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VIII.

Ich habe mehrmals Herrn Emile Ollivier wiedergesehen, der stets ruhig und lächelnd erschien ... Aber diese Ruhe und dieses Lächeln entsetzen mich nicht mehr, seit ich die Ursache davon kenne ... seit dessen Geheimniß mir enthüllt wurde ...

Vier Jahre sind seitdem vergangen ...

Natürlich geschah es in einem Eisenbahncoupé ... Die Kniee mit einem karrirten Plaid, den Schädel mit einer schottischen Mütze bedeckt, mit einer jener Mützen, die gestürzten länglichen Nachtgeschirren gleichen, so fuhr Herr Emile Ollivier unbekannten Büßerzielen zu. Wenigstens stellte ich mir gerne vor, daß dem so war ...

Dieser Anblick eines Emile Ollivier, den ich mir die Welt durchirrend vorstellte, ohne daß er irgendwo Halt machte, allerorts verflucht, eines Emile Ollivier, der Ebenen, Gebirge, Wälder und Meere durchstreifte, der Railways verließ, um Tramways zu besteigen, aus Tramways in Packetboote sprang, aus Packetbooten auf den Rücken von Kameelen stieg, von den Kameelen auf Schlitten, ohne Unterlaß unmögliche Stille und unmögliches Vergessen suchend, dieses Schauspiel erfreute zunächst, wie ich wohl eingestehen will, meine Patriotenseele, die nach Gerechtigkeit dürstet, – Patriotenseelen dürsten immer nach etwas, – und ich dachte an Elsaß-Lothringen mit zärtlich gestimmter Pietät!

Auch er mußte wohl daran denken, Gott weiß, wie bitter gestimmt, der unglückliche Mann! Er war sehr blaß, seine Augenlider schienen von Schlaflosigkeit aufgetrieben, ein Ausdruck des Leidens erfüllte sein Gesicht zur Gänze. Ich wußte ihm für dieses äußere Aussehen Dank, für dieses Aussehen, das so ganz harmonisch zu dem Seelenzustande, den ich ihm unterschoben, stimmte, und ich konnte es nicht verhindern, wirklich gerührt zu sein, denn ich gehöre zu jenen ein wenig phantastischen Patrioten, wie ich wohl zugeben will, die keineswegs wie die Cornelier geartet sind, und in denen der Patriotismus noch nicht vollkommen die Gefühle hochherziger Menschlichkeit und Barmherzigkeit erstickte. Ja, dieser Mann – denn war er nicht schließlich eben doch ein Mann? – rührte mich. Bedenken Sie doch nur! Seit dreißig Jahren reist er ohne Ruhepause, ohne eine einzige Unterbrechung, hier, in der wahnsinnigsten Sonnengluth, dort, in der Mitte frostigen Eises, gleich einem Ball von dem furchtbaren Verhängniß in aller Ewigkeit von einem Pole zum anderen geschleudert! ... Kann man sich eine schlimmere Folter nur vorstellen? Gibt es hienieden irgendwo ein gepeinigteres Dasein? ... Ah! der arme Teufel! ...

Meine Einbildungskraft, die mir stets solche Streiche spielt, ging mir wieder einmal vollständig durch und stachelte mich gebieterisch zu edler Nachsicht, zu vollständiger Vergebung an. Ich fühlte mich in einem Zustande solcher Begeisterung, solcher Verzückung, daß ich für Herrn Emile Ollivier den Tod herbeiwünschte, der Bazaine befreite und im Fieberschauer rief ich irgend eine abstrakte Gottheit an, die jedenfalls auf mein Gebet garnicht hörte:

Er ist genug herumgeirrt, er hat genug seinen armseligen Leib über die Erde geschleppt. Gnade! Er möge doch endlich irgendwo Halt machen, gleichgiltig wo, sei es auch nur unter dem Schatten einer Weide, im Winkel irgend eines unbekannten Friedhofs!

Ein höchst gewöhnlicher Zwischenfall in Bezug auf das Waggonfenster, – zwei Reisende hatten einen Wortwechsel über die Frage, ob das Fenster offen oder geschlossen sein müßte – was unser Dazwischentreten erforderlich machte, verknüpfte uns freundschaftlichst sehr am rechten Platze, sehr zu rechter Zeit. Und, ohne weitere Ceremonien stellten wir uns einander vor ... Ach, das Leben ist nun schon einmal so:

– Entzückt, mein Herr ...

– In der That hocherfreut ...

– Mein Herr!

– Mein Herr!

Aber trotz dieser herzlichen Begrüßung war es uns nicht möglich, frei von der Leber weg zu sprechen, so lange die beiden Mitreisenden, die übrigens sehr ungebildete Patrone zu sein schienen, zur Stelle waren und uns belauschen konnten. Als wohlerzogener Mensch, auch aus Mitleid, wollte ich ihn nicht den groben Bemerkungen dieser Bauernkerle aussetzen, vielleicht auch ihren unwissenden Wuthausbrüchen. Ich wollte diese Persönlichkeit mit der schottischen Mütze, diesen wehrlosen traurigen Paria, diesen jämmerlichen ewigen Juden voll ewiger Gewissensbisse behüten, denn mir schien, als ob ich mich ritterlich zu seinem Schutze verpflichtet hätte und verhindern mußte, daß er respektlos behandelt würde. Ich glaubte ihn sogar, um die Aufmerksamkeit dieser lästigen Gesellschaft, der unser Ton nicht entgangen war und die den Mann des Zusammenbruchs mit sichtbarer Feindseligkeit zu betrachten begann, abzulenken, zu wiederholten Malen mit lauter Stimme »Herr von Coeurléger (Leichtherz)« anreden zu müssen und indem ich ihm so vorübergehend den Charakter eines Weingutsbesitzers aus der Champagne verlieh, fragte ich ihn über die Traubenernte. Dies war eine Zartheit, die ihn, wie sein erstaunter Blick mir verrieth, durchaus nicht befriedigte, im Gegentheil.

Einige Stationen darauf stiegen die beiden Reisenden aus. Nun waren wir fürder allein und hatten Stunden und Stunden vor uns. Nächte lang sollten wir inmitten nichtssagender Landschaften, von den Rädern fortgetragen, einherrollen. Sogleich bemühte sich meine wohlwollende Haltung durch alle Arten von Lächeln Herrn Emile Ollivier zu, den geheimsten Geständnissen zu veranlassen und die Seele voll himmlischer Trauer, sagte ich still in meinem Innern:

– Sprich, armer Mann, schütte Dein Herz aus, schütte es ganz und gar aus ... Nichts thut wohler, nichts beruhigt mehr, wenn man duldet ... Und wenn Du weinen willst, weine ... ach! ich bitte Dich darum, weine ... Ich würde sicher Deine Thränen nicht lächerlich finden!

Aber lauschte er überhaupt auf diese inbrünstige Ansprache?

Nein, er lauschte nicht darauf, denn er sprach mich mit folgenden Worten an:

– Mein Herr, ich habe die Zeitungen von heute Morgen gelesen ... Na also, das geht gar nicht gut ... Es geht immer schlechter ... Hier wird überhaupt gar nicht mehr regiert ... Wir werden weniger regiert als die nacktesten Wilden auf dem afrikanischen Kontinent. Und ich weiß in der That nicht ... Nein, ich wage es nicht zu wissen, ich will nicht wissen, wohin wir steuern ... Es gibt keine Grundsätze mehr in Frankreich, mein Herr, keine Überlieferung mehr, keine Religion, keine Moral, keine Achtung vor den Gesetzen, keinen Patriotismus, nichts, garnichts mehr ... Es ist abscheulich ...

– Mag sein, bemerkte ich, schon abgekühlt durch diese Worte, die ich aus einem solchen Munde nicht erwartete.

Herr Emile Ollivier fuhr fort:

– Es ist abscheulich! Eine Regierung der Unordnung und Unwissenheit, die man unter der niedrigsten Provinzialmittelmäßigkeit zusammengelesen hat; ein Parlament von Freibeutern, welcher sich die Regierung zum Überfluß noch gefangen gegeben hat; als Hintergrund dieses Bildes der Sozialismus mit seinen Morden, seinem Aufruhr, seinen Streiks, allen seinen revolutionären Gewaltthaten, die gesetzlich gestattet sind! ... Ja, so weit sind wir heute gekommen ... Wenn wenigstens unter dem politischen Personale noch eine Reserve, eine Aushilfsgarde stände ... etwa Leute wie ich! ... Ach ja ... Überall sieht man nur Leute, die sich für nichts Anderes interessiren, als für ihr persönliches Vermögen, die an nichts Anderes denken, als an ihre Tasche und an ihren Bauch, und die Lamartine vergessen haben ... Es ist schändlich; so etwas ist noch nie dagewesen und ich begreife nicht, wie Frankreich sich das auf die Dauer gefallen lassen kann ... Nein, wahrhaftig, Frankreichs Geduld entrüstet mich und treibt mich zur Auflehnung ... Sie bringt mich außer mir und läßt mich jedes Maß verlieren ... Ihr Gleichmut setzt mich wahrhaftig in Erstaunen.

Und als ich stumpf vor Verblüffung nichts erwiderte, fuhr er in vorwurfsvollem Tone fort:

– Aber sehen Sie denn nicht, was diese Verbrecher verüben? Sie höhlen den Abgrund aus, der garnicht mehr zu füllen sein wird ... Noch einige Wochen dieses Regimes, höchstens noch einige Monate und dann gibt es ... wissen Sie, was es dann gibt?

– Sagen Sie es mir nur! rief ich in eisigem Tone.

– Nun schön, dann gibt es allgemeinen Bankerott, mein bester, mit Blindheit geschlagener Herr und – hören Sie mir wohl mit beiden Ohren zu und merken Sie sich, was ich Ihnen jetzt sagen werde – dann gibt es eine Zerstückelung des Vaterlandes ... des Vaterlandes! Mir scheint das ganz klar!

– Sie sind ein strenger Richter, Herr Emile Ollivier.

Wie sein Name Emile Ollivier, den ich ausgesprochen hatte und der sich so knapp dem Ende seines Satzes »Zerstückelung des Vaterlandes« anschloß, dieses Satzes, den er – oh Ahnungslosigkeit, oh Schamlosigkeit – so grausam unterstrichen hatte, wie sein Name durch das Coupé schallte gleich einem tragischen Echo aus der Vergangenheit! Und ich schauderte beim Klange dieses Namens vom Kopf bis zu den Füßen zusammen. Denn ich unterschied deutlich in diesem Namen, im nämlichen Augenblicke, da er von meinen Lippen kam, ich unterschied in ihm genau und sozusagen successive die lauten Wuthschreie, das Schluchzen der Witwen, den Fluch der Mütter, das Jammergeheul der Niederlage.

Aber wie dieser Mann kein Wort von meiner beschwörenden Einladung zur Demuth und Reue vernommen hatte, so brachte ihm auch der Name Emile Ollivier, den ich ihm jählings ins Gesicht schleuderte, kein anderes Echo, als das seiner eigenen Eitelkeit und seines unermeßlichen Hochmuths. Er lächelte, als er diesen Namen hörte, er bewunderte sich in diesem Namen wie in einem Spiegel der Lüge, er fand sich schön und antwortete mit salbungsvoller Stimme:

– Nein, ich bin kein strenger Richter ... ich bin gerecht und scharfsichtig, weiter nichts; ich bin Patriot ... Ich bin ein hervorragender Politiker, ich bin ein hellsehender Staatsmann, den die großen Beispiele der Geschichte, die großen zeitgenössischen Kämpfe, in denen mein Name leuchtete, bildeten. Ich kenne die Menschen, mein bester Herr und weiß, wie man sie lenken und regieren muß ... Ich kenne auch die Lage Europas, sein wildes Streben, seine geheimen Machenschaften, ich weiß, was Europa von unserer verderbten Litteratur, von unserer verseuchten Kunst erwartet, was es von unserem Leichtsinn und unserer Unwissenheit erhofft ... Und deshalb sage ich Ihnen:

»Wir eilen den Niederlagen, der Zerstückelung des Vaterlandes zu ... Des Vaterlandes!«

Mit einer prächtigen rednerischen Bewegung nahm er die schottische Mütze ab, welche zwischen den Zeitungen und den Broschüren auf die Kissen fiel, und fuhr fort:

– Es hat sich ein Einvernehmen zwischen den Mächten gebildet ... Die Auftheilung ist beschlossene Sache. In Bezug darauf sind meine Erkundigungen unanfechtbar. Ich that, was in meinen Kräften stand. Aber was konnte ich ohne ein öffentliches Mandat ausrichten? Ich habe ja nichts mehr zu bedeuten ... Ich besitze nichts mehr, nur meine Beredsamkeit und mein politisches Genie leben noch ... Man hat nicht auf mich gehört ... Heutzutage hört man nicht mehr auf das politische Genie und die Beredsamkeit wird verachtet. Folgendes also ist beschlossen worden ... Ach, mein Herz blutet bei dem Gedanken daran! ... Spanien wird die Pyrenäen annektiren, Italien nimmt Nizza, Savoyen und das Departement der Rhonemündungen; für Deutschland fällt Elsaß-Lothringen und die Champagne ab ... Was England betrifft, das unersättliche England ... Alle Wetter, England nimmt ...

Er machte eine Geste, durch welche die Weltkugel in die Tasche gesteckt wurde ...

Ich hörte ihm nicht mehr zu; ich sah ihn an ... Nein wahrhaftig, er sah nicht aus, als ob er sich über mich lustig machen wollte, auch nicht, als ob er sich selbst die Komödie einer so riesigen cynischen Betrügerei vorspielen wollte ... Indem er die Besitzergreifung Elsaß-Lothringens durch Deutschland in die Zukunft verlegte, glaubte er keinen beschimpfenden Spaß zu machen. Er befand sich im guten Glauben, er war aufrichtig und vielleicht begeistert patriotisch inmitten seiner unbegreiflichen Verirrung gestimmt. Er sprach weiter mit wirklichem, warmem Zorn, indem prophetische Blitze in seinen Augen aufleuchteten ... Er sprach über Alles, er urtheilte über Alles, er verdammte Alles, die Menschen sowohl, wie auch die Dinge ... Ohne jegliche Nachsicht, ohne jegliches Mitleid.

Er überbot seinen anklägerischen Pessimismus noch durch das Berauschende seines Wortschwalles. Wider Willen vernahm ich noch folgenden Satz:

– In Sachen der Politik hat man nicht das Recht dazu, sich zu täuschen. Der Irrthum ist ein Verbrechen, der Irrthum ist ein Verrath ...

Meine Verblüffung war so überwältigend, daß ich keinen Augenblick daran dachte, ihm zu widersprechen, ihn zum Schamgefühl zu ermahnen, ihm den Pranger zu zeigen, von dem ihn dreißig Jahre des Vergessens, aber nicht der Vergebung loszubringen vermochten.

Weshalb hätte ich auch daran denken sollen? Wozu? ... Da doch vor einem Augenblick Herr Emile Ollivier nicht beim Vernehmen seines Namens vor Scham zusammengefahren war und vor Angst mit den Zähnen geklappert hatte; da er den Kopf nicht unter dem Plaid verborgen hatte; da er nicht daran gedacht hatte, sich das Genick zu brechen, indem er sich durch das Coupéfenster in das Nachtdunkel hinausstürzte ...

Ja, wozu? Denn ich begreife jetzt das verblüffende Geheimniß dieser Haltung; ich hatte die Erklärung dieser überwältigenden Gewissenslosigkeit gefunden:

Herr Emile Ollivier hatte Alles vergessen!

Angesichts eines so seltsamen pathologischen Phänomens beruhigte sich mein Zorn plötzlich und mit sanfter Stimme, wie man zu Kranken und armen Narren spricht, sagte ich zu ihm:

– Vorwärts! ... Nun ist es Nacht geworden ... Wickle Dich in diesen Plaid, strecke Dich auf den Polstern aus; vor Allem schweige ... und schlafe!

Gestern folgte ich in den Alleen Herrn Emile Ollivier, der mit Herrn d'Haussonville spazieren ging ... Er war sehr aufgeregt ... Und ich vernahm, wie er wiederum die fürchterlichsten Unglücksfälle Frankreichs vorhersagte:

– Ich sage Ihnen, mein bester Kollege, in kurzer Frist gibt es eine Zerstückelung des Vaterlandes ... des Vaterlandes!

– Wir brauchen einen König! erklärte d'Haussonville.

– Nein, entgegnete lebhaft Emile Ollivier, wir brauchen einen Kaiser.

Und Herr d'Haussonville erklärte freundlich vermittelnd:

– Einen Kaiser-König ...

In wiederholten Ansätzen – denn seine Worte drangen nicht sämmtlich bis zu mir – rief Herr Emile Ollivier mit kreischender Stimme:

– Des Vaterlandes! Des Vaterlandes!

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