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An dem Frühstückstisch Seiner Exzellenz, der hinter einem gemalten Wandschirm von sechs Feldern aufgestellt war, standen zwei Sessel aus Rosenholz. Diesen Wandschirm betrachtete der Erste Steuermann, den ein lächelnder Diener herbeigeführt und dann alleingelassen hatte, mit einem ungläubigen Stirnrunzeln. Mit der Mütze in der Hand trat er zurück und studierte die Malerei, eine Landschaft, eine Bergkette darstellend, die sich in großen Massen aus einem sanft leuchtenden Nebelmeer erhob; – eine Szenerie voll Kraft und Schönheit. Viele von den helleren Farben waren in den vorherrschenden Alt-Elfenbeinton, der nach Rembrandtbraun hin abschattiert war, verblichen; im rechten Vordergrund waren die ursprünglichen lebhaften Töne in Rot und Blau noch erhalten. Das Künstlerzeichen in reichem altem Gold war in unfehlbarem dekorativem Instinkt auf einen flachen Felsen gezeichnet.
Doane beugte sich tief herunter und schaute sich eingehend die Art der Pinselstriche an; dann trat er hinter das letzte Feld des Schirmes und untersuchte die Webart des seidenen Stoffes.
»Ah, Sie bewundern meinen Schirm, Griggsby Doane«, sprach eine tiefe klangvolle Stimme. Der Name war englisch ausgesprochen.
Seine Exzellenz trug eine kurze Jacke von blassem Gelb über einem blauen Gewand, beide mit großen Kränzen von Lotosblumen bestickt, in deren Mitte sich glückbringende Zeichen befanden. Sein unbedecktes Haupt war nur an den Seiten rasiert, da die Mitte längst kahl war. Sanft und freundlich aussehend, lehnte er auf seinem Stock und streckte seinem Gast eine runzlige Hand entgegen; sein Lächeln war das aufrichtiger Freundschaft. Das dünne graue Bärtchen, der bescheidene, höfliche Blick, das gelassene Wesen, das alles gab den Eindruck solcher Einfachheit, daß es in diesem Augenblick schwierig war, in ihm den großen Unterhändler zu sehen, der die schwierigen und verworrenen Staatsfragen behandelte, die der Ausdehnungstrieb Japans mit sich brachte, den Mann, der Europa von dem guten Glauben Amerikas während der erregten Verhandlungen über die »Offene-Tür«-Vorschläge John Hays beinahe überzeugte, den Mann, der unter den Eingeweihten in London, Paris und Washington als ein großer Staatsmann und noch größerer Gentleman galt.
»Ich habe zuerst gedacht, es sei ein echter Kuo Hsi«, sagte Doane. Er fühlte stark die ihm erwiesene feine Auszeichnung, die, wie er wohl empfand, auch von ihm großen Takt verlangte.
»Nein, es ist eine Kopie.«
»Das sehe ich. Eine Ming-Kopie – wenigstens scheint die Seide Ming zu sein – der dicht gewebte dicke einzelne Faden. Hätte auch nur die Kette doppelten Faden, so würde ich ohne weiteres auf echte Nördliche Sung geschlossen haben.«
»Sie beobachten scharf, Griggsby Doane. Tsch'uan Schih soll diese Kopie gemacht haben.« Jetzt verriet das Lächeln ungeheucheltes Vergnügen. »Sie sollen auch das Original zu sehen bekommen.«
»Das besitzen Euere Exzellenz auch?«
»Zu Hause in Huang Tschau.«
»Einen echten Kuo Hsi habe ich nie gesehen. Es wäre mir eine große Ehre.«
Jetzt erschienen Diener, die bedeckte Schüsseln brachten. Seine Exzellenz wies dem Steuermann den Platz an, der die bessere Aussicht über den Fluß bot. Eine klare Suppe wurde angeboten, dann folgten geschmorte Muscheln mit Pilzen, gedämpfte Haifischflossen mit Krebsen und Schinken, gebratene Ente mit jungen Kiefernadeln gefüllt und eingemachte Granatäpfel, Baumstachelbeeren und Pflaumen und dazu kleine Täßchen Reiswein.
* * *
Die Unterhaltung verweilte bei den großen Malern der Sung-Zeit und ging davon über zu dem Konflikt im elften und zwölften Jahrhundert zwischen der frischen Lebenskraft des Buddhistischen Gedankens und dem tötenden Formalismus der konfuzianischen Überlieferung.
Und Doanes Gedanken weilten, während er zuhörte oder gelassen sprach, auf dem Wissen und dem Charakter dieses großen Mannes vor ihm, der sich so einfach und so freundlich gab.
»Mein Herz gehört der Sung-Dynastie«, erklärte Seine Exzellenz. »Ich kann nicht ohne Trauer an sie denken.«
»Ja wahrhaftig!« sagte Doane sinnend. »In den Tagen der Tang und Sung war es so, wo die chinesische Seele sich beinahe zur Freiheit durchgerungen hätte.«
»Hätte jener Geist angehalten, so wäre China heute im Besitz von Korea, der Mandschurei und der Mongolei und von Sin Kiang. China müßte nicht heute mit einem wehen Lächeln auf den Lippen das Haupt abwenden, um die Tränen der Schande zu verbergen, während die Russen unsere nördlichen Grenzen verschieben, die Franzosen Tribut von Annam und Yunnam einziehen, die Engländer dieses große Tal des Yangtse-Kiang beherrschen, die Deutschen ihre gepanzerte Faust auf Schantung legen und die Japaner ihre Spione durch unser ganzes Land senden. Einem meiner Landsleute dürfte ich vielleicht mein Herz nicht so frei öffnen, aber Ihnen kann ich sagen, daß seit dem, was Sie das dreizehnte Jahrhundert nennen, in China eine allmähliche Willenslähmung, eine Art politischer Gehirnerweichung eingetreten ist … Sie nehmen einem alten Mann seine Weitschweifigkeit nicht übel? Ich habe China ohne jeden selbstischen Gedanken beinahe fünfzig Jahre lang gedient. Der »Alten Buddha« war ich stets ein ergebener Diener. Wenn es mir auch unmöglich ist, dem neuen Kaiser und der Kaiserinwitwe gegenüber ebenso tief zu fühlen, so gehört dennoch mein Herz immer noch dem Thron und meinem Volke. Wenn ich nicht umhinkonnte, während ich im Dienste meines Vaterlandes in fremden Ländern war, auch im Westen manches als lobenswert zu erkennen, so bin ich dadurch doch kein Revolutionär geworden, kein Verräter an der Regierung meiner Ahnen.«
Es flammte auf in den gütigen Augen, und aus der tiefen Stimme klang innere Bewegung. Er fuhr fort:
»Nein, ich bin kein Verräter. Mein Land hat gelitten und liegt an langer Krankheit danieder. Ihm muß geholfen werden, aber es muß sich auch selbst helfen. Es muß denken, sich erheben, handeln. Meine armen Augen sehen keine andere Hilfe. Auch wenn ich selbst darum leiden müßte, kann ich, wenn ich meinem eigenen Glauben treubleiben will, die nicht bestrafen, die China ebenso innig lieben wie ich, aber der Überzeugung sind, es aufstacheln zu müssen, bis es erwacht aus seinem jämmerlichen sechshundertjährigen Schlaf … Ich bin auch kein Republikaner. China ist nicht so wie Ihr Land. An einen Kaiserthron muß ich glauben. Aber China muß die Ohren überall haben, alles studieren, aus allem lernen. Gedankenfreiheit muß sein. Nicht länger mehr dürfen wir vor unserer alten Bücherweisheit und den Toten anbetend auf den Knien liegen. Wir müssen um uns und hinaus schauen.«
Sie hatten ihre Sessel jetzt an die Fenster gerückt, und blickten in den ziehenden Fluß hinaus.
»Aber Sie, Griggsby Doane, warum sind Sie hier? Das ist nicht das Leben, wofür Sie sich so mühsam und so würdig vorbereitet haben. Ich wußte schon von Ihnen, als Sie noch in Tainan-fu waren. Sie waren ein treuer Diener Ihres Glaubens und kehrten nach dem schrecklichen Jahr des Boxeraufstandes wieder zu Ihrer Arbeit zurück. Und während der Unruhen im Jahr neunzehnhundertsieben, den Kämpfen mit der Gesellschaft des »Großen Auges« in Hansi, haben Sie sich sehr tapfer gehalten. Ich war damals in Sian-fu und war gut unterrichtet. Aber Sie haben nachher den Missionsdienst aufgegeben.«
Mit düsteren Blicken schaute Doane auf den weiten Fluß hinaus. Einen Augenblick schien es, als ob er reden wolle, aber dann preßte er die Lippen wieder fest zusammen.
Seine Exzellenz fuhr fort: »Ich wußte, als die Asiatische Gesellschaft von New York wegen des Wiederaufbaus der Ufer des Großen Kanals in Kiang-fu mit mir verhandelte, daß Sie Tainan verlassen hatten und auch aus der Kirche ausgetreten waren. Sie hatten sogar China verlassen.«
»Das war im Jahr neunzehnhundertneun,« sagte Doane mit der schwermütigen Stimme eines Menschen, der Trauriges laut denkt. »Damals war ich in Amerika.«
»Ja, es war in Ihrem Jahre neunzehnhundertneun. Ich erinnere mich, eine Weile hingen diese Verhandlungen von der Frage ab, wie den lokalen Widerständen zu begegnen sei. Die Unruhen wegen der Ho-Schang-Gesellschaft in Hansi, von denen Sie so genau unterrichtet waren und denen Sie sich so mutvoll entgegengestellt hatten, lehrten uns Vorsicht.«
»Meine Stellung zu diesen Hansi-Unruhen ist nicht richtig aufgefaßt worden, Euer Exzellenz. Ich war nur kurze Zeit dort und war zudem krank damals.«
Der Vizekönig lächelte, gütig, weise. »Sie gingen allein und zu Fuß von Tainan nach So Tung, mitten hinein in die ausbrechende Looker Revolte, und brachten persönlich diese tragische Sache in Ordnung. Und dann gingen Sie, ohne auch nur eine Nachtruhe die fünfundfünfzig Li von Tainan nach Hung Tschan. Und dort wurden Sie vor dem Stadttor überfallen und schwer verwundet und krochen in das Haus eines christlichen Eingeborenen. Und noch schwach und vom Fieber geplagt, eilten Sie die dreihundert Li nach Ping Yang zu Fuß mitten durch die Looker Freischaren in Monsieur Pourmonts Wohnung …«
Den Namen Monsieur Pourmont sprach er französisch aus. Was war doch das für ein merkwürdiger alter Mann, lebhaftesten Geistes, feinfühlig wie ein Jüngling für die raschen Strömungen des Lebens! Gleich überraschend war sein Gedächtnis und die Genauigkeit, mit der er unterrichtet war. Sehr überraschend war es, daß Doanes unbedeutendem Schicksal eine solch große Aufmerksamkeit gewidmet worden war, denn Kang war ein großer Mann und hatte seine Aufmerksamkeit auf vieles zu richten. Daß er ein feiner Dichter war, war allgemein bekannt. Als Kunstkenner und Kunstliebhaber von geschultem Geschmack und gründlichem geschichtlichen Wissen kannte man ihn in ganz China. Und er galt für den reichsten Mann von nicht königlichem Blut.
Nicht ohne eine vorübergehende Bitternis machte sich Doane den Gegensatz klar. Da vor ihm saß gelassen dieser »Gelbe«, der mehr als vielleicht irgendein anderer fähig war, selbst seine Kunstschätze auszuwählen und selber Gedichte zu machen und Staatsdokumente abzufassen; dessen Tagebuch, von dem man wußte, daß er es geführt hatte, unbedingt einen Platz in der Geschichte Chinas finden mußte, wenn es nicht in einem kriegzerrissenen Land verlorenging; ein Mann, der zu gleicher Zeit Fabrikant, Finanzier und Staatsmann war und seit einem Jahrzehnt einen wankenden Thron gestützt hatte. Und dort in der Kabine saß ein großer Weißer, ein so wahrer Vertreter der neuen Zivilisation, wie Kang einer der alten; der sich aber besondere Sachverständige dingen mußte, die die Kunstschätze aussuchten, die dereinst auf seinen Namen und als ein Denkmal seiner Kultur auf die Nachwelt kommen sollten, der sogar einen Schriftsteller damit beschäftigte, etwas zu Papier zu bringen, das er ohne zu erröten als seine »Selbstbiographie« auszugeben beabsichtigte. Denn ein Mann wie Dawley Kane, das fühlte Doane deutlich, kannte nichts als die Macht des Geldes. Sie allein setzte seinen Geist in Schwung, alles andere war Schwindel. Auf der einen Seite hohe Kultur, auf der andern – etwas anderes. Dieser Gedanke nagte an ihm.
Allein Seine Exzellenz war noch nicht fertig:
»Und hier, mein lieber Griggsby Doane, erfuhren Sie, während Sie noch an ihrer Wunde litten, daß alle in Monsieur Pourmonts Compound von ihren Landsleuten in Peking abgeschlossen waren. Und sofort boten Sie sich an, sich allein durch die Looker Linien zu schleichen und Botschaft zu tragen und taten dies auch mit Erfolg … Wundern Sie sich, daß ich, der ich von Ihrer Redlichkeit und persönlichen Kraft gehört hatte, den Herren von New York gegenüber, die die Asiatische Gesellschaft vertraten, dringend den Wunsch aussprach, sie möchten Sie als ihren Direktor in China gewinnen? Wundern Sie sich, daß ich Ihre Ablehnung sehr bedauerte?«
Diese Darstellung war für Doane eine Überraschung.
»Man hat mir allerdings eine Stellung angeboten«, sagte er. »Aber daß Ihr Wunsch dahinterstand, davon wurde mir nichts mitgeteilt.«
Seine Exzellenz lächelte. »Das hätte Ihren Preis in die Höhe treiben können; daran mußte man doch auch denken! Nicht im Osten wird am schärfsten gemarktet, Griggsby Doane. Das habe ich in einem lebenslangen Kampf gegen die Übergriffe der weißen Völker gelernt. Es war während der Besprechungen wegen einer Anleihe für China – Sie erinnern sich vielleicht – es war davon die Rede, uns hundert Millionen Dollar Gold zu leihen. Wenn man Ihre New Yorker Zeitungen las, mußte man meinen, das Geld werde uns aus reiner Menschenfreundlichkeit einfach geschenkt. Aber wissen Sie, was ihre linke Hand tat, während ihre rechte die feine Geste machte, dem daniederliegenden China zu Hilfe zu kommen? Das waren die Bedingungen: Erst wurde eine bedeutende Provision abgezogen – für die Bankiers; und dann brachten sie mit all den verschiedenen Bedingungen, wie das Geld zu verwenden sei – meist zum Ankauf von Eisenbahn- und Kriegsmaterial aus ihren eigenen Werken – das Geld, das wir dann noch zu unsern eigenen Zwecken übrigbehielten, herunter auf fünfzehn Millionen, und dafür mußten wir neue riesige Konzessionen geben – mit einem Federstrich ein wahres Kaiserreich verschenken – und uns neue fremde Aufsicht in unseren eigenen inneren Angelegenheiten gefallen lassen. Und für alle diese geschenkten Vorrechte mußten wir noch die jährlichen Zinsen entrichten und später das ganze Geld – hundert Millionen – zurückzahlen. Es war einfach unerträglich.« Er seufzte. »Aber was soll das arme China machen?«
Doane nickte ernsthaft. »Das habe ich alles gefühlt, als ich mit den Vertretern der Asiatischen Gesellschaft sprach. Natürlich nicht, daß ich sie getadelt hätte. Sie sind ja nur die Vertreter einer großen allgemeinen Richtung. Ich vermochte nicht einzutreten.«
»Warum nicht?« Des Vizekönigs scharfe Augen glitten zu der verschossenen Uniform herunter und blieben dann wieder an dem ausdrucksvollen Gesicht haften.
»Die letzten paar Jahre – ich will die Einzelheiten beiseite lassen – sind für mich – nun, nicht gerade sehr glücklich gewesen. Ich habe mich unsicher gefühlt. Die besten Jahre meiner ersten Mannheit habe ich der Mission gewidmet. Aber dann mußte ich aus der Kirche austreten. Zuerst machte mir schwere Arbeit Freude – ich bin sehr kräftig – aber harte Arbeit allein konnte meine Gedanken nicht befriedigen.«
»Nein … nein.«
»Zuerst meinte ich, die Lösung meiner eigenen Lebensfrage darin zu finden, daß ich den Sprung ins kaufmännische Leben hinein machte. Es war mir hier draußen zum Bewußtsein gekommen, daß ›business‹ in unserer Zeit schließlich doch das natürlichste Gebiet für eines Mannes Tätigkeitsdrang sei.«
»Ja, ganz zweifellos.«
»In diesem Gemütszustand kehrte, ich nach Hause – in die Vereinigten Staaten – zurück. Allein die Sache war unmöglich. Ich bin kein Krämer. Es war zu spät. Ich redete mit alten Freunden, aber nur um die Entdeckung zu machen, daß wir keine gemeinsame geistige Sprache mehr hatten. Vielleicht, wenn ich wie sie jung ins Geschäftsleben eingetreten wäre, hätten sich meine Ideale auch allmählich um den einen Hauptpunkt zu drehen begonnen.«
»Aber Sie sind nun eben nicht ins Geschäftsleben eingetreten«, sagte der Vizekönig. »Sie haben sich einen mühevolleren Lebensweg erwählt, und einen, der Sie jetzt im reifen mittleren Alter ohne die Mittel zu einem angenehmen, tätigen Leben läßt.«
»Jawohl«, stimmte Doane sinnend bei. »Das empfinde ich natürlich auch. Und es ist herb, sehr herb, sein Vaterland zu verlieren. Dennoch …«
Er stockte. Den Ellbogen auf die gekreuzten Knie gestützt, starrte er auf den immer wechselnden Fluß hinaus. Als er wieder sprach, war der bittere Unterton in seiner Stimme verschwunden. Er sprach wie ein Mensch, der einen Verlust erlitten hat, den er nicht begreifen kann.
»Amerika, so wie ich es kannte und mich seiner erinnerte, war ein Land einfacher, freundlicher Gemeinden, ein Land mit ernster Religion und politischer Freiheit. Und solch ein Land einfachen Glaubens hatte ich mich all die vielen Jahre lang, wenn auch nicht immer erfolgreich, hier in China zu vertreten bemüht. Allerdings kamen mir auch beunruhigende Gedanken – Uneinigkeiten in der Kirche, das zügellose Leben so vieler meiner Landsleute hier in den Hafenstädten, die Art vieler unserer großen Firmen, ihre Waren dem Chinesen aufzudrängen. Aber selbst als ich mich genötigt sah, aus der Kirche auszutreten, glaubte ich im tiefsten Herzen immer noch an mein Vaterland.«
Er machte eine Pause, um erst eine leichte Unsicherheit in seiner Stimme zu überwinden. Dann fuhr er fort:
»Darf ich fragen, ob Sie, Exzellenz, bei Ihrer Heimkehr aus Europa nicht ähnliche Schwierigkeiten zu überwinden gehabt haben? Sollten Sie da nicht auch Ihr eigenes Volk mit den Augen eines Fremden betrachtet und Eindrücke bekommen haben, wie sie nur ein Fremder gewinnen kann?«
»Jawohl!« rief der Vizekönig mit tiefem Gefühl. »Das ist, wie ich manchmal gefühlt habe, der schwierigste Augenblick in eines Menschen Leben. Er steht auf dem Gipfel der Einsamkeit, denn keiner seiner Freunde vermag seine Ansicht zu teilen, und keiner ist darunter, der ihn nicht mißverstünde und verurteilte. Und doch bietet ein Land, ein Volk, eine Stadt einem fremden Auge einen bestimmten geschlossenen Eindruck, zeigt klar umrissene Eigentümlichkeiten, die nur so erkannt werden können.«
»Ja, so ist es, Euere Exzellenz. Mein Vaterland hat mich bei diesem ersten überraschenden klaren Blick – ich kann nicht anders sagen – unangenehm berührt. Es war so vollständig anders als alles, was ich gekannt hatte, ein Krämerparadies, ein unglaubliches Durcheinander, ein Rennen und Jagen nach einem Ziel, das ich nicht begreifen konnte.«
Er sprach jetzt nicht nur chinesisch, sondern auch so vollständig in der chinesischen Sprechweise und Redekunst, daß seine Worte beinahe klangen, als ob sie auch aus chinesischem Munde kämen.
* * *
Beide schwiegen eine Weile. Dann fragte der Vizekönig in seiner raschen, sanften Weise: »Warum sind Sie aus der Kirche ausgetreten?«
»Weil ich gesündigt hatte.«
»Gegen die Kirche?«
»Ja, und gegen meinen eigenen inneren Glauben.«
»Wurden Sie aufgefordert, auszutreten?«
»Nein.«
»Wußte man um Ihre Sünde?«
»Ich hatte sie selbst bekannt.«
»Und dennoch hätte man Sie behalten?«
»Ja. Ich hatte das Gefühl, daß mein Vorgesetzter mit sich markten lasse.«
»Er kannte Ihren Wert.«
»Darüber kann ich nichts sagen. Aber er wollte, daß ich mich wieder verheirate. Ich konnte mich darauf nicht einlassen.«
»Wir sind verschieden, Griggsby Doane, Sie und ich. Ich bin ein Mandschu, Sie ein Amerikaner. Sitten und Gebräuche unserer beiden Länder sind völlig anders. Was Sie für eine Sünde halten, erscheint mir vielleicht als erlaubt. Aber auch ich habe ein Gewissen, dem ich gehorchen muß. Ich glaube, ich verstehe Sie. Ihres Gewissens wegen sitzen Sie jetzt hier auf diesem Schiff und in dieser Uniform, ein Mann ohne Vaterland.«
Er schwieg und füllte mit seinen runzligen Greisenfingern von neuem seinen kleinen Pfeifenkopf. Seine Nägel waren kurzgeschnitten wie die eines Weißen. Doane überflog rasch dieses Mannes bewegte Vergangenheit. Er hatte ein Weltbürger werden müssen draußen in der Welt, in die er hinausgesandt worden war von einem Volk, das ganz unmöglich die sich daraus ergebende Änderung in seinen Ansichten begreifen konnte. Da war seine Tochter, die in den vier Studienjahren in Amerika beinahe eine Amerikanerin geworden sein mußte. Auch ihre Zukunft war eine ungelöste Frage. Was konnte ihr Vater hoffen, aus ihrem Leben zu machen in diesem Asien, wo das Weib, wie in Doanes eigenem Vaterlande die Arbeit, nur als Ware angesehen wurde? Unsäglich fesselnd müßte es sein, einen Blick in dieses so gleichmäßig arbeitende alte Gehirn und die Fragen, die es bewegten, werfen zu können. Es liefen allerlei Gerüchte über den Mann um. Seine würdige Gestalt war der Mittelpunkt, um den sich die Leben und Tod bedeutenden Ränke der chinesischen Bürokratie drehten und über dessen Haupt als Damoklesschwert die Macht und Gewalt eines asiatischen Thrones hing …
Leichte Schritte ertönten, und ein schlankes, anmutiges Mädchen erschien in einem Schneiderkleid, das nur in New York gearbeitet sein konnte. Sie war groß wie alle Mandschu von alter Familie; ihr Gesicht war ein beinahe reines Oval, gänzlich ungeschminkt und von sanfter Schönheit, mit breiter Stirne, die sich anmutig hinter die gescheitelten Haare zurückwölbte, mit gebogenen Augenbrauen und beinahe ganz gerade stehenden Augen, die sich kaum um einen Gedanken weniger weit öffneten als die der westlichen Völker, und mit einem eigentümlichen, reizend freundlichen Lächeln.
Als Doane die kleine Hand, die sie ihm reichte, in seiner gewaltigen Tatze hielt und auf sie niederschaute, fühlte er seine vielleicht etwas überreizten Nerven sanft erregt durch ihre prächtige Jugend und Gesundheit. Er überdachte in der raschen Art seines weitschauenden Geistes, welch erstaunliche Veränderung im öffentlichen Leben Chinas es dem Vizekönig möglich gemacht hatte, seiner Tochter ein so stolzes Herz wie das ihre auf den Lebensweg mitzugeben. Diese Veränderung war während der Zeit von Doanes Aufenthalt in China vor sich gegangen …
»Dies ist meine Tochter Hui Fei«, sagte Seine Exzellenz.
»Ich freue mich, Sie kennenzulernen«, sagte Hui Fei.
Sie setzten sich, und das junge Mädchen wurde sofort, wie es in Amerika üblich ist, der Mittelpunkt der Unterhaltung. Von der Forschheit und Unbesonnenheit vieler amerikanischer Mädchen war allerdings nichts zu merken. In reizender Weise erwies sie ihrem Vater töchterliche Ehrerbietung und zeigte den tiefsten Zug ihrer Rasse, die Verehrung für alles, was reifer ist an Jahren und das Recht hat, Unterordnung zu verlangen.
Sie redete hauptsächlich von Amerika, und Doane, der nur gelegentlich eine Bemerkung machte, beobachtete sie und fragte sich, ob wohl hinter ihrer sanften Begeisterung nicht auch ein tieferes Verständnis für ihre gegenwärtige Lage vorhanden sei. Er konnte es nicht mit Sicherheit ergründen. Sie hatte Humor, und als er sie fragte, ob es nicht sonderbar gewesen sei, plötzlich wieder in das alte Leben zurückzukehren, erzählte sie lachend von vielen kleinen Verstößen in Etikettenfragen, die sie gemacht hatte. Ohne Frage war sie ein reizendes junges Mädchen von ausgesprochener Persönlichkeit.
Ein sich tief verneigender Diener brachte eine Botschaft. Der Vizekönig entschuldigte sich und ließ seine Tochter mit Doane allein. Dieser fragte sich, was jetzt wohl die Gedanken des sie beobachtenden Gefolges hinter dem Wandschirm sein möchten. Die Lage war vom herkömmlichen chinesischen Gesichtspunkt aus einfach undenkbar. Allein hier saß er, und ihm gegenüber mit zusammengezogenen Brauen (wie er jetzt bemerkte) saß tief in Gedanken die entzückende Hui Fei.
Mit leiser Stimme sagte sie und schaute dabei über den Fluß hinaus: »Herr Doane, einerlei wie Sie darüber denken, ich muß Sie sprechen. Heut abend. Sagen Sie mir wo. Niemand darf es wissen. Es sind Spione da.«
Doane blickte auf und schaute dann ebenfalls hinaus in die Ferne. Das Mädchen war entschlossen und hatte aufrichtig gesprochen mit dem unüberlegten Mut der Jugend. Natürlich handelte es sich um ihren Vater …
Allein sein Geist war leer; er wußte nicht was denken und was sagen.
»Bitte!« flüsterte sie. »Ich habe sonst niemand. Sie müssen mir helfen. Sagen Sie wo – Vater kommt gleich wieder.«
Und dann hörte Doane seine eigene Stimme gelassen sagen: »Auf Deck ist die einzige Möglichkeit. Im Heck finden Sie eine Art Leiter. Wenn Sie …«
»Ich werde hinaufklettern.«
»Aber ich kann erst gleich nach Mitternacht dort sein.«
Hier kam Seine Exzellenz zurück, und Doane verabschiedete sich. Nach wenigen Minuten kamen zwei Diener Seiner Exzellenz zu ihm in seine Kabine, jeder mit einem lackierten Tragbrett. Auf dem einen stand eine kleine Kiste Tee in rotes, mit goldenen Buchstaben bemaltes Papier gewickelt, das den Stempel der eigenen Teegärten von Kang Yu trug; auf dem andern stand ein Gegenstand von mehr als einem Fuß Höhe, sorgfältig in ein Stück Baumwollzeug gehüllt.
Doane entließ die Diener jeden mit einem mexikanischen Dollar und enthüllte den größeren Gegenstand, den der Diener mit äußerster Vorsicht abgestellt hatte. Es war ein Pi, eine Scheibe Nephrit, reich mit eingeschliffenen Figuren bedeckt und in der vollkommen reinen, grünlichweißen Farbe, die von den Sammlern chinesischer Altertümer so hoch geschätzt wird. Die Scheibe stand auf der Kante in einem Fußgestell aus Rosenholz, mit ganz besonders feiner Schnitzerei. Das Gestell war selbstverständlich aus neuer Zeit; aber Doane betrachtete mit klopfendem Herzen die in den Stein selbst geschnittene Zeichnung. Diese war nicht später als unter der Han-Dynastie, jedenfalls innerhalb der ersten beiden Jahrhunderte nach Christi Geburt ausgeführt worden.