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In einem Hof

Rocky ließ sich melden und wartete dann im Vorzimmer eine ganze Stunde, denn selbst zu dieser späten Abendzeit ging es im Hauptquartier sehr geschäftig zu. Chinesische Herren gingen ab und zu, alle in den Gehrock und die schlappenden schwarzen Hosen gekleidet, die sie nicht zu tragen verstanden. Hohe Offiziere schlüpften sachte ein und aus – in Khaki, mit der weißen Binde der Revolution am linken Arm; zuweilen statt dieser auch nur mit einem umgeknüpften Taschentuch. Ordonnanzen und Boten kamen und gingen, und Schreiber von unermüdlicher Geduld saßen an den Pulten.

Es war für Rocky eine schwierige Stunde. Es kamen sogar Augenblicke, wo er nicht wußte, warum er gekommen sei; aber dennoch dachte er nie daran, die Sache aufzugeben. Wie seltsam auch ihre gegenseitigen Beziehungen sein mochten, er mußte Herrn Doane sprechen, denn dieser war die einzige feste Gestalt in der schwankenden Welt um ihn her.

Natürlich machte er seine Sache etwas jugendlich, als er endlich eingelassen wurde. Er sagte, und wurde rot dabei:

»Ich weiß, Sie sind sehr beschäftigt, Herr Doane –«

»Für Sie habe ich Zeit. Ich ließ Sie warten, um erst eine Menge dringender Sachen zu erledigen.« Des Mannes Körpergröße und seine große Gelassenheit – ob er wohl je in seinem Leben müde und angegriffen gewesen war? – wirkten beruhigend.

»Ich – ich schiffe mich Samstag ein«, sagte Rocky.

Das ernste, wenn auch gütig blickende Gesicht erstarrte für einen kurzen Augenblick.

»Sie sehen, Herr Doane, ich habe das Gefühl, es sei am besten für mich, wenn ich heimkehre und – einen ganz neuen Anfang mache.«

Ein leichter Schleier legte sich über Doanes Augen. In welchen Zwiespalt war der junge Mann geraten und wie prächtig kämpfte er sich durch!

»Ich – ich konnte nicht abreisen, ohne Sie noch einmal zu sprechen. Sie sehen, Herr Doane, ich glaube, Sie sind es gewesen, der mich auf die Füße gestellt hat. Ich – ich – nun, Sie sollen wissen, daß ich darauf stehe. Es war ein seltsames Erlebnis von Anfang bis zu Ende. Ein schreckliches Erlebnis, natürlich. Es erschüttert einen …«

»Mich hat es auch erschüttert«, bemerkte Doane einfach.

»Ich weiß. Das heißt, ich übersehe dies alles jetzt viel klarer. Ich wollte davon reden – es ist dies eines von den Dingen – aber zuerst – Herr Doane, wollen Sie mir schreiben? Gelegentlich? Ich meine, würden Sie – könnten Sie die Zeit finden, mir zu antworten, wenn ich Ihnen schreibe? Sehen Sie, es wird drüben für mich nicht leicht sein. Ich werde gänzlich außerhalb meines alten Umgangs stehen – und außerhalb meiner Familie. Kein einziger von ihnen wird begreifen, was ich will. Nein, kein einziger. Und wenn man der Sache auf den Grund geht, so kommt es auf die Frage heraus, ob das Ding mich schmeißt oder nicht. Aber –« er richtete sich hoch auf – »ich glaube nicht, daß ich mich schmeißen lasse.«

»Nein«, sagte Doane. »Es wird Sie nicht werfen.«

»Ich werde China nie mehr von mir abschütteln können. Es hat mich gepackt, und doch weiß ich noch nichts darüber. Natürlich werde ich darüber lesen und es studieren.«

»Ich werde Ihnen gelegentlich Bücher schicken.«

»Und ich weiß, ich komme eines Tages hierher zurück. Sie wissen, ich werde viel Geld haben.«

»Eine große Verantwortung, Rocky.«

»Ich weiß; ich fange an, das einzusehen. Aber – ich weiß, daß Ihnen dies alles einen sehr jugendlichen Eindruck machen wird – aber ich fürchte, ich werde mich gelegentlich auf Sie stützen –«

»Schreiben Sie an mich zu solchen Zeiten.«

»Schön. Das werde, ich tun.«

»Es steckt eine erstaunliche Gesundheit im amerikanischen Volk. Was Amerika aber nötig hat, das ist Schönheit – nicht das bewußte ihr Nachlaufen von ernsten und irregeführten Gesellschaftsdamen, sondern das feine Gefühl für die Schönheit an sich. Schönheit – und Einfachheit – und Geduld – und Duldung – und Glaube. Der Reichtum hat zur Zeit den Glauben zerstört. Es ist einfach zu viel Geld vorhanden! Aber Sie werden sehen, die Gesundheit wächst überall. Lassen Sie sich ruhig und geduldig auch damit wachsen. China hat einen großen Eindruck auf Sie gemacht, aber wenn ich Sie wäre, würde ich dies alles einfach sich selbst überlassen. Kümmern Sie sich nicht darum, was Sie vielleicht nächstes Jahr oder in zehn Jahren fühlen werden. Mag sein, China – mag sein, Amerika hat dann bei Ihnen die Oberhand. Arbeiten Sie nur und lassen Sie sich innerlich wachsen.«

An der Tür drückten sie einander warm die Hand. Und nun kam Rocky endlich zur Sache:

»Herr Doane, was ich hauptsächlich sagen wollte – ich habe Hui Fei heute nachmittag gesprochen, und –«

Doane schwieg, drückte aber Rockys Hand fester.

»– und wir haben alles durchgesprochen. Sie weiß, ich – gehe zurück. Und – das ist es … Sie verzeihen mir, wenn ich … Ich meine, Sie sollten sich die Zeit nehmen, zu ihr zu gehen. Sie wundert sich augenscheinlich – ich weiß nicht recht, wie ich das alles sagen soll. Sie wissen, was ich gefühlt habe – was ich fühle … Natürlich, man muß den Tatsachen ins Gesicht sehen. Ich hoffe, ich bin Mann genug dazu.« Jetzt wurde seine Stimme unsicher. »Ich bin für sie nicht der – der Richtige und bin es nie gewesen. Sie war heute sehr lieb, aber … Ich meine, Sie sollten sie besuchen. Oh, ich bin überzeugt, es ist durchaus nicht nur der Wille ihres Vaters …«

Ohne irgendein Gefühl, von Herrn Doane unfreundlich behandelt worden zu sein, befand sich Rocky vor der Tür und nahm in einiger Verwirrung vor all den geduldigen Schreibern und der wartenden Menge im Vorsaal Abschied von ihm. Mit einem warmen Gefühl von Bewunderung und Freundschaft im Herzen ging er ins Hotel zurück. Es würden – das wußte er jetzt schon – trübe Stunden kommen, wahrscheinlich bittere Stunden in dem langen Kampfe, der ihm bevorstand. Aber diese Unterredung würde ihn stärken.

* * *

Auf Doane hatte des jungen Mannes Mitteilung einen beinahe vernichtenden Eindruck gemacht. Sein Inneres war auf Glück gar nicht eingestellt, und die Arbeitshetze, in der er stand, war für ihn ein Segen. Er schrieb während dieser Nacht und des folgenden Tages in Gedanken unzählige Briefchen an Hui Fei – alles Vorwände für einen Besuch, der gar keinen Vorwand nötig hatte. Und der Tag verging. Er war befangen und empfand eine innere Hemmung, die Sachlage überhaupt für glaubhaft anzusehen. Und er hatte keine Zeit mehr zu verlieren; er wurde sich bewußt, daß er bald Hui Fei und auch vielleicht den Witherys gegenüber eine triftigere Erklärung für sein Schweigen als nur die drängende Arbeit vorbringen müßte. Er mußte sich immer wieder daran erinnern, daß das Mädchen hilflos sei und er der einzige Vormund, dessen Autorität sie anerkennen könne. Sein Verstand sagte ihm immer wieder, daß sie das Geld nicht anrühren werde, das er zu ihrer Verfügung gestellt hatte. Sie würde warten.

Es war sein alter Freund Henry Withery, der ihn endlich zum Entschluß brachte, indem er am Samstagnachmittag erschien, fest entschlossen, Doane zum Abendessen mit nach Hause zu nehmen.

»Es hat gar keinen Zweck, daß du dich hier zu Tode arbeitest, Grig«, sagte er. »Denke daran, wir haben dich noch keine zehn Minuten gehabt, und wir müssen doch auch über die Zukunft dieses Mädchens reden. Sie ist sehr lieb und geduldig, aber es ist nicht zu verkennen, daß sie auf dich wartet.«

Withery wußte nichts von der seltsamen persönlichen Beziehung, die zwischen seinem und Hui Feis Leben bestand, das ging aus seinem Benehmen deutlich hervor. Blieb noch die Frage, ob Frau Withery etwas wußte? Doane kämpfte immer noch wie mit einer eingewurzelten Gewohnheit mit dem Gedanken, er müsse das Mädchen von der ihr auferlegten Verpflichtung freimachen.

Aber auch Frau Withery hatte keine Ahnung; sie war ganz ihr altes unbefangenes Selbst. Nach dem, wie sie sich gab, hätte er Hui Feis Vater sein können. Er kam sich wie ein Verschwörer vor.

Für des Mädchens Schweigsamkeit war ihres Vaters trauriges Ende Erklärung genug. Sie trat ihm jedoch mit einem freien Händedruck ganz unbefangen entgegen.

Es war ein recht angenehmes Familienabendessen. Selbstverständlich war von der Revolution die Rede; zu Anfang jenes Novembers wurde in Schanghai von nichts anderem gesprochen. Hui Fei hörte ruhig, mit ernstem Gesichtsausdruck zu. Sie hatte stets einen sehr weiblichen Eindruck gemacht, sah aber in ihrer westlichen Kleidung noch viel zarter weiblich aus. Sie war schlanker geworden, und ihr Gesicht war ein vollkommenes Oval unter ihrem glatten dunklen Haar. Ihre dunklen Augen heftete sie auf den jeweiligen Sprecher. Doane fand einige Male, daß ihre Blicke nachdenklich auf ihm ruhten.

Nach dem Essen legte Frau Withery mit einem Blick auf ihren Gatten liebevoll die Hand auf Hui Feis Schulter.

»Meine Liebe!« sagte sie voll freundlichster Teilnahme; »Herrn Doanes Zeit ist kostbar. Sie sollten diese Gelegenheit ergreifen. Ihre Angelegenheiten mit ihm zu besprechen. Ich habe allerlei hier im Zimmer zu tun – wie wäre es, wenn Sie mit ihm hinaus in den Hof gingen?«

Ohne ein Wort zu erwidern, gingen sie zusammen hinaus und standen neben einem knorrigen Baum, dessen Äste sich auf das Dach legten. Das lange Schweigen, das nun folgte, war bis jetzt der schwierigste Augenblick. Doane hörte sich selbst schwer atmen. Aus Hui Fei fühlte er die gelassene orientalische Geduld heraus, die unter all ihrem westlichen Wesen verborgen lag. Sie wartete einfach, bis er reden würde.

Mit angehaltenem Atem sah er zu ihr nieder; hier draußen im Halblicht sah sie zart und zerbrechlich aus. Er kämpfte mit all seiner Kraft und Erfahrung gegen die heißen, süßen Gefühle, die ihm den Verstand benebeln wollten.

»Meine Liebe –« fing er an und stockte dann, als sie offen zu ihm aufblickte. Er hatte gar nicht beabsichtigt, mit solch einer Redensart anzufangen. Nun fuhr er fort: »Ich frage mich, wie ich Ihnen wohl am besten helfen und beistehen könnte. Wäre ich jünger, so wäre ich nicht im Zweifel, was ich Ihnen zu sagen hätte.« Höchst unbeholfen klang, was er sagte.

»Ich muß viel an das denken, was man von Ihnen erzählt«, sprach Hui Fei mit leiser, aber klarer Stimme, diesmal jedoch ohne aufzusehen. »Ich beneide Sie fast, daß Sie so helfen können.«

»Es muß schwer für Sie sein, mit all Ihrer inneren Anteilnahme, hier so ruhig zu sitzen.«

»Mein Herz ist mit dabei«, sagte sie. »Ja, es ist nicht sehr leicht.«

So kamen sie nicht weiter! Mit einem tiefen Atemzug machte sich Doane zum Herrn der Lage. Früher oder später mußte das doch geschehen.

»Liebe Hui«, sagte er jetzt, sehr ruhig, aber offen und geradezu; »wir sind beide in einer schwierigen Lage. Wir können nur das eine tun, nämlich so offen als möglich sein. Ich habe Ihren Vater lieben lernen –«

Nun blickte sie auf, und in ihren Augen funkelte etwas, als das Licht hineinfiel.

»– aber wir können seinen Wünschen nicht ohne weiteres blind gehorchen. Wohl hat er den Westen gesehen und empfunden, allein er ist als ein Mandschu gestorben.«

Ihre Lippen hauchten nur das eine Wort: »Ja!« Ihr Gesichtsausdruck war rührend, voll ernster Bewegung, die sie ihm offenbar gar nicht zu verbergen bemüht war.

»Und ich bin überzeugt, Sie werden mich begreifen, wenn ich Ihnen sage, daß ich sein Vermächtnis nicht annehmen kann.«

Jetzt setzte sie ihn mit der zwar leise gesprochenen aber direkten Frage: »Warum nicht?« in Erstaunen.

»Meine Liebe –« er fand es recht schwierig, fortzufahren.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Das konnte er kaum mehr verstehen. Er mußte sich zu ihr niederbeugen: »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

»Können Sie nicht, meine Liebe – haben Sie nicht ein klares Bild vor Augen – sehen Sie nicht Ihren Weg vor sich? Vergessen Sie nicht, ich bin immer zur Hilfe da – wenn ich helfen kann. Es ist mir von der größten Wichtigkeit, stets Ihr bester Freund zu sein.«

»Ich möchte mit Ihnen arbeiten!« flüsterte sie.

»Das habe ich nicht gewagt, für möglich zu halten«, erwiderte er nachdenklich.

»Wollen Sie mir das erlauben?«

»Ja. Aber die Sache muß klarer sein.« Wieder wußte er nicht recht weiter. »Es liegt noch ein so großes Stück Leben vor Ihnen. Sie sollen sich klar sein, liebes Kind, daß, wohin auch Ihr Herz Sie führen mag, Sie sich immer auf meine treue Freundschaft verlassen können.«

»Ich will …« Er konnte ihre Worte nicht verstehen und beugte sich darum tiefer zu ihrem lieblichen Gesicht herunter. »Ich will Sie heiraten.«

Atemlos standen beide voreinander. Zaghaft stahl sich ihre Hand in die seine und schmiegte sich innig an.

»Das ist es –« ihre Stimme klang jetzt ein klein wenig kräftiger – »es ist sonst gar keine Möglichkeit. Ich meine alles, was Sie denken und tun und glauben. Wir beide stehen zwischen zwei Welten, darum …«

In seinem Kopf dröhnte es wie Glockengeläute an Weihnachten. Allein trotz diesem Überschwang höchster Gefühle sah er plötzlich klar. Das Gewebe ihrer wahren Gemeinschaft mußte erst noch gewoben werden, und dazu mußte er all seine Erfahrung, sein Zartgefühl, seine feine Menschlichkeit mit ins Spiel bringen. Vor ihnen lag das Glück – es war noch kaum zu glauben – und weit breitete sich vor ihnen aus, was ihnen gemeinsam so sehr am Herzen lag. Das versprach einen herrlichen Lebenserfolg.

Und Glück war eine so unendlich wichtige Sache; beinahe wäre es an ihm vorbeigegangen … Er blickte hinauf in die Zweige des knorrigen alten Baumes und lächelte.

Dann führte er Hui Fei zurück ins Haus.

»Seid ihr schon fertig mit eurer Unterredung?« fragte Frau Withery freundlich.

»Es ist alles erledigt«, erwiderte Doane. »Wir heiraten.«

»Und sehr bald«, fügte Hui Fei hinzu.

* * *


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