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Seine Exzellenz spricht

Als der Tag anbrach, stand Doane am offenen Fenster in seiner Kabine und blickte schwermütig über die niederen Ufer des Wusung hin. Oben schrie der Laopan seine Befehle, und die Mannschaft sang halb, stöhnte halb ihre Gesänge. Von den Kreuzern herüber ertönten Hornsignale, die Reveille der amerikanischen Marine.

Und dann hörte er andere Laute, irgendwo hier auf der Dschunke – erregtes Flüstern, ein Ton, der wie Schluchzen klang, und dann – ja! – leises Weinen von Frauen.

Er drehte sich um und horchte gespannt. Leichte Füße liefen den Gang entlang, und eine bekannte teuere, aber fast gebrochene Stimme rief seinen Namen. Dann schob Hui Fei seinen Türvorhang zur Seite. Ihr Gesicht war von Tränen überströmt.

Rasch legte er den Arm um ihre Schultern, denn sie schwankte, und ging ohne ein Wort zu sprechen mit ihr in die Kabine Seiner Exzellenz … Dort kniete die kleine Dienerschaft bei dem leblosen Körper, und sie beugten, als Zeichen ihrer Trauer, die Köpfe bis zum Boden …

Doane streckte den Leichnam gerade aus und schloß ihm die Augen … Hui Fei war es, die zuerst die Rolle von Schriftstücken auf dem Tisch bemerkte, und sie legte sie in Doanes Hände. Er sah durch den Nebel, der seine eigenen Augen trübte, daß sie an ihn gerichtet waren: »In die Hände meines teueren Freundes, Griggsby Doane, lege ich diese meine letzten Aufzeichnungen.« Der Name allein war mit englischen Buchstaben geschrieben, mit einer klaren Handschrift, ähnlich der eines fleißigen Schuljungen, der jeden einzelnen Buchstaben sorgfältig zeichnet.

Hui Fei schickte die Dienerschaft in eine andere Kabine hinüber und setzte sich selbst auf den Fußboden neben den großen, kräftigen Mann, der jetzt ohne Zweifel das Haupt dieser seltsam zusammengesetzten Familie war. Sie war nun gefaßter, und Doane hörte sie nicht mehr schluchzen, ja er sah nicht einmal mehr Tränen. Während des schwierigen Augenblicks, wo Rocky Kane unter der Tür erschien und mit verschleierter Stimme teilnahmvoll fragte, ob er etwas helfen könne, lächelte sie sogar ganz sanft und schwach, indem sie verneinend den Kopf schüttelte. Und der junge Mann ließ nach kurzem Zögern die beiden allein.

Doane breitete die Schriftstücke auf dem Boden aus. Das erste, an ihn überschrieben, legte er vorerst beiseite. Dem zweiten, an den Thron gerichtet – »zu Händen Seiner kaiserlichen Hoheit, den Regenten Prinz Tsch'un, sobald es möglich sein wird, ihm in dieser schweren Stunde Chinas diesen unzulänglichen Ausdruck meiner letzten Gedanken zu übergeben« – war ein Zettel angehängt, der »meinen besten Freund, Griggsby Doane«, aufforderte, das Schriftstück mit Nachdenken zu lesen, »damit er die Umstände völlig begreife, in denen ich mich an diesem Ende meines langen Lebens befinde.«

»Ich, Ihr unwürdiger Diener« – so lautete das Schriftstück – »habe mit Tränen und Schmerz das Dekret entgegengenommen, das mir erlaubt, mich aus diesem sorgenvollen Leben in Frieden und Einsamkeit zurückzuziehen ohne die peinlichen Folgen eines Todes von Henkershand. Und indem ich mich demütig Ihrem Willen beuge, erkenne ich, Ihr unwürdiger Diener, vollständig an, daß mein Leben gänzlich in Ihrer Hand ruht, dazu bestimmt, daß darüber verfügt werde, wie es der kaiserlichen Weisheit am besten dünkt. Aber indem ich also meine niemals wankende Ergebung in den kaiserlichen Willen bekunde, muß ich auch den ernsten Gedanken eines Menschen Ausdruck verleihen, der lange über die Übel nachgesonnen hat, die über unser Land gekommen sind, und der es zuzeiten gewagt hat, eine schwache Hoffnung zu hegen, China werde gewisse Dinge, die uns die Geschichte der letzten Zeit gelehrt hat, beachten und einen Weg finden, erfolgreich dem Druck, den andere mächtige Völker auf uns ausüben, zu widerstehen. Denn es ist mein Vorrecht gewesen als ein langjähriger Diener des Thrones, einige dieser andern Völker aus der Nähe zu beobachten und ihre Macht zu erkennen, die sehr groß ist.

Bei einer andern Gelegenheit habe ich, Ihr unwürdiger Diener, mich wissentlich der Gefahr des Todes oder der Gefangenschaft ausgesetzt, indem ich im Eifer meiner inneren Überzeugung gewagt habe, dem Throne gewisse Reformen vorzuschlagen. Es gibt ein Sprichwort, das sagt, der Baum, der sich vor dem Sturm beuge, werde nicht brechen, sondern ein langes Leben haben, und ich habe jederzeit auf ein großes und wachsendes China gehofft. Zu jener Zeit wollten Prinzen und Minister, die dem Throne nahestanden, mich in Anklagezustand versetzen lassen, allein es gefiel Seiner verstorbenen Majestät, mich zu schonen. Darum waren meine letzten Lebensjahre ein Geschenk aus den Händen Seiner verstorbenen Majestät.«

Und nun folgte eine klare, würdige Darstellung von der dringenden Notwendigkeit, bedeutende Reformen einzuführen. Seine Exzellenz rief im einzelnen seine langen Dienstjahre und die ihm dabei gewordenen Ehren und Auszeichnungen ins Gedächtnis zurück. Ruhig lenkte er die Aufmerksamkeit auf die Tatsache hin, daß sich ganz, oder doch beinahe ganz China im Aufruhr befinde, daß der Thron wanke, und daß es eine Beleidigung sowohl der alten wie der modernen Moral und Denkungsart sei, daß die Regierung von verderbten Eunuchen beherrscht werde. Ihm selbst sei es klar, daß ohne eine geschickt organisierte allmähliche, vielleicht sogar rasche Modernisation China von den Fersen gieriger Fremder zertreten werde. Und tief ergreifend war dabei seine Bemerkung, vielleicht werde sein Selbstmord – fern von seinem Stammsitz, nachdem seine großen Besitztümer von Beauftragten der Regierung eingezogen oder von Räubern gestohlen seien, seine eigene Person jedoch vollkommen in Sicherheit, gerade bei den gehaßten Fremden sich befinde – ein letzter Beweis sein von seiner Ergebenheit für den Thron, dem er sein ganzes langes Leben hindurch treu gedient habe.

»Ich flehe die Kaiserin und den Kaiser an, sie möchten des Beispieles unserer großen Herrscher in der Vergangenheit eingedenk sein und Frieden und Barmherzigkeit walten lassen; sie möchten nur solche in den Dienst der Öffentlichkeit stellen, die dessen würdig sind; sie möchten davon absehen, nach denselben Dingen zu streben, die die Fremden wünschen, wodurch China nur noch in größere Not gestürzt würde, dagegen durch ein sorgsames Studium dessen, was in fremden Ländern gut ist, China dazu verhelfen, daß es seinen Kopf hoch erheben könne unter den Völkern und es schließlich zu Glück und Wohlstand zu führen. Dies ist mein letztes Flehen, das Ende und die Krönung meines Lebens.«

* * *

Die Dschunke war auf ihrem Weg den Fluß hinauf und fuhr eben an einem Kriegsschiff vorbei, als Doane mit Lesen fertig war. Wieder waren Hornsignale zu vernehmen. Ein Sonnenstrahl fiel durch das Fenster von buntem Glas und warf einen vielfarbigen Schein an die Wand.

Hui Fei saß regungslos am Boden, die Hände im Schoß gefaltet und mit gesenkten Blicken. Ihr Gesicht war ohne Ausdruck. Sie sah gänzlich asiatisch aus.

Mit einem Seufzer rollte Doane das Schriftstück zusammen und wickelte das Band darum. Das nächste Schriftstück war, wie er jetzt sah, an Hui Fei gerichtet. Wortlos überreichte er es ihr und fing dann an, das seine zu lesen. Das ihrige war kürzer. Als sie fertig war, ließ sie es in ihren Schoß sinken und saß nun wieder regungslos da wie zuvor.

Das an Doane gerichtete Schriftstück lautete:

»Mein Freund Griggsby Doane, trauern Sie nicht um mich und seien Sie überzeugt, daß ich mit der Art meines Endes Ihnen kein Ungemach zufügen wollte. Es ist ja gewissermaßen traurig, daß dieses Ende auf einer gemieteten Dschunke eintreten mußte, statt auf einem Stück geweihten Bodens, wie ich es gewünscht hätte. Aber es blieb keine Wahl. Ich habe gewartet, bis ich von der Sicherheit meiner Tochter überzeugt sein konnte.

Machen Sie dem Magistrat von Schanghai Anzeige von meinem Tode, und sorgen Sie dafür, daß meine Denkschrift sofort an den Thron gesandt wird. Geben Sie meiner Tochter den an sie gerichteten Brief. Es ist mein Wunsch, daß auch Sie diesen Brief lesen, und ich habe sie dahin beauftragt. Ebenso ist es mein Wunsch, daß sie diesen an Sie gerichteten Brief lese. – Kaufen Sie für mich einen billigen Sarg und lassen Sie ihn innen schwarz ausmalen. Die ärmlichen Kleider, die ich trage, müssen genügen, aber ich wünsche, daß die beschmutzten Sohlen meiner Schuhe abgeschnitten werden. Zwanzig oder dreißig Taels genügen reichlich für den Sarg. Ich glaube nicht, daß es notwendig sein wird, eine amtliche Totenschau abzuhalten. Bitte, lassen Sie dem Sarg einen Überzug von Lack geben, damit alle Ritzen ausgefüllt sind, und lassen Sie den Deckel aufnageln, bis der Thron entscheidet, was mit meinen irdischen Überresten geschehen soll. Kaufen Sie dann ein kleines Fleckchen Erde bei dem Tao-Tempel vor den Toren Schanghais und lassen Sie mich beerdigen, sobald es möglich ist. Es ist nicht notwendig, zu überlegen, ob sich nicht eine Gelegenheit bieten könnte, mich in dem Stammsitz meiner Ahnen beizusetzen; jeder Ort ist gut genug für einen getreuen und redlichen Mann.

In meiner Reisetasche werden Sie etwa tausend Taels finden, und auch die wenigen Juwelen, die noch in meinem Heim vorhanden waren. Verkaufen Sie die Juwelen und behalten Sie den Rest, nachdem meine Beerdigungskosten bezahlt sind. Der Laopan dieser Dschunke hat sein Geld erhalten. Das wird er ableugnen und mehr verlangen; aber lassen Sie das unbeachtet.

Bedenken Sie, daß mein Scheiden nichts Sonderbares oder Ungewöhnliches an sich hat; zu sterben ist meine Pflicht geworden. Es mag richtig sein, daß der geschichtliche Thron der Mandschu wankt und fallen wird, aber trotz des Verständnisses für das Gute in der westlichen Zivilisation, das zu erwerben mir vergönnt war, bin ich in meinem Herzen doch niemals abgewichen von meiner Ergebenheit für diesen Thron und der treuen Hingabe an sein Wohl, wie ich es erkenne, und ich gehorche jetzt auch nur einfach dem Befehl meiner Kaiserin und meines Kaisers.

Trauert nicht übermäßig um mich. Ich wünsche Euch allen, meine lieben Freunde und Angehörigen, Glück in dem Leben, das noch vor Euch liegt. Ihnen, Griggsby Doane, vermache ich in der Dankbarkeit und Bewunderung meines Herzens das wenige, was noch von meinen weltlichen Gütern übrig ist, also das Geld, die jämmerlich kleine Handvoll von Edelsteinen, die historischen Gemälde und meine Tochter Hui Fei. Es ist mein Wunsch, daß Sie auf der Stelle heiraten, und daß Sie nach bestem Ermessen alle oder einen Teil der Gemälde verkaufen, um das Geld zu erlangen, das Sie beide nötig haben; weiter ist es mein Wunsch, daß Sie beide liebevoll für das jüngere Kind sorgen. Es wird vielleicht besser sein, sie nach der Art des Westens zu erziehen, aber dies zu entscheiden, bleibt Ihnen überlassen. Was diese Ihre Heirat mit meiner Tochter Hui Fei betrifft, so habe ich mich bemüht, die Meinung, die jedes von dem andern hat, zu ergründen. Sie haben mir die Versicherung gegeben, daß diese Heirat auch Ihr Wunsch sei, und Hui Fei teilt mir mit, daß sie keinen Mann mehr achte und bewundere als Sie. Sie sehen, daß ich dieser Sache nach dem Geiste des Westens nähergetreten bin, und als Folge davon ersehe ich keinen Grund, daß die Heirat verschoben oder meine geliebte Tochter allein und unbeschützt der Gnade und Barmherzigkeit einer gewissenlosen Welt ausgeliefert werden sollte. Ich habe auch ihr von meinem Wunsche Mitteilung gemacht. Was ich Ihnen hinterlasse, ist nur ein sehr unzulängliches Heiratsgut, allein es ist alles, was ich habe. Ich wünsche Euch beiden eine glückliche Zukunft und viele Nachkommen.

Und nun, Griggsby Doane, mein lieber Freund, nehme ich Abschied von Ihnen. Ich mit vierundsiebzig Jahren darf Anspruch auf ein unbeschmutztes Andenken erheben. Mein Stammbaum reicht mehr als siebenhundert Jahre zurück; seit drei Jahrhunderten sind Glieder meines Geschlechts im kaiserlichen Haushalt oder bei der Regierung gewesen, und seit vierhundert Jahren haben wir uns der Landwirtschaft und der Gelehrsamkeit gewidmet. Seit vierundzwanzig Generationen hat meine Familie einen hochgeachteten Namen getragen. Ich sterbe jetzt, damit lebenslange Pflichterfüllung und Untertanentreue ihre Vollendung finden.«

* * *

Langsam ließ Doane dieses Schriftstück sinken. Er vermochte nicht zu sprechen, ja er konnte kaum denken. Hier neben ihm saß immer noch regungslos das junge Weib, das jetzt nach allen Überlieferungen ihres Volkes plötzlich die Seine war.

Als sie sah, daß er mit dem Lesen fertig war, überreichte sie ihm gehorsam ihren eigenen Brief, und er händigte ihr dagegen den seinen ein. So lasen sie beide, und nachdem sie ebenso ruhig die Schriftstücke wieder getauscht hatten, saßen sie wortlos bei der stillen, friedlichen Leiche.

Ganz allmählich klärten sich Doanes Gedanken. Er fühlte, dies war eine Zeit – ja wahrhaftig die Zeit, – wo er all seine Geschicklichkeit, seine ganze Erfahrung und seine volle Charakterstärke zu Hilfe nehmen mußte. Wenn jemals, so mußte er jetzt weise, fest und gütig sein. Sehr sanft nahm er ihre Hand, die leicht in der seinen lag; sie hielt ihre Augen gesenkt.

»Wir wollen daran jetzt nicht denken«, sagte er. »Unsere Gedanken müssen jetzt einzig darauf gerichtet sein, seine Pläne, was die Beisetzung betrifft, durchzuführen. Wenn es uns später nicht als das Beste erscheinen sollte, wirklich alle seine letzten Wünsche zu erfüllen, so wird er vielleicht auf der andern Seite der Schranke verstehen, was er hier auf Erden nicht vollständig verstehen konnte. Aber dies muß ich jetzt sagen – welche Richtung auch Ihr Leben nehmen mag, ich werde nach bestem Vermögen suchen, die Stelle Ihres Vaters auszufüllen. Ich hoffe, Ihr bester Freund sein zu dürfen. Stützen Sie sich auf mich. Lassen Sie mich Ihnen nützlich sein. Und seien Sie überzeugt, daß Sie bei mir jederzeit auf Verständnis rechnen dürfen.«

Ihre schlanken Finger schlossen sich noch einmal fest um die seinen.

»Er war ein wundervoller Vater!« fing sie an und schluchzte auf.

Nun verließ er sie und schickte ihr ihr Mädchen; er selbst ging auf Deck hinauf. Die Sonne stand schon hoch am Himmel. Er blickte nach hinten und sah Rocky Kane zwischen den Blumen auf der Galerie stehen, nicht nach vorwärts schauend der lärmenden, dem Gelde nachjagenden, vergnügungstollen Großstadt entgegen, die der Hauptberührungspunkt zwischen der Kultur des Westens und der des Ostens ist, sondern die Augen nach rückwärts richtend, als suche er noch immer den verlorenen Yangtsekiang seines glühenden Liebesmärchens.

Doane trat zu ihm. Sein Gesicht war tiefer gefurcht als je und zeugte von großer Trauer; aber mit ernster Freundlichkeit sprach er:

»Mein lieber Junge, wir haben sehr Wichtiges miteinander zu besprechen. Wollen wir uns nicht setzen?« Er deutete dabei auf einen Deckstuhl; allein Rocky nötigte ihn, sich selbst darauf zu setzen und ließ sich daneben auf den Boden fallen.

»Es hat sich etwas ereignet, das auch Sie betrifft. Rocky« – es war das erstemal, daß er ihn mit seinem Vornamen nannte, und des jungen Mannes traurige Augen leuchteten einen Augenblick auf, und ein Hauch von Farbe stieg in seine blassen Wangen – »und ich habe das Gefühl, daß ich nicht zögern dürfe, Ihnen davon Mitteilung zu machen. Vor allem erlauben Sie mir, daß ich Ihnen dies vorlese.«

Er hatte vor diesem Augenblick noch gar nicht an die Notwendigkeit gedacht, daß er selbst dem jungen Mann diesen Brief übersetzen müsse. Er hätte viel darum gegeben, wenn die Sache hätte anders als in dieser ganz persönlichen Weise gehandhabt werden können. Aber er fügte sich ins Unvermeidliche und las den Brief auf englisch vor.

Er wagte nicht, dem jungen Mann dabei ins Gesicht zu sehen, konnte aber nicht umhin zu merken, wie diesem die Hände zuckten und wie seine Füße nervös den Boden klopften. Als Doane fertig war, faltete er ruhig das Papier zusammen und steckte es in die Tasche.

Es entstand eine lange und peinliche Stille. Doane suchte sein noch immer verwirrtes Inneres ab nach dem richtigen, dem klaren Wort, allein er konnte es, wenigstens in diesen ersten Augenblicken, nicht finden. Der junge Mann war offenbar ganz vernichtet; aber hinter den verschleierten Augen und den gerunzelten Brauen zog sich ein Sturm der Erregung zusammen, das fühlte Doane. Der mußte natürlich zum Ausbruch kommen, und Doane mußte ihm standhalten.

Aber die ersten Worte, die Rocky fand, klangen fast gelassen.

»So – also, so liegt die Sache!« sagte der junge Mann versonnen.

Doane wartete. Nach einer kleinen Weile sprang der junge Mann auf.

»Ja, aber in Gottes Namen, warum haben Sie mir das nicht eher gesagt!« rief er. »Da haben Sie mich zu Ihnen kommen und Ihnen vorschwatzen lassen! Sie – das ist nicht recht von Ihnen gewesen! Sie haben mich für einen Narren gehalten! – Sie –«

Auch Doane erhob sich, und sie standen nun nebeneinander zwischen den süß und schwer duftenden Blumen. Doane empfand einen Drang, eine gütige Hand auf die schmale Schulter da vor ihm zu legen, aber sein nächster Gedanke warnte ihn, daß in diesem Augenblick jede Berührung verletzen würde.

»Ich habe es Ihnen nicht gesagt, weil ich es, ehe ich diesen Brief gelesen hatte, selbst nicht wußte«, sagte er.

»Aber Sie müssen es gewußt haben! Sie haben es doch gesagt – ihm! Haben ihm gesagt, Sie lieben sie! Wahrscheinlich haben Sie es auch ihr gesagt – hier, unter meinen Augen! O Gott, was war ich für ein Narr! Wären Sie wenigstens redlich gegen mich gewesen!«

»So geht das nicht«, sagte Doane, immer noch ganz ruhig. »Wir müssen uns hierüber aussprechen, aber nicht jetzt – nicht, solange Sie zornig sind.«

»Zornig! Welchen Zweck hätte eine Aussprache? Die Sache ist doch erledigt, nicht wahr?«

»Das weiß ich nicht gewiß.«

»Das ist nicht richtig!« Der junge Mann wandte sich ab, um seine Tränen zu verbergen. »Wenn nicht ihr, so doch ihrem Vater gegenüber haben Sie zugestanden, daß Sie sie lieben … Oh, warum habe ich es nicht gesehen! Warum mußte ich mich so zum Narren machen! … Sie weiß es jetzt. Und Sie wissen so gut wie ich, was sie tun wird. Niemals wird sie etwas gegen den letzten Wunsch ihres Vaters tun – niemals! Das wissen Sie.«

»Ich erkenne an, daß sie die Sache zur Zeit in diesem Lichte sehen wird, aber –«

»Ach, was hilft das Reden! Sie wissen es besser! Um Gottes willen, lassen Sie mich doch allein!«

Doanes Brauen zogen sich langsam zusammen; aber dies und beinahe ein Befehlston in seiner Stimme waren die einzigen äußeren Zeichen von dem Sturm, der in ihm tobte.

»Jetzt ist nicht die Zeit, weder für Sie noch für mich, an uns selbst zu denken. Sie dürfen überzeugt sein, daß Hui Fei dies auch nicht tut. Vielleicht hilft es Ihnen, wenn Sie sich klarmachen, daß für mich die Lage ebenso schwierig ist wie für Sie. Es ist ganz richtig, daß jetzt, unter dem Druck dieses Kummers, Hui Feis einziger Gedanke sein wird, sich jedem Wunsch ihres Vaters zu unterwerfen. Aber dieser Druck wird aufhören. Es bleibt uns nur eines übrig –«

»Aber –«

»Hören Sie mir zu! Und versuchen Sie, der Sache wie ein Mann entgegenzutreten. Wir wollen warten, bis diese traurige Angelegenheit vorüber ist. Wir wollen wenigstens versuchen, nicht mehr an uns selbst zu denken. Ich werde dafür sorgen, daß Hui Fei und ihre Schwester zu guten Freunden kommen.«

»Aber während all dieser Zeit können Sie sie sehen und sprechen, und –«

»Ich muß Sie bitten, weiter zuzuhören und zu versuchen, klar zu denken. Sobald es angebracht zu sein scheint, will ich Hui Fei die Sachlage auseinandersetzen. Ich will versuchen, sie zu überzeugen, daß ihr eigenes Leben im tiefsten Grunde viel wichtiger ist, als selbst der letzte Wunsch ihres sterbenden Vaters. Ich glaube, – sie wäre – glücklicher mit einem jungen Manne wie Sie, als mit einem – älteren Manne. Es ist unmöglich, daß sie dahingebracht werden kann, einzusehen, daß ihr eigenes Glück einen entscheidenden Einfluß auf ihre Wahl haben muß. Haben Sie den Mut und die Geduld, dies abzuwarten?«

Er streckte seine Hand aus. Der junge Mann sah sie an und schaute dann auf in das ernste und dennoch gütige Gesicht; er zauderte; dann riefen seine bebenden Lippen ein lautes und heftiges: »O Gott!« und er stürzte davon. Mit stolz aufgeworfenem Kopf stand er im Bug der Dschunke und starrte zu dem weiten, baumbeschatteten Bogen des Kais von Schanghai hinüber, der allmählich gerade unterhalb der Stadt zum Vorschein kam.


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