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Reisegefährten

In einer Oktobernacht des Jahres 1911 lag der Flußdampfer »Yen Hsin« vor dem Speicher der »Chinesischen Schiffahrtsgesellschaft« zu Schanghai. Sein schwarzer Rumpf erschien riesenhaft in der Dunkelheit; der weiße Decksaufbau mit einzelnen erleuchteten Kabinen ragte gespensterhaft auf. Hin und her über die Gangplanken liefen Kulis, die an Bambusstangen schwere Kisten und Warenballen schleppten und im Takt mit ihren raschen schlurfenden Schritten rhythmisch sangen.

Während des Abends waren die weißen Fahrgäste allmählich an Bord gekommen und hatten ihre Kabinen aufgesucht, die sich vorne auf dem Promenadendeck befanden und einen Raum einschlossen, der zugleich Speise- und Gesellschaftssaal vorstellte. Hier in diesen engen Raum waren die wenigen zusammengewürfelten Fahrgäste zu einer Art von vorübergehender Kameradschaft eingesperrt, denn der größte Teil des Promenadendecks war für eine chinesische Exzellenz mit großem Gefolge reserviert und abgeschrankt, und die beiden Decks darunter waren übervoll von Ladung und Chinesen der niederen Klassen.

Es war weit über Mitternacht, als der »Yen Hsin« die Trossen einzog und in den engen Kanal des Whangpu einfuhr. Ohne Laterne treibende Sampans beeilten sich, ihm aus dem Weg zu kommen. Mit einem Amerikaner als Kapitän, einem gelben Lotsen und unter Deck schottischen Ingenieuren glitt der Dampfer mit der Flut dahin an überdachten, abgetakelten ehemaligen Opiumschiffen vorbei, die hier verankert lagen, an den sich in nebelhaften Umrissen zeigenden Gebäuden des englischen und amerikanischen Viertels vorüber in den breiteren Wusung hinein. Hier lag ein großer deutscher Postdampfer vor Anker, der vom Vorder- bis zum Hintersteven hell erleuchtet war. Weiter hin lagen drei amerikanische Kreuzer, und noch weiter trieb eine Dschunke mit gerippten flatternden Segeln ohne irgendein Licht, hinten hoch gebaut, gleich dem Gespenst eines mittelalterlichen Kauffahrteischiffs.

»Da zeigt er jetzt seine Lichter!« rief der Kapitän einem wahren Riesen zu, der etwas vorgebeugt neben ihm auf der Brücke stand und auf den Fluß hinausspähte. Dann fügte er hinzu: »Der dreckige Kerl!«

Und wirklich war jetzt auf der Back der Dschunke ein kleines grünes Licht zu erblicken. Gleich darauf war sie hinter ihnen.

Nach längerem Schweigen sagte Kapitän Benjamin zu seinem Ersten Steuermann: »Gehen Sie doch zu Koje, Doane.«

»Vielleicht«, erwiderte der andere. »Ich kriege hier auf dem Fluß viel mehr Schlaf, als ich brauche, und habe allzu wenig Bewegung.«

»Ja, es ist ein verwünschtes Dasein. Sehen Sie mich an, was ich dick bin!« Der Kapitän sprach mit rauher, fast polternder Stimme, im Gegensatz zu der melodischen Stimme seines Ersten Steuermannes. »Ihnen muß der Unterschied noch größer vorkommen – so wie Sie früher gelebt haben. Übrigens, der Sklave des Flusses sind Sie ja nicht.«

»Nein … nicht eigentlich.« Der Erste versank in Schweigen.

An der chinesischen Küste wirft ein achtloses Schicksal die Menschen weißer Hautfarbe bunt durcheinander. Verunglückte sind zahlreich darunter – Männer und Frauen, die irgendwo einmal Schiffbruch erlitten haben, die einen dicken Strich unter ihr früheres Leben machten, oder an einem dunkeln Punkt in ihrer Vergangenheit ständig leiden.

Kapitän Benjamin zum Beispiel hatte im Chinesenviertel von Schanghai eine chinesische Frau mit einem halben Dutzend Kindern – Halbblut – versteckt. Diese Ehe degradierte auch ihn zu einem nur halben Weißen.

Griggsby Doane hatte gleichfalls seine Vergangenheit. Da es für unhöflich gilt zu fragen, wo so viele selbst nicht gefragt sein wollen, wußte man wenig von ihm. Er war einmal Missionar gewesen und kannte China und chinesisches Wesen sehr genau. Dann hatte er Jahre in den Vereinigten Staaten, seinem Geburtslande, verbracht, und war eines Tages in Schanghai wieder aufgetaucht, als einer der Schweigsamsten. Man munkelte, er sei Spion für chinesisches Geld; andere meinten: für amerikanisches. Aber vielleicht war beides richtig? Was wußte man denn voneinander in einem Lande, wo man hundert Cocktails zusammen getrunken haben konnte, ohne auch nur sicher zu sein, daß der Name, den der andere führte, sein richtiger war!

»Wir haben diesmal ein reich assortiertes Sortiment an Bord«, fing der Kapitän an.

»Wirklich?«

»Da ist einmal unser amerikanischer Millionär, Dawley Kane. Hat vier äußere Kabinen genommen. Er hat seinen Sohn bei sich und einen Sekretär und einen Japaner, den er schon früher einmal bei sich hatte. Möchte wissen, ob das eine Vergnügungsfahrt ist – oder ob es bedeutet, daß Kane mit seinen Interessen am Fluß Fuß gefaßt hat. Wohl möglich. Sie wissen ja, 1909 hat er die Cantey Linie erworben. Weiter ist da Tex Connor und sein alter Mitläufer, der Manila Kid, dann zwei Schullehrerinnen von zu Hause und noch ein paar andere. Und Dixie Carmichael – das Luderchen ist auch da. Eine nette Auslese. Und morgen in Nanking kommt Seine Exzellenz an Bord.«

»Kang, meinen Sie?«

»Ja. Man behauptet, er sei nach Peking befohlen.«

»Meinen Sie, er stecke in Schwierigkeiten?«

»Kann ich nicht sagen. Aber ich meine, es sei jetzt nicht die richtige Zeit, es mit diesen politischen Hetzern leicht zu nehmen. Und er soll sie nach allen Seiten haben entkommen lassen.«

Nachdenklich stand der Steuermann da und faßte das Geländer. »Das ist eine schwierige Frage«, sagte er nach einer Weile fast geistesabwesend.

»Das Sonderbare ist, er reist nicht glatt durch. Wir haben Befehl, ihn bei seinem alten Landsitz, diesseits von Huang Tschau, an Land zu setzen. Wir haben dazu die Boote nötig. Sie könnten sie einmal nachsehen.«

»Es ist früher schon in Schanghai über Kang geklatscht worden.«

»Schangai weiß alles mögliche über China und alles verkehrt!« rief der Kapitän erregt. Dann fügte er hinzu: »Haben Sie den jungen Black in der letzten Zeit gesehen?«

Der Erste schüttelte den Kopf.

»Der Generalkonsul hat ihn von Hankau heruntergeschickt, nachdem der alte Tschang seine Eingeborenen-Zeitung unterdrückt hatte. Er behauptet, die Revolution werde noch vor dem Sommer ausbrechen.«

Darauf gab Doane keine Antwort. Auf jeder Fahrt hielt der Kapitän ähnliche Reden. Seine größte Sorge war, die Revolution könnte ausbrechen, während er selbst sich weit droben auf dem Flusse befand.

Alle erfahrenen Beobachter Chinas hatten angenommen, die Dynastie der Mandschu werde die berühmte alte Kaiserinwitwe, das tatkräftige und herrschgewaltige kleine Weib, das durch das ganze Reich nicht ohne einen gewissen Grad von Liebe »der Alte Buddha« genannt wurde, nicht überleben. Sie war zur Zeit dieser Erzählung schon über zwei Jahre tot; das tägliche Leben des Kindes, das jetzt Kaiser war, stand unter der Leitung einer neuen Kaiserinwitwe, jener Lung Yu, gegen die der Regent nicht aufkam, und die mitten zwischen die unendlichen lärmenden Festlichkeiten im Palaste hinein der Regierung in der Politik Maßnahmen diktierte, wie sie ihr gerade in den Sinn kamen. In jenem Jahr war die einzige wirklich mächtige Persönlichkeit in Peking der erste Eunuch, Tschang Yuan-fu, ein gewesener Schauspieler, der Kaiserin anerkannter persönlicher Liebling, der ihren Launen huldigte, den kaiserlichen Schatz um gewaltige Summen beraubte, an Tadlern eine ausgesuchte Rache übte und Prinzen des kaiserlichen Hauses öffentlich beleidigte.

Dies alles war wohlbekannt. Kraft und Ansehen der Mandschu versiegten, und während eine Kaiserin ihre krankhaften Regungen damit kitzelte, daß sie einen Schauspieler wegen einer minderwertigen Darstellung in ihrer Gegenwart peitschen ließ, gärte im ganzen Süden Chinas, von Kanton bis zum Yangtse, in immer steigendem Maße die Revolution.

Das älteste und größte Reich der Erde war wie ein brodelnder Riesenkrater, aus dem schon überall leichte Rauchwölkchen aufstiegen, während sich im Innern heiße, gewaltige Kräfte ansammelten.

Doane, der über diese unberechenbaren Fragen nachgesonnen hatte, sagte endlich: »Wenn dieser Aufruhr für Kang ernstliche Schwierigkeiten mit sich bringen sollte, so könnte dies auch auf Sie und mich von Einfluß sein.«

Heftig fuhr der Kapitän auf. »Irgend jemand muß aber doch die Schiffe fahren, nicht wahr?«

»Wenn sie überhaupt noch fahren.«

Der sehr unpersönliche Ton reizte den Kapitän nur noch mehr. »So, wenn sie überhaupt noch fahren? Sie können das leicht sagen, Sie haben keine kleinen Kinder.«

»Gute Nacht!« rief der Steuermann kurz angebunden, und überließ den Kapitän seinen hin und her irrenden Gedanken.

Langsam fuhr der Dampfer in die weite Bucht des Yangtsekiang hinein, der an dieser Stelle einem großen See gleicht. Sich allmählich nach Nordwesten wendend, begann das Schiff seine weite Reise den gewaltigen Fluß hinauf nach Hankau, von wo an die Fahrgäste entweder einen kleineren Dampfer oder den Expreßzug auf der noch neuen Eisenbahn nach Peking benützen mußten.

* * *

Die Morgensonne stand schon hoch am Himmel. Einzeln und zu zweien erschienen die Reisenden aus ihren Kabinen oder von dem luftigen Deck und setzten sich an den Frühstückstisch. Während sie sich dabei grüßend verbeugen, betrachten sie einander mit versteckter Neugier.

Fräulein Andrews von Indianapolis prallte zurück, als sie den halb besetzten Tisch erblickte und wurde rot. Sie war schlank, ein oder zwei Jahre unter dreißig und hübsch, wenn man so will. So hatte sie sich den Frühstückstisch nicht vorgestellt; nur Männer saßen daran, und sie war schüchtern und von zarter Empfindung. Sie trat rasch in den Gang zurück und entschloß sich, auf ihre Reisegenossin, Fräulein Means aus South Bend, zu warten. Sie konnte doch nicht allein da hineingehen und mit all diesen Männern zu Tisch sitzen!

In diesem Augenblick jedoch ging eine Tür auf und schloß sich wieder; und daherkam gänzlich unbefangen zu Fräulein Andrews Ueberraschung ein schlankes junges Mädchen von anscheinend neunzehn oder zwanzig Jahren in einer blauen Matrosenbluse und einem kurzen blauen Rock und begab sich ohne weiteres in den Speisesaal. Ihr schwarzes Haar war lose im Nacken zusammengefaßt und mit einer schwarzen Schleife gebunden. Ihr bleiches Gesicht mit der schmalen Mundlinie, der geraden Nase, den gebogenen Brauen und den merkwürdig blassen Augen war anziehend zu nennen. Ohne jegliches Zaudern setzte sie sich an den Tisch und beantwortete das zurückhaltende Grüßen mehrerer der anwesenden Herren mit einem leichten Neigen des Kopfes.

Das war die Dame, von der gestern der Kapitän als von dem »Luderchen« gesprochen hatte.

Als Fräulein Means bald darauf erschien, nahmen die beiden Damen ebenfalls Platz. Die Verneigungen der Herren bemühte sich Fräulein Andrews mit einem ebenso gleichmütigen, unpersönlichen Kopfneigen zu erwidern, wie sie es das sonderbare Mädchen in der Matrosenbluse hatte tun sehen. Nebenbei gesagt, bei näherer Betrachtung schien das Mädchen doch älter zu sein.

Zwei der Herren waren Fräulein Andrews bekannt. Sie waren in Schanghai ebenfalls im Astor-Hotel gewesen; es waren die Kanes aus New York, die berühmten Kanes. Der Sohn wurde Rocky genannt – Rocky Kane. Auf ihn warf sie verstohlene Blicke. Er war ein hübscher Junge mit dichten, kastanienbraunen Haaren, deren Locken ganz glatt zu bürsten ihm nicht gelungen war. Aber die besondere Röte seiner Wangen und das nervöse Glänzen seiner Augen, dazu der Ausdruck um seinen Mund, wollten ihr nicht recht gefallen. Im Hotel in Schanghai hatte man sich allerlei über ihn in die Ohren geflüstert. Aber sie erkannte, daß er eine gewisse Sorte von Frauen wohl leicht zu bezaubern vermöge.

Eine Tür öffnete sich, und vom Deck herein kam ein ungewöhnlich großer Mann, der sich beim Hereinkommen bücken mußte. Auf seiner Mütze stand in goldenen Buchstaben: Erster Steuermann. Er nahm oben am Tisch, Herrn Kane senior gegenüber, Platz. Er war fest und breitschulterig, ein herrliches Musterbild kräftiger Mannheit. Und obgleich sein Haar dünn zu werden begann und sein ernstes, ruhiges Gesicht die tiefen Linien der Mitteljahre zeigte, so bewegte er sich doch mit den federnden Schritten eines ganz jungen Mannes. Von allen, die am Tische saßen, war es bei ihm am schwersten zu erraten, welcher Gesellschaftsschicht er angehörte. Mit dieser Denkerstirn und den Manieren eines Menschen, dem überhaupt nur ein feines Benehmen möglich ist, konnte er nichts anderes sein als ein gebildeter Mann – das fühlte Fräulein Andrews – ein amerikanischer Gentleman! Aber seine Lebensstellung … Steuermann auf einem Flußdampfer in China!

Als die beiden Lehrerinnen sich wieder erhoben, schloß Rocky Kane sich ihnen unaufgefordert an und begleitete Fräulein Andrews zu ihrem Deckstuhl. Er ließ es sich nicht nehmen, sie in ihren Teppich zu hüllen, während Fräulein Means in ihre Kabine ging.

»Diese Herbstwinde sind auf dem Fluß ziemlich kühl und scharf,« sagte er. »Aber vielleicht ist es auch dafür im Sommer nicht gar so heiß.«

»Wahrscheinlich,« meinte Fräulein Andrews.

»Ich bin mit meinem Vater ein paarmal hier gewesen,« erzählte er. »Der Fluß wird Ihnen gefallen. Nein, nicht hier unten« – er deutete auf die breite Fläche schmutzigen Wassers und das weit entfernte niedere Ufer hinaus – »weiter oben, über Tschinkiang und Nanking, wo er schmäler ist. Da gibt's allerlei Merkwürdiges zu sehen. Die Häfen sind wundervoll. Sie wissen, wir legen sehr oft an. In Wuhu fahren die Bettler in Zubern heraus.«

»Was, in Zubern!« staunte Fräulein Andrews.

Hier gesellte sich Fräulein Means zu ihnen, ihr Buch über China unter dem Arm; sie lehnte sein Anerbieten, sie einzuwickeln, mit einem sehr deutlich zugespitzten: »Nein, ich danke!« ab.

Nach kurzer Zeit machte er sich davon.

Da sagte Fräulein Andrews: »Hast du ihn nicht ein wenig kurz behandelt, Gerty?«

»Meine Liebe«, erwiderte Fräulein Means, und ihre puritanische Ader hatte vollständig die Oberhand – »dieser junge Mann ist kein Umgang. Durchaus nicht. Ich habe ihn selbst eines Nachts im Astor-Hotel gesehen, wie er in eines jener Chambres séparées ging mit einer Dame, deren Charakter – oder richtiger Mangel eines solchen – unverkennbar war! … Ausgerechnet dort im Hotel … unter den Augen seines Vaters! Das kommt davon, wenn die jungen Leute zu viel Geld haben.«

»Oh!« stöhnte Fräulein Andrews und schaute mit entsetzten Augen zu den Möwen hinaus.

* * *

Mitten am Nachmittag war es, als Kapitän Benjamin zu seinem Ersten sagte: »Tex Connor ist schon wieder an der Arbeit, Herr Doane. Machen Sie doch dem ein Ende! Sie sind in der Kabine des jungen Kane – Nummer sechzehn.«

Nummer sechzehn war die letzte Kabine achtern an der Backbordseite, neben der Segeltuchwand, die die erste Klasse Weiß von der ersten Klasse Gelb trennte, die für den Vizekönig reserviert war. Die Rolladen aus Bambus waren heruntergelassen, und drinnen brannte Licht. Zigarettenrauch drang in dicken Wolken heraus.

Sie machten lange nicht auf. Doane hörte die ihm nicht unbekannte Stimme des Manila Kid entschieden davon abraten. Er mußte wiederholt klopfen. Sie saßen eng zusammengedrängt in dem schmalen Raum zwischen der Koje und dem Ruhebett und hatten ein Brett über den Knien liegen; Tex Connor, der den Hals verdrehte, um sein eines Auge auf den Eindringling zu richten, Manila Kid in seinem karierten Anzug, ein Deutscher vom Zoll und Rocky Kane. Da waren Karten, Spielmarken und ein Haufen Geld, sowohl Gold wie englische und amerikanische Banknoten.

»Was gibt's?« rief Kane. »Was wollen Sie?«

»Lassen Sie das lieber sein,« sagte Doane ruhig.

»Ach, gehen Sie, das ist ja nichts als ein freundschaftliches Spielchen! Welches Recht haben Sie überhaupt, in meine Kabine einzudringen?«

Der Steuermann, der gebückt unter der Türöffnung stand, schaute den jungen Mann nachdenklich an, erwiderte aber kein Wort.

Tex Connor sah noch einmal auf, ergriff dann die Karten und verteilte mit der unheimlichen Gewandtheit eines geübten Croupiers das Geld an seine ursprünglichen Besitzer. Dann schlüpfte er wortlos hinaus, und Doane machte ihm dazu Platz. Verdrießlich ging auch der Deutsche. Manila Kid knipste empört mit den Fingern und folgte hinterdrein.

Auch Doane ging, fühlte sich aber von Manila Kid am Ellbogen gefaßt. Dieser fragte: »Hat Sie Benjamin geschickt?«

Doane nickte.

»Ihr beide treibt's ja gut, Sie und er!«

»Laßt mir diesen jungen Mann in Ruhe,« lautete die gelassene Antwort.

Der magere Kid schaute hinauf in das ernste Gesicht über den breiten Schultern, zauderte und ging. Doane war wieder im Begriff, sich hinauszubegeben, als der junge Kane zu sprechen anhub. Er lehnte sich an die Tür mit den Händen in den Hosentaschen, und seine Augen flammten vor Empörung.

»Die Herren waren meine Gäste!« rief er.

»Ich bedauere, Herr Kane, daß ich mich in Ihre Privatangelegenheiten gemischt habe, aber –«

»Warum haben Sie es dann getan?«

»Der Kapitän erlaubt nicht, daß Tex Connor hier auf diesem Schiff Karten spielt. Wenigstens nicht, ohne daß er vorher entschieden vor ihm gewarnt hat.«

Die Verwirrung im Gemüt des jungen Mannes war deutlich auf seinem Gesicht geschrieben, während seine Gefühle von Zorn in Überraschung und dann in jugendliche Neugier übergingen.

»Oh …!« murmelte er. »Oh …! Tex Connor ist also so einer!«

»Ja, und Jim Watson nicht minder. Der wurde von der Armee auf Manila kassiert und ist jetzt an der ganzen Küste als der Manila Kid bekannt.«

»So, das ist also Tex Connor! Vor drei Jahren hat er dem North End Sporting Club in London präsidiert.«

»Sehr wohl möglich. Ich glaube, man kennt ihn in Paris und in London.«

»Und er ist also gewerbsmäßiger Spieler?«

»Ich habe nicht die Absicht, ihn zu charakterisieren. Wenn Sie aber einen guten Rat annehmen wollen …«

»Ich habe Sie nicht darum gebeten, soviel ich weiß.« Gleich nachdem der junge Mann dies gesagt hatte, änderte sich der Ausdruck seines Gesichts. Er schaute auf zu der Riesengestalt des Mannes, der vor ihm stand und in dessen ernstes Gesicht. Er errötete heiß. »Oh, es tut mir sehr leid!« rief er. »Das hätte ich nicht sagen sollen.« Aber immer noch sprach sich auf dem unreifen Gesicht große Verwirrung aus. Schon allein die Gegenwart dieses riesigen Mannes imponierte ihm in einer Weise, die in gar keinem Verhältnis stand zu Doanes Lebensstellung, so wie der junge Mann diese ansah. Aber grob hätte er deshalb doch nicht zu sein brauchen. »Hören Sie, haben Sie die Absicht, meinem Vater etwas zu sagen?«

»Gewiß nicht.«

»Wird es der Kapitän tun?«

»Das müssen Sie ihn selbst fragen. Wenn Sie aber so weitermachen, werden Sie es nicht lange vor ihm geheimhalten können.«

»Ich weiß nicht – er hat ja so viel zu tun. Den ganzen Tag schließt er sich mit Braker, seinem Sekretär, ein. Das ist der Kerl mit den großen Brillengläsern. Sehen Sie« – Kane lachte in halber Verlegenheit – »mein Vater hat den Zustand erreicht, wo er fühlt, daß er sich vor der Welt rechtfertigen sollte. Ich vermute, er ist der richtige Pirat gewesen, mein alter Herr – Sie wissen schon, Eisenbahnkonzerne gesprengt, Aktienminderheiten an die Wand gedrückt, und solche Machenschaften. Na, eben, was alle andern auch machen, nach dem, was ich über sie gehört habe – gute Freunde von uns noch dazu! Im Geschäft geht das nicht anders, heutzutage. Braker hat zwei Jahre damit zugebracht, des Vaters Autobiographie zu schreiben – komisch, nicht wahr? – und jetzt auf dieser Reise gehen sie sie miteinander durch. Deshalb ist Braker mit dabei, zu Hause ist keine Zeit dafür. Ursprünglich bestand die Absicht, daß Braker mich unterrichten sollte, als ich aus dem College davonging. Aber lieber Gott! …«

»Bitte, entschuldigen Sie mich jetzt«, sagte der Steuermann.

Inzwischen hatte sich Manila Kid an den Kapitän gemacht. »Sagen Sie, Kapitän, warum sind Sie gegen Tex so aufgetreten?« fragte er vorsichtig.

»Ach, lassen Sie mich in Ruhe!« erwiderte der Kapitän mürrisch und kehrte sich nicht einmal um.

»Aber was sollen wir denn die ganze Zeit auf dem Flusse anfangen? Etwa Blindekuh spielen?«

»Das ist mir gänzlich einerlei. Bei manchen Fahrten sind Deckspiele gemacht worden.«

»Deckspiele?« Manila Kid zog die Nase hinauf.

»In der Bibliothek finden Sie eine Menge zu lesen.«

»Lesen! …«

»Dann müssen Sie es eben so aushalten.«

Eine Weile schaute Kid schweigend einem Dutzend Büffel zu, die langsam vom flachen Ufer herunter ins Wasser stiegen, dann bemerkte er: »Tex hat seinen chinesischen Boxer mit an Bord – drunten.«

»Oh – den Tom Sung?«

»Jawoll. Hat Bull Kennedy in drei Runden im Schanghai Sporting besiegt. Soll in Peking und Tientsin auftreten. Geht nachher mit ihm nach Japan.« Er schwieg eine Weile und fügte dann hinzu: »Ich meine, wir könnten zur Unterhaltung ein kleines Wettboxen veranstalten. Das werden Sie doch nicht auch verbieten?«

»Oh, dagegen wäre nichts einzuwenden. Sie können den Gesellschaftssaal dazu nehmen, wenn die Damen nichts dagegen haben. Aber wen wollen Sie gegen ihn aufstellen?«

»Nun, wenn wir an Bord einen jungen Menschen finden könnten, so könnte Tex seinen Chinesen veranlassen, es leicht zu machen.«

»Sie könnten ja Herrn Doane auffordern. Er beklagt sich, er habe zu wenig Bewegung.«

»Der ist ja ziemlich alt – immerhin, ich möchte nicht mit ihm anbinden … Fragen Sie ihn, Kapitän!«

»Ich will mir's überlegen. Er ist ein wenig … Ich kann Ihnen jetzt schon sagen, daß er es nicht tut, wenn Sie ein Schauspiel daraus machen. Wenn er es tut, so geschieht es nur, um mehr Bewegung zu haben.«

»Oh, dann ist alles in Ordnung.«

Der Kapitän nickte. Aber wenn er sich damit der Ansicht des anderen anschloß, es sei alles in Ordnung, so war das eine sehr verfehlte Meinung des Kapitäns. Und er hätte es eigentlich besser wissen müssen! Wenn ein Tex Connor einen gelben Tom Sung mit sich führte – als »seinen« Chinesen, wie Manila Kid gesagt hatte, – dann roch es nach Unrat, auch wenn man nur Tex Connor kannte. Tom Sung aber war seines Herrn würdig. Durchaus würdig!

* * *

Fräulein Means fuhr aus dem Schlafe auf. Es war der zweite Morgen auf dem Schiff, bei Sonnenaufgang. Die Maschinen standen still, aber von außen war ein ungewöhnlicher Lärm zu vernehmen. Trommeln wurden geschlagen, Rohrflöten wimmerten in unheimlichen Dissonanzen, und unzählige Stimmen sprachen und schrien durcheinander; ein plötzliches Krachen ließ auf massenhaft losgelassene Schwärmer schließen. Fräulein Means stützte sich auf einen Ellbogen und sah, daß ihre Zimmergenossin sich gleichfalls im Bett erhoben hatte.

»Was gibt's denn?« fragte sie.

»Ich weiß es nicht«, kam die Antwort.

Dann griffen beide unter erneutem Krachen draußen zu einigen Kleidungsstücken und drängten sich an den Spalt des Vorhanges.

Der Dampfer lag vertäut an einer breiten Kaitreppe, die von einem doppelten Spalier chinesischer Soldaten in verschossenen blauen Kitteln, mit einer Art blauem Turban auf den Köpfen, besetzt war. Der ganze Kai wimmelte von Menschen, von Fahnen, Wimpeln und Bannern in den buntesten Farben, und in der Luft zickzackten Mengen von Drachen.

Nun kam eine große, buntbemalte Sänfte, von acht Trägern getragen, und vor und hinter ihr schritten in Seide gekleidete Mandarine. Weiter hinten kamen noch acht bis zehn Sänften, aber jede nur mit vier Trägern und alle fest verschlossen, und warteten in einer Reihe, bis die Sänfte des »großen Mannes« vorsichtig abgestellt und von den Beamten geöffnet worden war.

Bedächtig, lächelnden Antlitzes stieg der Vizekönig aus. Er war siebzig Jahre oder noch älter und trug einen hängenden grauen Schnurrbart und schmalen Kinnbart, in sonderbarem Gegensatz zu dem schwarzen Zopf.

Sein Kleid war schwarz, und die Brust zierte eine viereckige, in bunten Farben gehaltene Stickerei. Auf seiner seine Würde anzeigenden Kopfbedeckung erhob sich ein riesiger Rubin auf einem goldenen Stiel, und eine Pfauenfeder hing ihm den Rücken hinunter.

Sich nach rechts und links verneigend, bestieg er die Laufbrücke, und die Mandarine folgten. Es waren fünfzehn, jeder mit einem runden Knopf auf seinem Federhut; bei einigen war er von roten Korallen, bei den andern von Saphir und Lapislazuli, Bergkristall, Granulit und Gold.

Eine nach der andern wurden die geringeren Sänften herbeigetragen und geöffnet. Aus der ersten stieg eine dicke Frau von reifen Jahren, reich in über und über bestickte Seide gekleidet, mit Perlenschnüren um Hals und Schultern und mit einem geschminkten Gesicht unter dem hoch aufgebauten Kopfschmuck. Andere Frauen verschiedenen Alters und weniger reich gekleidet folgten. Aus der letzten Sänfte stieg ein junges Mädchen, schlank und zierlich selbst in den sie umhüllenden weiten Gewändern, aber wie die andern dick weiß und rot geschminkt, die Lippen ein roter, vollkommen gezeichneter Amorbogen. Und mit ihr, sie fest an der Hand fassend, kam ein kleines Mädchen von sechs oder sieben Jahren, das fröhlich zu dem großen Dampfer hinauflachte.

Blau gekleidete Diener folgten, wohl hundert oder mehr, und ein Schwärm schwatzender Frauen in weiten schwarzen Hosen, und Kulis – eine lange Reihe von Kulis – mit Kisten und Koffern und Bündeln an den unvermeidlichen Bambusstangen.

Endlich waren alle an Bord, und der Dampfer setzte sich in Bewegung.

»Wer waren wohl all diese Frauen in den Sänften?« fragte Fräulein Andrews.

»Seine Weiber, wahrscheinlich.«

»Oh!«

»Oder Konkubinen. Er muß mindestens ein Fürst sein mit diesem großen Gefolge.«

Fräulein Andrews dachte in aller Geschwindigkeit an Aladin und Marko Polo, an Weiber und Kebsen und sonderbare barbarische Gebräuche, Sitten und Unsitten Asiens, und brachte es dann fertig, in fast natürlichem Ton zu sagen: »Aber diese Frauen hatten doch alle ganz richtige Füße. Das begreife ich nicht.«

Fräulein Means griff nach ihrem Buch über China und schlug nach. Endlich fand sie eine Antwort auf die Frage und rief: »Hier!« Dann las sie vor: »Die Mandschu verkrüppeln die Füße ihrer Frauen nicht.«

Nach längerem Sinnen meinte Fräulein Andrews: »Wir haben doch eine merkwürdige Sammlung von Mitreisenden. Dieses sonderbare schweigsame Mädchen in der Matrosenbluse … das allein reist …«

»Merkwürdig, ja, aber nicht sehr erbaulich«, sagte das nüchterne Fräulein Means.


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