenthümlichen Strahlen der Augen bleichsüchtiger Menschen und seine feuchten, leicht triefenden Augenlider enthüllten meinem geübten Auge den Zustand weit vorgeschrittener Blutarmuth.

Ich brachte ihn in die Küche herauf, wo er uns alle sogleich durch sein vertrauliches Wesen und durch die gemüthliche Ruhe verblüffte. Er that ganz so, als ob er zu Hause wäre. Er schnüffelte wie ein Ausgehungerter nach den Kochtöpfen, die auf dem Herd schmorten und seine Nasenlöcher sogen mit Entzücken den Duft der Saucen ein, der in der Luft schwebte.

Ich gab ihm zuerst Milch, die er gierig aufschlürfte. Dann reichte ich ihm ein Stückchen Fleisch, auf das er sich, nachdem er es berochen hatte, heißgierig stürzte, ganz wie ein Tiger auf seine Beute. Er kreuzte beide Vorderpfoten auf dem Stück Fleisch, was ein Zeichen endgiltiger Besitznahme sein sollte, begann es an den Ecken anzuknabbern, wobei er schnurrte, während seine schwarzen Äuglein in wildem Glanz erstrahlten. Winzige rothe Fleischfetzchen hingen von seinen Kinnbacken herab, sein Schnäuzchen wurde von dem Safte feucht. Binnen wenigen Sekunden hatte er das Fleisch verschlungen. Ein ähnliches Schicksal ereilte eine Kartoffel; einige Weinbeeren verschwanden, so wie ich sie ihm gegeben hatte. Dann vertilgte er eine Taffe Kaffee, wobei er laut schmatzte. Vollgefressen, ließ er sich sodann auf die Schüssel niedergleiten und schlief ein.

Am nächsten Morgen war der Igel ganz wie ein Hündchen gezähmt; so wie ich das Zimmer betrat, in dem ihm ein warmes Nest bereitet worden war, zeigte er außerordentliche Freude, lief mir entgegen und war erst zufrieden, wenn ich ihn in meine Hände genommen hatte. Wenn ich ihn dann streichelte, wobei seine Stacheln auf dem Rücken lagen und sich wie ein Katzenfell anfühlten, ließ er ein freudiges Grunzen vernehmen, das schließlich in seiner eintönigen, einschläfernden Folge dem Schnurren einer Katze glich.

Ja, ich muß dies allen Naturforschern zur Kenntniß bringen: mein Igel schnurrte!

Da er mir viel Vergnügen bereitete und ich ihn recht lieb gewonnen hatte, erwies ich ihm die Ehre, ihn zu Tische heranzuziehen. Seine Schüssel wurde neben der meinen aufgestellt. Er langte von Allem zu und zeigte komische Ausbrüche von Ärger, wenn ein Gericht weggetragen wurde, ohne daß er davon gekostet hatte ... Ich habe nie ein Geschöpf kennen gelernt, das so leicht wie er zu ernähren gewesen wäre. Fleisch, Gemüse, Konserven, Mehlspeisen, Obst, all' das verschlang er mit gleichem Eifer. Für Kaninchen aber hatte er eine ganz besondere Vorliebe. Ihren Duft schnüffelte er schon von ferne ... An jenen Tagen wurde er förmlich toll. Man konnte ihn gar nicht sättigen. Dreimal überfraß er sich an Kaninchen dermaßen, daß der arme Kerl fast draufgegangen wäre. Ich mußte ihm drastische Medikamente und starke Abführmittel eingeben.

Das Unglück wollte es, daß ich aus Schwachheit und vielleicht auch aus Verderbtheit ihn allmälig an alkoholische Getränke gewöhnte. Nachdem er sie einmal gekostet hatte, weigerte er sich mit zorniger Halsstarrigkeit, etwas Anderes zu trinken. Er vertilgte tagtäglich sein Gläschen Cognac, ganz wie ein Erwachsener. Es genirte ihn in keiner Weise, er wurde weder aufgeregt, noch zeigte er Trunkenheit. Er war ein solider Trinker, der »sein Theil« vertrug, ganz wie ein alter Kriegsmann. Er gewöhnte sich auch an Absinth und schien sich nicht übel dabei zu befinden. Seine Färbung war dunkler geworden, seine Augen troffen nicht mehr, jede Spur von Blutarmuth war verschwunden. Zuweilen entdeckte ich in seinem Blicke einen sonderbaren Ausdruck, eine Art wollüstigen Strahlens. Da ich überzeugt war, daß er stets nach seinem Heim zurückkehren würde, ließ ich ihn in schönen, warmen Nächten in das Wäldchen wandern, wo er auf Abenteuer ausging. Am nächsten Tage, beim ersten Morgengrauen war er wieder vor der Thür angelangt, und wartete, bis man ihm öffnete. Dann schlief er fast den ganzen Tag über einen bleiernen Schlaf und machte so seine nächtlichen Ausschweifungen wett.

Eines Morgens fand ich ihn auf seinem Lager ausgestreckt. Er erhob sich nicht, als ich mich ihm näherte. Ich rief ihn an. Er rührte sich nicht. Ich nahm ihn in die Hand, er war ganz kalt. Er athmete indessen noch. Seine Äuglein warfen mir einen Blick zu, zu dem er noch die Kraft fand, einen Blick, den ich nie vergessen werde. In diesem sonderbaren Blick lagen Erstaunen, Trauer, Zärtlichkeit und soviel geheimnißvolle tiefe Dinge, die ich wohl hätte verstehen mögen, die ich aber nicht begriff ...

Er athmete noch ... eine Art leises Röcheln, gleich dem Glucksen einer Flasche, die sich leert, entschlüpfte ihm ... Dann zuckte er zusammen. Ein Schrei, ein Schauer, ein Schrei, wieder ein Schauer ... er war todt ...

Fast wäre ich in Thränen ausgebrochen ...

Betroffen betrachtete ich ihn, während ich ihn in der Hand hielt. Er trug keinerlei Spuren von Gewalt an seinem Körper, der jetzt schlaff wie ein Fetzen war; kein Anzeichen von Krankheit war zu erkennen. Am Vorabend war er überhaupt nicht nach dem Wald gegangen und hatte fröhlich und männlich sein Gläschen Cognac vertilgt. Woran war er also gestorben? Weshalb war dies so plötzlich gekommen?

Ich schickte Triceps den Leichnam, der die Autopsie vornahm und hier sehen Sie die Zeilen, die er mir drei Tage darauf zusandte:

 

»Lieber Freund! Vollständige Alkoholvergiftung. Starb am Lungenschlag der Säufer. Ein besonders bei Igeln seltener Fall.

Dein ergebener
Alexis Triceps
Doctor med.«

 

Sie sehen also, daß mein Freund Triceps kein absoluter Idiot ist.

Der gute Triceps!

Ach, eine merkwürdige Reise war es, die ich seinerzeit nach X. unternahm ... in Familienangelegenheiten. Wie lange dies schon her ist! Als ich meine Angelegenheiten erledigt hatte, erinnerte ich mich, daß ich einen Freund unter den Ärzten der Irrenanstalt hatte, der kein Anderer als Triceps war. Ich beschloß also, ihm einen Besuch abzustatten. An jenem Tage herrschte ein wahres Hundewetter. Die Luft war eisig; wilde Nordwindstöße fuhren mir unsanft über das Gesicht. Statt mich in ein Kaffeehaus zu flüchten, winkte ich einen Wagen herbei und ließ mich nach dem Irrenhause fahren.

Der Wagen durcheilte die Geschäftsviertel und die übervölkerten Vorstädte. Er durcheilte das trübselige Ende der Stadt und machte plötzlich zwischen freien Baugründen, die von Lattenzäunen umgeben waren, während ringsum riesige schwarze Neubauten auftauchten, zwischen Spitälern, Gefängnissen und Kasernen Halt. Krähen und Raben trieben dort ihr Unwesen, als ich anlangte. Das Gebäude selbst war aus traurigen, dicken, erstickenden Mauern zusammengesetzt; nur hie und da unterschied man kleine vergitterte Fenster, hinter denen man Leiden, Verdammniß und Tod ahnte. Vor einem schmutzigen, grau angestrichenen Thore stieg ich aus.

– Hier sind die Narren ... wir sind zur Stelle ... sagte der Kutscher.

Ich zögerte einige Sekunden lang, diese fürchterliche Schwelle zu überschreiten. Zunächst zweifelte ich nicht daran, daß ich von Seiten meines Freundes mit Fragen indiskreter Natur und Quälereien jeder Art bestürmt werden würde; dann fiel mir auch ein, daß ich den Blick eines Irrsinnigen nicht ertragen konnte. Dieser Blick des Wahnsinns entsetzte mich besonders durch die Möglichkeit einer Ansteckung, und der Anblick der langen, verkrampften Finger der Narren und ihrer zu einer Grimasse verzogenen Lippen macht mich krank. Mein Hirn wird also gleichsam die Beute ihres eigenen Deliriums; ihr Wahnsinn überträgt sich im nämlichen Augenblick auf meinen ganzen Organismus; an den Sohlen fühle ich ein schmerzhaftes und höchst beunruhigendes Kribbeln, wodurch ich in den Höfen eines Krankenhauses wie ein Truthahn hüpfen muß, den grausame Jungen über eine heiße Platte jagen.

Dennoch trat ich ein. Der Portier wies mich an einen Wärter, der mich Höfe, Höfe und wieder Höfe durchkreuzen ließ, die zu dieser Stunde glücklicherweise öde und verlassen waren. Dann ging es durch endlose Gänge und Treppen, Treppen und wieder Treppen hinauf. In den Wandelgängen konnte man von Zeit zu Zeit durch vergitterte Thüren große Säle mit weiß angestrichener Wölbung unterscheiden. Auch sah ich, wie sich Nachtmützen in schauriger Weise auf bleichen, verzogenen Stirnen bewegten. Dann aber zwang ich mich, nur noch die Wände und den Fußboden anzusehen, auf dessen Fliesen, an den von der Sonne beleuchteten Stellen der Schatten verkrampfter Hände zu fallen schien. Ich weiß wirklich nicht mehr, wie es geschah, daß ich mich plötzlich in einem recht hellen Zimmer befand. Mein Freund Triceps fiel mir um den Hals.

– Ei! Ei! ... Nein, diese Überraschung! ... Bist Du es wirklich? ... Du kommst mir gerade recht! Du könntest gar nicht zu einer gelegeneren Zeit anlangen! Das war ja ein ausgezeichneter Gedanke! ...

Und ohne mich weiter zu begrüßen, begann er:

– Hör' mich mal an! ... Du willst mir doch einen Gefallen thun? ... Sag mal, ich habe gerade eine kleine Arbeit über »Dilettanten der Chirurgie« vollendet ... Du weißt wohl nicht, was das sein soll? ... Nein? ... Das ist eine neue Wahnsinnsform, die soeben entdeckt worden ist ... Die Kerle, die alte Frauen zerstückeln ... sind nämlich keine Meuchelmörder, das sind ganz einfach »Dilettanten der Chirurgie«. Statt sie guillotiniren zu lassen, sollten sie eine Kaltwasserkur erhalten ... Aus Deibler's (des Scharfrichters von Paris) Händen müßten sie eigentlich in die meinen übergehen ... Ja, so verhält sich das in der That. Ist das nicht zum Todtlachen? ... Im Grunde genommen, ist mir das ja ganz egal. Ich habe eine äußerst gehaltvolle Denkschrift über die »Dilettanten der Chirurgie« verfaßt. Ich habe sogar – das ist das Allerspaßigste – ich habe sogar den Auswuchs im Gehirn gefunden, der dieser Manie entspricht ... verstehst Du? ... Na also, ich will diese Denkschrift der medizinischen Akademie von Paris vorlegen ... Du mußt Dich also für mich verwenden und Intriguen spinnen, damit ich einen Preis erhalte ... einen kolossalen Preis und die akademischen Palmen ... Ich rechne auf Dich ... Du wirst in meinem Interesse die Herren Lancereaux, Pozzi, Bouchard, Robin und Dumontpallier aufsuchen ... Du wirst sie Alle besuchen ... ich rechne auf Dich, das kann ich doch thun, nicht wahr? ... Übrigens wollte ich Dir gerade schreiben ... Nein wahrhaftig, altes Haus! Du kommst im rechten Augenblick ... alle Wetter ja, das ist ein wahres Glück ...

Während er sprach, beobachtete ich ihn. Seine Taille schien noch engbrüstiger geworden zu sein, sein Schädel gerader, sein Kinnbart spitzer. Mit seiner Sammtmütze und seiner Blouse, die sich wie ein Ballon aufblies, mit seinen kurzen abgehackten Bewegungen glich er einem Kinderspielzeug, einem Hanswurst, wie man deren auf Weihnachtsmärkten zu sehen bekommt.

– Und was sagst Du zu meinem Zimmer? fragte er mich unvermittelt. Hier ist es hübsch, nicht wahr? ... Ich bin hier recht gut untergebracht? ... Und das erst? ... Was sagst Du erst zu dem da?

Damit öffnete er das Fenster und deutete mit der Hand hinaus.

– Diese Bäume da in nächster Nähe und die kleinen weißen Dinger, das ist der Kirchhof ... Hier ... rechter Hand ... diese großen, schwarzen Häuser, das ist das Hospital ... zu Deiner Linken ... Du siehst doch genau, was ich Dir zeige ... das sind die Kasernen der Marineinfanterie ... Das Gefängniß kannst Du von hier aus nicht genau unterscheiden ... aber nachher, wenn wir im Hofe sind, werde ich es Dir zeigen ... Ja! hier gibt es frische Luft und Ruhe ... hier wird man in Frieden gelassen ... Gehen wir hinunter ... ich will Dir jetzt dies Alles zeigen ...

Wir gingen in der That hinunter ... Gleichzeitig ertönte eine Glocke.

– Sieh mal an. Du kannst wirklich von Glück reden! sagte Triceps zu mir; jetzt ist gerade die Stunde, wo die Narren in die Höfe hinabgelassen werden.

Dann begaben wir uns nach einem der Höfe. Einige Geisteskranke gingen unter den Bäumen auf und ab, sie sahen traurig und unstät aus; andere Narren saßen unbeweglich und trotzig auf Bänken. Längs der Mauern, besonders in den Ecken hatten sich einige Narren auf dem Boden niedergelassen, einige stöhnten; andere erschienen schweigsamer, gefühlloser, todter als Leichen.

Der viereckige Hof wird von hohen, schwarzen Gebäuden umschlossen, in die Fenster gebrochen sind, die Einen gleichfalls mit wahnsinnigen Blicken anzustarren scheinen. Kein Ausblick auf Freiheit und Freude; stets ein und dasselbe Viereck des Himmels. Und man hört ein dumpfes Klagen, unterdrückte Schreie, gedämpftes Geheul, das aus Gott weiß welchen Folterkammern hervordringt, aus Gott weiß welchen unsichtbaren Gräbern und fernen Höllen ... Ein Greis springt auf seinen schlotternden, schwachen Beinen hin und her mit steifem Leib, die Hände in die Hüften gepreßt. Einige gehen rasch auf irgend ein unbekanntes Ziel los, andere zanken mit sich selber herum.

So wie die Wahnsinnigen uns bemerken, werden sie aufgeregt, bilden Gruppen, flüstern, berathen, erwägen und richten verstohlen ihre naiven, mißtrauischen Blicke auf uns. Man sieht sie auch vom Boden aufspringen und drohende Bewegungen machen, wobei ihre fahlen Hände in der Luft einem Schwarm aufgeschreckter Vögel gleichen. Die Wärter schreiten durch die Gruppen und ermahnen sie in rauhem, grobem Tone, sich ruhig zu verhalten. Ich höre einige Brocken der Unterhaltung.

– Ob es wohl der Präfekt ist?

– Geh Du doch nur mal hin!

– Nein, Du ...

– Er versteht mich nicht, wenn ich mit ihm spreche.

– Auf mich hört er überhaupt nicht.

– Wir müssen aber doch von ihm verlangen, daß uns nicht wieder Kröten in der Suppe vorgesetzt werden.

– Wir müssen ihn wirklich bitten, daß man uns ein bischen im Freien spazieren führt.

– Geh Du doch nur zu ihm hin ... und sprich ohne Weiteres wie ein Mann mit ihm ...

– Nein, Du!

– Schön, ich gehe.

Einige Kranke lösen sich von den Gruppen ab, gehen auf Triceps zu und beklagen sich gehässig und unklar über schlechte Nahrung, grobe Behandlung seitens der Wärter und die Ungerechtigkeit des Schicksals. Die Gesichter werden ganz eifrig und sie strecken die Hälse weit vor. In allen diesen armen, erschreckten Kinderaugen erscheint ein Leuchten ungewisser Hoffnung, während der Greis, der auf den Zwischenfall gar nicht geachtet hat, auf seinen schlechten Beinen immer weiter springt und ein junger Mann mit begeisterten Augen, die Arme weit ausgestreckt, mit seinen langen Knochenhänden ohne Unterlaß den leeren Raum zu umarmen scheint.

Triceps gibt auf alle diese Reklamationen die eine Antwort:

– Schön, ich werde mir es merken ... Es wird schon geschehen.

Dann sagte er zu mir:

– Diese Armen sind im Grunde ganz gute Kerle. Sie erscheinen nur etwas verschroben ... Du brauchst keine Angst vor ihnen zu haben.

Ich antwortete:

– Sie sehen durchaus nicht verrückter als andere Menschen aus ... Ich hatte mir einen ganz anderen Begriff von ihnen gemacht ... Ich finde, dieser Hof hier ist ein getreues Abbild der Deputirtenkammer, nur etwas malerischer.

– Es geht hier auch viel lustiger her ... und dann, lieber Freund, wirst Du eine sehr spaßhafte Sache hier zu sehen bekommen ... Du kannst Dir gar keinen Begriff davon machen, wieviel Geist diese armen Kerle zuweilen entwickeln ...

Er hielt einen der vorübergehenden Narren an und befragte ihn:

– Weshalb willst Du heute von mir nichts haben?

Der Wahnsinnige macht eine traurige Bewegung ... er sieht bleich, mager und niedergeschlagen aus.

– Wozu? erklärt er.

– Bist Du böse? ... Hast Du Dir etwas in den Kopf gesetzt?

– Ich bin durchaus nicht böse ... ich bin traurig.

– Du sollst aber nicht traurig sein, ... für Deinen Zustand ist das nicht zweckmäßig ... Sage uns doch nur, wie Du heißt?

– Was wünschen Sie?

– Ich möchte Deinen Namen hören ... sage uns Deinen Namen!

In milder Weise und im sanften Tone des Vorwurfs antwortete der Geisteskranke:

– Das ist nicht schön von Ihnen, daß Sie einen armen Menschen zum Besten haben. Sie wissen doch besser, als irgend ein Anderer, daß ich gar keinen Namen mehr besitze. Soll ich den Herrn hier als Schiedsrichter anrufen? Der Herr ist doch zweifellos der Herr Präfekt?

Und auf eine bejahende Geste von Triceps hin fuhr er fort:

– Schön, ich bin über dieses Zusammentreffen sehr erfreut. Sehen Sie, Herr Präfekt, ich hatte einen Namen, wie alle Welt ... nicht wahr, das war mein gutes Recht? Das ist doch wirklich nicht zuviel verlangt, was meinen Sie dazu? Nun, als ich in dieses Haus trat, hat dieser Herr mir meinen Namen weggenommen.

– Du weißt nicht, was Du sagst.

– Verzeihung, ich weiß sehr genau, was ich sage ...

Dann wandte er sich wieder an mich:

– Wo mag dieser Herr meinen Namen nur hingethan haben? ... ich weiß es nicht, ob er ihn verloren hat? ... Das ist schon möglich ... ich habe ihn mindestens tausendmal von ihm zurückverlangt ... Denn schließlich brauche ich doch meinen Namen ... aber er hat ihn mir nicht wieder geben wollen ... das ist zu traurig ... Ich kann mir auch gar nicht vorstellen, daß der Herr ein Recht dazu hatte, mir meinen Namen wegzunehmen. Ich finde, das ist der reinste Mißbrauch der Amtsgewalt ... Sie, Herr Präfekt, werden begreifen, wie unangenehm das für mich ist ... Nun weiß ich nicht mehr, wer ich bin. Ich bin nicht nur für Andere, sondern auch für mich selber ein Fremder ... In letzter Linie existire ich wirklich nicht mehr ... Denken Sie, sämmtliche Zeitungen wollen schon seit längerer Zeit meinen Lebenslauf veröffentlichen ... aber wie sollen sie das anstellen? ... Wessen Lebensbeschreibung? ... Ja, wessen? ... ich habe doch keinen Namen mehr ... Ich bin berühmt, ungemein berühmt, jeder gebildete Mann in Europa kennt mich ... aber was nützt mir diese Berühmtheit, da sie heute namenlos ist? – Aber schließlich muß es doch Mittel und Wege geben, um mir meinen Namen zurückzuerstatten.

Ich beruhigte ihn:

– Selbstverständlich ... selbstverständlich ... ich werde mich damit beschäftigen.

– Vielen Dank! Es ist sehr freundlich von Ihnen, Herr Präfekt, daß Sie sich mit mir beschäftigen. Darf ich Sie daher noch um eine andere Liebenswürdigkeit ersuchen? Denn ich bin das Opfer ganz außerordentlicher Vorgänge, welche mir unmöglich scheinen würden, wenn sie einem Anderen und nicht mir selbst zugestoßen wären.

– Sprechen Sie ruhig, lieber Freund.

Da erzählte er denn in vertraulichem Tone:

– Ich war einst ein Dichter, Herr Präfekt, und hatte einen Schneider, dem ich Geld schuldete ... Ich benöthigte nämlich schöne Kleider, da ich bei der Marquise d'Espard, bei Frau de Beauséant verkehrte und Fräulein de Grandlieu heirathen sollte ... Die Geschichte ist des Längeren und Breiteren von Balzac erzählt worden ... Sie sehen, daß ich Sie nicht belüge ... Dieser unangenehme Schneider suchte mich überaus häufig abzufassen. Er verlangte in wildem Tone sein Geld von mir. Ich hatte aber keines ... Eines Tages, als er sich drohender denn je benahm, bot ich ihm als Bezahlung vorläufig an, er möge irgend Etwas ... was ihm gerade in meiner Wohnung gefällt, in Besitz nehmen, z. B. eine Pendeluhr. Ich hatte eine sehr schöne Pendeluhr, ein altes Familienstück ... Kurz, was ihm paßte ... Wissen Sie, was er mir fortgenommen hat? ... Es ist unbegreiflich ... Er nahm mir meine Gedanken ... Ja, Herr Präfekt, meine Gedanken ... gerade so, wie mir dieser Herr hier meinen Namen weggenommen hat ... Ich habe aber auch wirklich Pech! ... Was konnte mein Schneider mit meinen Gedanken anfangen?

– Wieso haben Sie denn bemerkt, daß der Schneider Ihnen Ihre Gedanken weggenommen hatte? fragte ich ihn.

– Wieso? Ich habe sie doch in seinen Händen gesehen, Herr Präfekt. Er hielt sie in dem Augenblicke, da er sie mir fortnahm, in seinen Händen.

– Wie sahen Ihre Gedanken denn aus?

Der Wahnsinnige nahm eine Miene an, in der sich Bewegung und zärtliches Mitleid mischten.

– Meine Gedanken, Herr Präfekt, glichen einem kleinen, gelben, sehr hübschen, sehr zarten Schmetterling, der mit den Flügeln schlägt, einem kleinen Schmetterling, wie man sie an sonnigen Tagen auf den Rosenstöcken der Gärten findet ... Ich bat den bösen Schneider, mir meine Gedanken wiederzugeben ... Er hatte dicke, kurze, ungeschickte Finger, rohe Finger ... ich fürchtete, daß er meine leicht zerbrechlichen Gedanken verletzen könnte ... Er steckte sie aber in die Tasche und machte sich aus dem Staube.

– Das ist in der That ein außergewöhnliches Abenteuer.

– Nicht wahr? Ich schrieb zuerst an den Schneider, um meine Gedanken lebend oder todt zurückzuverlangen; er gab mir aber keine Antwort ... Ich begab mich zum Polizei-Kommissär, der mich in roher Weise zur Thür hinauswies und mich einen Narren nannte ... Schließlich drangen eines Abends einige Kerle mit verdächtigen Gesichtern in meine Wohnung und führten mich hierher ... Nun sind es schon sechs Monate her, daß ich mich hier befinde. Ja, Herr Präfekt, seit einem halben Jahre lebe ich inmitten dieser groben, kranken Geschöpfe, die unvernünftige, entsetzliche Sachen machen ... Wie soll ich mich unter solchen Umständen glücklich fühlen?

Dann zog er aus der Tasche seiner Blouse ein sorgfältig in Zeitungspapier gewickeltes Heft und reichte es mir.

– Nehmen Sie dies, bat er in beschwörendem Tone ... Ich habe darin alle meine Leiden aufgezeichnet. Wenn Sie es gelesen haben, werden Sie gerechte Maßregeln treffen, wie Ihnen dies Ihr Gewissen vorschreiben wird.

– Ja, ich werde das thun.

– Ich muß Ihnen aber noch erklären, daß ich keinerlei Hoffnung mehr habe. Es gibt so seltsame Schicksalswendungen, die dem menschlichen Willen dermaßen überlegen sind, daß man nichts gegen sie thun kann.

– Ja, schön. Sie haben mein Versprechen.

Nach einer kurzen Pause bemerkte er noch:

– Darf ich Ihnen ganz allein etwas anvertrauen?

– Nur immer zu.

– Es ist sehr komisch und seltsam.

Mit gedämpfter Stimme fuhr er fort:

– Zuweilen kommt ein kleiner Schmetterling hierhergeflogen ... ich weiß nicht, weshalb, denn hier gibt es gar keine Blumen. Lange Zeit hindurch hat mich das beunruhigt ... Es kommt zuweilen ein kleiner gelber Schmetterling, wie der, den ich an jenem furchtbaren Tage in den dicken, unsauberen Händen des Schneiders sah ... Er ist ebenso zart, fein und hübsch wie der andere. Er fliegt leicht tändelnd auf und ab. Es ist herrlich, ihn so fliegen zu sehen ... Nur ist er nicht immer gelb ... zuweilen ist er auch blau, zuweilen weiß, zuweilen malvenfarbig, zuweilen roth; das kommt auf den betreffenden Tag an ... Roth ist er z. B. nur dann, wenn ich Thränen in den Augen habe. Das kommt mir nicht ganz natürlich vor, und nun glaube ich ... ja, ich bin in meinem Innern davon überzeugt, daß dieser kleine Schmetterling ...

Er neigt sich zu mir und flüstert geheimnißvoll, indem er seine Lippen fast an mein Ohr preßt:

– Der Schmetterling ist mein Gedanke ... aber kein Wort weiter davon! ...

– Glauben Sie wirklich?

– Verrathen Sie es nicht! Der Schmetterling sucht mich ... er sucht mich seit einem halben Jahre ... aber Sie dürfen es nicht verrathen ... Sie dürfen es keinem Menschen sagen ... Gott! Was für einen Weg das unglückliche Thierchen zurückgelegt haben muß ... Es hat vielleicht Gebirge, Wüsten und Eisfelder durchkreuzen müssen, ehe es hierhergelangte. Das Herz will mir vor Rührung bersten ... Aber wie soll der Schmetterling mich ausfindig machen, da ich keinen Namen mehr habe? ... Er erkennt mich eben nicht mehr ... Vergebens rufe ich ihn an, er flieht vor mir ... Das ist doch auch ganz selbstverständlich, würden Sie nicht auch dasselbe an seiner Stelle thun? ... Kurz, er fliegt fort und deshalb war es schlecht von dem Herrn, daß er mir meinen Namen entzog.

Er drehte sich plötzlich um.

– Da sehen Sie doch nur ... dort drüben ... oberhalb der Bäume?

– Ich sehe nichts.

– Sie sehen nichts? ... Aber da ... dort drüben ... er kommt herab.

Der arme Narr bezeichnet im weiten Raum einen eingebildeten Punkt.

– Heute ist er malvenfarbig, über und über malvenfarbig ... Ich erkenne seinen leichten, treuen Flug ... Er sucht mich, aber wir werden uns nie wieder vereinigen ... Ich darf Ihnen jetzt Adieu sagen, nicht wahr?

Er grüßt, geht fort und eilt dem eingebildeten Punkte zu. Einige Minuten lang scheint er den unsichtbaren Schmetterling zu jagen: er läuft auf und ab, dreht sich, springt in die Höhe, kommt wieder zurück und fuchtelt mit den Händen in der Luft herum. Dann fällt er athemlos, erschöpft, keuchend und schweißüberströmt am Fuße eines Baumes nieder.

Triceps lächelt und zuckt die Achseln.

– Ja, nach alldem ist er vielleicht nicht verrückter, vielleicht sogar viel weniger verrückt – was weiß ich – als die anderen Dichter, die Dichter in Freiheit, welche Blumen in ihren Seelen haben wollen, die das Haar ihrer imaginären Geliebten mit Schiffsmasten vergleichen. Dichter, denen man die Ehrenlegion verleiht, denen man Standbilder errichtet. Ja, wahrhaftig!

Aber das Leben, das diese armen Teufel führen, kommt mir allzu traurig vor. Ich bitte Triceps, mich diesem furchtbaren Schauspiele zu entreißen ... Wir durchkreuzen Höfe und wieder Höfe, und weißgetünchte Gänge, gelangen endlich auf eine Art Terrasse, wo magere Blumen sprießen und zwei Kirschbäume, lange Harzthränen vergießend, langsam absterben. Von dort aus übersah man die ganze traurige Scenerie von schwarzen Mauern, blinden Fenstern, vergitterten Zugängen, grauem Laubwerk ... die ganze Scenerie menschlicher Schrecknisse, menschlichen Jammers und menschlicher Leiden; eine Welt für sich, in der eine arme, bedauernswerthe, in Ketten gelegte Menschheit leidet, röchelt und stirbt ... Mit zusammengepreßtem Herzen bleibe ich stumm, während mir die Kehle wie zugeschnürt ist und ich habe nur das eine Gefühl, daß eine unaussprechlich schwere, unerträgliche, wahnsinnige Last mich zu erdrücken droht.

Da schreit mir denn der winzig kleine, artige Triceps mit seiner Sammtmütze und seiner weiten, ballonartigen Blouse zu:

– Sieh mal dort, zu Deiner Linken ... das ist das Gefängniß, altes Haus ... es ist sehr nett, nach dem letzten Modell, verstehst Du ...

Dann schloß er, indem er mich, weiß Gott wohin, mit sich schleppte:

– Siehst Du ... hier ist gut sein ... hier gibt es Blumen, schöne Aussicht und frisches Grün. Man ist vollkommen im Freien! ...

Und hier und dort, oberhalb der grauen Mauern, oberhalb der schwarzen Mauern führen auf unsichtbaren Rundgängen unsichtbare Soldaten den lebhaften Glanz ihrer Bajonnete spazieren ...

.


 << zurück weiter >>