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Zur Stunde des Tigers

Spät am dritten Nachmittag saß Rocky Karte unglücklich mit aufgestütztem Kopf in seiner engen Kabine, als er einen leichten Schritt vernahm, wobei jeder Nerv in ihm aufzuckte. Er sprang auf und schob sachte seinen Vorhang zur Seite. Aber sein Gesicht wurde sehr lang, denn es war Dixie Carmichael.

Ihre dünnen Lippen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln, während sie durch den Gang ihrer eigenen Tür zuschritt. Aber als sie eintrat und zugleich zurückblickte, blieb ihr Rock an einem Nagel hängen, und als sie sich bückte, um sich zu befreien, hatte sich eine von den Perlenschnüren losgemacht, riß auf, und mehr als ein Dutzend schimmernder Kügelchen rollte übers Deck, einige davon Rocky fast bis vor die Füße. Er bückte sich – ganz gedankenlos zuerst – hob sie auf und schaute sie sich an; dann trat er vor, um sie zurückzugeben und fuhr unangenehm berührt und etwas erregt zurück, als er sah, daß das Mädchen aschfahl geworden war und ihn mit dem Blick eines wilden und feindlich gesinnten Tieres anstarrte. Sie wandte sich um, blickte verstohlen den Gang auf und ab, und indem sie rasch die übrigen Perlen aufsammelte und sie fest in einer Hand verschloß, streckte sie die andere aus und sagte halblaut: »Geben Sie her!«

Er zauderte in einiger Verwirrung, unfähig so rasch und klar zu denken, wie er selbst fühlte, daß es nötig wäre.

»Was wollen Sie damit anfangen?« fragte er.

»Nicht so laut! Kommen Sie hierher.« Damit deutete sie auf ihre eigene Tür und schob sogar den Vorhang zur Seite, während sie mit dem Kopf kaum merkbar auf die Kabine neben der ihren deutete, wo Hui Fei, wie er wußte, sich zur Ruhe niedergelegt hatte.

»Wo haben Sie die her?« fragte er hartnäckig und mit rauher Stimme.

Es entstand eine lange Pause. Wieder durchirrte ihr verstohlener Blick den Gang. »Kommen Sie lieber herein«, sagte sie sehr ruhig. »Ich habe Ihnen etwas zu sagen.«

Immer noch verwirrt, aber mit dem Gefühl, daß er der Sache auf den Grund kommen müsse, gab er ihrem stärkeren Willen nach.

Sie folgte ihm in ihre Kabine und ließ den Türvorhang fallen. »Geben Sie mir diese Perlen!« befahl sie wieder.

Er schüttelte den Kopf.

Während einer spannenden Minute studierte sie ihn. Sie trat an das durchscheinende Fenster von gemahlenen Austernschalen, das in dem weichen Licht des Nachmittags wie die Perlen in ihrer und seiner Hand opalisierte. Ihr Blick suchte unwillkürlich den großen Flecken auf dem Fußboden, wo Manila Kid vor so kurzer Zeit elend hatte sterben müssen, und ihre rasche Einbildungskraft suchte sich in den Geisteszustand dieser gelassenen Chinesen zu versetzen, die ohne ein Wort die Leiche entfernt und die Stelle sorgfältig gereinigt hatten. Niemand, der sie jetzt Tag um Tag beobachtete, wie sie ruhig ihren Pflichten nachkamen, hätte vermuten können, daß diese so ruhig blickenden Schlitzaugen erst kürzlich jenes Morden gesehen hatten … Was den jungen Mann da vor ihr betraf, so hatte sie jetzt, wo der erste Schreck vorüber war, die feste Überzeugung von ihrer eigenen Geschicklichkeit und ihrem geistigen Übergewicht. Er war noch immer kaum mehr als ein unentwickelter Junge.

»Noch einmal – geben Sie her!« sagte sie mit vollkommen kühler und leiser Stimme.

Er schüttelte den Kopf. »Sagen Sie mir zuerst, wo Sie die herhaben.«

»Wenn Sie entschlossen sind, mir eine Szene zu machen, dann rate ich Ihnen, leise dabei zu sein«, sagte sie. »Sie wollen doch wohl nicht, daß sie – die da drüben – weiß, daß Sie bei mir sind?«

»Ich – ich –« Das war die reinste Jungenhaftigkeit: »Ich habe ihr schon gesagt, daß ich einmal hinter Ihnen her gewesen bin. Davor fürchte ich mich nicht.«

»Dennoch werden Sie kaum wünschen, daß sie Sie jetzt hört.«

Das war leider ganz richtig, und sein Zaudern, während er sich das überlegte und sich auch besann, welche Haltung er einnehmen sollte, währte gerade einen Augenblick zu lang.

»Die Perlen gehören mir!« fuhr sie kühl fort. »Der beste Rat, den ich Ihnen geben kann, ist der, sie mir einzuhändigen und dann zu gehen.«

»Aber –«

»Meinen Sie vielleicht, ich wollte, daß die Leute hier auf dieser Dschunke – oder sonst jemand – erfahren, daß ich sie habe?«

»Ich glaube, Sie haben sie im Palast des Vizekönigs gestohlen.«

»Das natürlich – na, einerlei! Was Sie glauben, ist mir völlig gleichgültig.«

»Wollen Sie Herrn Doane etwas davon sagen?«

»Gewiß nicht. Und Sie werden es auch nicht tun!«

»Warum nicht?«

»Es ist eine Sache, die Sie nichts angeht.«

»Vielleicht ist es meine Pflicht.«

»Hören Sie«, sagte Dixie – er fühlte sich zwar vollständig im Recht, fand es aber schwierig, ihr in die kühlen, blassen Augen zu schauen – »ich meine, ich habe mich sehr anständig gegen Sie betragen. Natürlich hätte ich gut können –«

»Was hätten Sie können?« fragte er rasch.

»Um Ihrer selbst willen, mäßigen Sie Ihre Stimme! Ich sage Ihnen nur dies eine – Sie haben es in Schanghai ein paar Wochen recht toll getrieben.«

»Nun?« Das hatte ihn getroffen, aber er wollte es nicht zeigen.

»Und es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß Sie ihr das alles gestanden haben. Sind Sie so ein Narr gewesen, daß Sie gemeint haben, das werde verborgen bleiben? Hier draußen an der Küste, und vor einer Frau, die so viele Verbindungen nach unten hat wie ich?«

»Da ist nichts, das ich –«

»Hören Sie zu! Ich bin noch nicht mit Ihnen fertig. Sie sind ein ganz gewaltiger Liederjan gewesen. Ich weiß alles. Nein, warten Sie, da ist noch etwas. Ich wußte alles von Ihnen, als Sie mir auf dem Dampfer nachstellten. Damals hätte ich Sie einfangen können und Ihr Leben so mit dem meinen verquicken, daß Sie nie mehr von mir losgekommen wären – nie mehr. Aber ich habe es nicht getan. Sie gefielen mir, und ich wollte Ihnen nicht schaden – damals.«

»Und jetzt wollen Sie das?«

»Es kann notwendig werden.«

»Wenn Sie diese Haltung einnehmen« – er fand es schwierig, verständlich zu reden, denn seine Empörung drohte, in laute Worte auszubrechen – »wahrscheinlich wäre es am besten, wenn ich gleich selbst mit diesen Dingern zu Herrn Doane ginge.«

»Wenn Sie das tun, mache ich Ihren ganzen Lebensweg zunichte!«

»Sie wollten also – Sie wollten –«

»Sie scheinen recht viel zu vergessen.«

»Aber Sie –«

»Ich werde mich bis aufs äußerste verteidigen. Ich habe es Ihnen wirklich leicht gemacht. Sie wissen durchaus nichts von mir und am wenigsten, welchen Schaden ich Ihnen zuzufügen vermag. Sie wären wie ein Kind in meinen Händen. Wenn Sie sich gegen mich wenden, dann fasse ich Sie, und wenn es zehn Jahre dauert. Sie werden niemals vor mir sicher sein. Niemals!«

Unentschlossen schaute er die schimmernden Perlen in seiner Hand an.

»Sie hatten sie in Ihren Rock eingenäht. Da müssen noch mehr sein.«

»Haben Sie etwa die Absicht, mich zu durchsuchen?«

»Nein – aber« … Seine schwarzen Jugendsünden stachen jetzt schmerzhaft nach seinem weich empfindenden Herzen; aber immerhin wehrte er sich einigermaßen dagegen. »Ich gehe zu Herrn Doane. Es ist mir einerlei, was mir geschieht.«

Er machte sogar einen leisen Schritt der Tür zu, blieb dann aber wieder stehen, zauderte und beobachtete sie. Sie machte sich unter ihrer Bettdecke zu schaffen, und er konnte einen schnellen Blick auf eine Ledertasche werfen, die er eigentlich nicht hätte sehen sollen. Sie nahm aus einem Fläschchen zwei grüne Tabletten heraus; dann schaute sie ihm ins Gesicht.

Seinen erstaunt fragenden Blicken gab sie folgende Antwort: »Dies ist ätzendes Sublimat. Diese Tabletten schlucke ich jetzt, – wenn Sie mir nicht die Perlen geben. Wenn Sie meinen Tod auf sich nehmen wollen, dann gehen Sie mit den Perlen zu Herrn Doane. Aber es ist nur in der Ordnung, wenn ich Ihnen vorher sage, wenn Sie das tun – wenn Sie sich in diese Sache mischen – dann ist Ihr eigenes Leben keinen Nickel mehr wert. Man wird Sie schon kriegen und die Perlen auch. Sie sind da in ein größeres Spiel verwickelt, als Sie zu spielen verstehen. Sehen Sie zu, daß Sie da herauskommen, solange es noch geht« – – sie langte hinüber, als sie diese leisen Worte sprach und nahm ihm die Perlen aus der nicht widerstrebenden Hand – »dann werde ich Sie beschützen. Von mir aus können Sie Ihr nettes Mandschu-Mädchen gerne haben. Sie können dann in einer Rickscha umherfahren, alte Tempel anschauen und Stickereien kaufen. In Dinge, die mich nichts angehen, mische ich mich nicht ein.«

»Ich« – er drückte sich die Hand vor die Stirne – »ich muß darüber nachdenken.«

»Vergessen Sie das eine nicht« – sie legte ihm die Hand auf den Arm – »es wird Ihnen niemals gelingen, mir etwas anzuhängen. Ungefaßte Perlen können niemals wiedererkannt werden. Diese hier habe ich tatsächlich« – während eines kurzen, aber für ihre perverse Einbildungskraft unendlich beseligenden Augenblicks schloß sie die Augen und durchlebte noch einmal jene seltsame Szene auf den Stufen des Pavillons; wieder drehte sie in ihrer lebhaften Phantasie den leblosen Körper dessen, der einmal Tex Connor gewesen war, auf die Seite, nahm ihm den wunderbaren Schulterkragen aus Perlen ab und ließ den Körper zurückfallen – »von einem Bekannten, einem alten Freund bekommen. Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Sachen, dann tut Ihnen niemand etwas. Aber vergessen Sie nicht, Sie stehen auf gefährlichem Boden. Schreiten Sie vorsichtig. Verhalten Sie sich ruhig. Und nun gehen Sie!«

* * *

Früh am andern Morgen traf Doane die kleine Prinzessin, die vergnügt auf Deck spielte. Lächelnd setzte er sich zu ihr, und sie kletterte sofort auf sein Knie und plauderte ihm vertraulich in der Sprache der Mandarine von ihren Spielen vor. Er ließ sich in einer Art grillenhafter Laune, die nicht schlecht zu ihrer lebhaften Einbildungskraft paßte, auf ihr Plaudern ein. Er zeigte ihr die umherfliegenden Scharben, die nach Fischen tauchten, und machte sie auf die sich drehenden Pumpenräder am Ufer aufmerksam; und dann erzählte er ihr Märchen – von dem ersten Wasserbüffel und dem verzauberten Reisfeld.

Als Hui Fei heraufkam, guckten die beiden eben zusammen über die Reling. Herr Doane schien eine lange Geschichte zu erzählen, der das Kind gespannt zuhörte. Leise trat sie näher, und nachdem sie eine Weile zugehört hatte, nahm sie lächelnd hinter ihnen Platz. Seine Erzählungen waren offenbar nichts anderes, als eine Übersetzung ins Chinesische von bekannten amerikanischen Kinderliedern.

Hui Feis Augen leuchteten, während sie zuhörte. Herr Doane kannte augenscheinlich fast alle von diesen reizenden Kindergeschichten in Versen und bewies eine überraschende Geschicklichkeit, die chinesischen Ausdrücke dafür zu finden. Was hatte er für einen herrlichen Geist … reich an Kenntnissen wie an Erfahrung, voll gereifter Weisheit und dennoch merkwürdig frisch und spannkräftig! Ihr dünkte das ein junger Geist.

Der kleinen Prinzessin gefiel eine Geschichte immer besser als die andere, und als er schloß, klatschte sie in die Hände. Und Hui Fei stimmte in das Beifallklatschen mit ein und lachte vergnügt, als sie sich erstaunt umschauten.

* * *

Nachher, als das Kind davongelaufen war, um unter den Blumen zu spielen, gerieten die beiden in ein Gespräch, wie sie während der letzten bewegten Tage keines geführt hatten. Zuerst entstanden immer wieder Pausen. Schwermut hatte ihren hellen Sinn getrübt; er empfand es schmerzlich, daß ihr Lächeln erstarb, als die kleine Prinzessin davonlief. In geringer Tiefe lauerte hinter diesen dunklen, gedankenvollen Augen der Kummer.

Sehr bald brachte sie das Gespräch auf ihren Vater; offenbar waren ihre Gedanken immer mit ihm beschäftigt.

»Ich möchte Sie gerne fragen, ob Sie wissen, was er tut«, sagte sie ernst und einfach.

Doane schüttelte den Kopf.

»Er ist länger als einen Tag ganz in seinem Zimmer geblieben. Wenn ich an seine Tür gehe, so ist er freundlich, aber er fordert mich nicht auf, hereinzukommen. Und er sagt mir nichts.«

»Er vertraut sich auch mir nicht an«, sagte Doane.

»Das gefällt mir gar nicht, Herr Doane. Ich weiß, er hält Sie für seinen besten Freund. Er hat keinen andern Freund, der so viel weiß wie Sie. Und Sie haben sein und mein Leben gerettet. Mein Vater ist nicht der Mann, der es an Freundschaft oder Dankbarkeit fehlen läßt.«

Doanes Augen, trotz seines schon beinahe siegreich durchgefochtenen inneren Kampfes, wurden feucht. Aus innerem Drang ergriff er ihre Hand, und ihre schlanken Finger schlossen sich sofort um die seinen. Es geschah wie aus der vertrauensvollen Zuneigung eines Kindes, und das verursachte ihm neue Pein. Und dennoch war sie eine Erwachsene, die den schwierigen Fragen des Lebens bewußt gegenüberstand; aus diesem Gefühl heraus drückte er ihre Hand stärker, als er selbst wußte. Die Gefahr, in der er selbst stand, konnte er sich nicht verhehlen. Das ging nicht; sobald er seine in Fesseln gelegten Gefühle freiließ, konnte er ihr in ihrer schwierigen Lage auch nicht von größerem Nutzen sein als jeder andere, der ihr nachstellte. Bei diesem Gedanken biß er die Zähne zusammen und zog schnell seine Hand zurück.

Sie schaute nicht auf – ihr Blick ruhte auf dem Wasserspiegel. Als einziges Zeichen, daß sie sich dieser sonderbaren kleinen Handlung bewußt geworden war, setzte sie zum Sprechen an und hielt einen Augenblick wieder inne, ehe sie wirklich zu sprechen anhub.

»Ich frage – ich frage mich immer wieder, ob ich irgend etwas tun könnte.«

Wieder schüttelte Doane verneinend den Kopf.

Sie schaute auf und überlegte. Doane schwieg. Dann lenkte er ab:

»Ihr Vater hat zu mir von Ihnen gesprochen als von einem Versuch.«

»Sie meinen mein Leben – meine Erziehung?«

»Er fühlt auch, daß dieser Versuch noch nicht zu Ende geführt ist. Ich muß oft daran denken – an Ihre Zukunft. Sie haben sich merkwürdig dem Geiste des Westens angepaßt und sind dadurch gewissermaßen verpflichtet.«

»O ja«, sagte sie nachdenklich. »Selbstverständlich.«

»Welche persönliche Belange auch zeitweise Ihr Leben in Anspruch nehmen mögen« … näher getraute er sich nicht, auf eine Heirat hinzudeuten – »so habe ich doch die Empfindung, daß Ihr Leben einen starken Ausdruck nach außen suchen und auch finden wird.«

»Ja, – das habe ich oftmals selbst gefühlt. Im College habe ich gerne geredet und habe mich häufig an den Debatten beteiligt.«

»Sie haben einen tätigen Geist, und Sie haben ein schönes Erbe von Ihren Ahnen. Da Sie, wie den Osten, so auch den Westen so gut kennen und auch mit ihm zu fühlen vermögen, so muß Ihr Leben eine Ausströmung nach außen erhalten. Irgendwie.«

»Ich weiß.« Sie schien nachdenklich, und ihre Finger spielten an einem Tau. »Aber ich weiß nicht, was tun. Ich glaube nicht, daß ich gerne unterrichten möchte. Schreiben vielleicht. Oder reden. Das fällt mir sehr leicht.«

»Es gibt eine Arbeit, für die Sie ganz besonders geeignet sind.« Sie blickte rasch auf und wartete gespannt.

»Das ist ein Gedanke, der mir immer wieder kommt; vielleicht weil diese Arbeit wahrscheinlich auch der endliche Ausdruck meines eigenen Lebens sein wird, denn mein Leben ist in einer Beziehung dem Ihren merkwürdig ähnlich. Sie erinnern sich – damals, in jener Nacht, wo wir zuerst miteinander sprachen – auf dem Dampfer –«

»Ich stieg die Leiter hinauf«, flüsterte sie und zupfte wieder an dem Tau.

»– Und wir erkannten, wir stünden beide, Sie und ich« – seine Stimme wurde plötzlich unsicher – »zwischen den beiden Welten.«

»Ja, ich erinnere mich.« Sie sprach so leise, daß er sie kaum hören konnte. »Es ist natürlich wahr.«

»Ja, es ist wahr. Und ich für meine Person fühle jeden Tag mehr und mehr, daß ich die Riesenaufgabe anpacken muß, zu helfen, dem Westen den Osten bekannt zu machen.«

»Das wäre wundervoll!«

»Ich bin zu der Erkenntnis gelangt, daß es der große Mangel in der westlichen Zivilisation ist, daß die Philosophie, die Kunst, mit einem Wort die Kultur Chinas niemals in die unsrige hineinverwoben wurde. Es ist eigentlich sonderbar – wir haben unsere Religion von gewissen primitiven Stämmen in Syrien bezogen. Die christliche Religion lehrt, wie man leben soll, sie läßt aber die Schönheit beinahe völlig unbeachtet. Und dann stellen wir so beharrlich die Persönlichkeit in die erste Reihe. Ich bin zu der Ansicht gekommen, daß unser Westen weniger kraß, weniger materialistisch erscheinen würde, wenn die einzelne Persönlichkeit etwas unterdrückt würde.«

Ein wenig später fügte er hinzu: »Diese Arbeit ist im kleinen natürlich schon angefangen worden. Ein leises Gefühl für den Wert der chinesischen Kultur macht sich hier und dort bemerkbar. Chinesische Dichtungen werden übersetzt, und die Museen strecken die Hände aus nach alten chinesischen Malereien. Aber Überlieferungen wachsen nur sehr langsam, und es wird hundert Jahre dauern, bis sich der Westen Chinas so bewußt ist wie jetzt Italiens, Griechenlands, Ägyptens und selbst des alten Assyriens … Und das muß von dem japanischen Einfluß freigemacht werden – wir dürfen nicht länger das wundervolle reiche alte China durch die japanische Brille betrachten.«

»Und Sie wollen dies zu Ihrer Lebensaufgabe machen?« fragte Hui Fei.

»Ich muß. Ich empfinde allmählich, daß dies das einzige ist, das meinem Leben einen Sinn gibt.«

Es entstand eine Pause. Dann fragte sie plötzlich in einem Tone, den er nicht verstand: »Werden Sie für die Revolution arbeiten?«

»Das ist das nächstliegende – ja. Ich werde meine Dienste anbieten.«

»Glauben Sie, ich könnte irgendwie helfen? In Schanghai meine ich. Ich bin ja ein Mandschu-Mädchen, aber ich stehe nicht auf Seiten der Mandschu-Regierung. Darin stehe ich sogar nicht auf gleicher Seite wie mein Vater.«

»Es ist möglich. Ich weiß es nicht. Wir werden bald dort sein.«

»Wollen Sie es mir sagen – in Schanghai?«

Er nickte. Plötzlich vermochte er nicht mehr zu sprechen. Sie hielt an ihm fest, als sei dies ganz selbstverständlich, allein er wagte nicht, ihrem Benehmen die eine persönliche Deutung zu geben, die sein hungerndes Herz befriedigt hätte. Wie das eines feurigen Knaben eilte es allen Möglichkeiten voraus, und alles, was er tun konnte, war, es von Stunde zu Stunde erneut im Zaume zu halten. Es war schwerer, sie in Schanghai wiederzusehen, als davonzulaufen, wie er halb unbewußt geplant hatte. Aber es war doch etwas, daß sie an ihm festhielt als an einem Freund. Er konnte, er durfte sie nicht im Stich lassen.

* * *

Den ganzen letzten Tag segelten sie über die immer breiter werdende Seebucht. Das bleifarbige Wasser wurde von dem Winde gekräuselt, der die Dschunke rasch ihrem Ziel entgegentrieb. Allein gegen Sonnenuntergang legten sich Wind und Wellen, und von den langen Rudern getrieben, fuhr das Fahrzeug in den Wusung hinein und legte für die Nacht in der Nähe einiger Kriegsschiffe an.

Zwischen diesen Flüchtlingen, Weißen und Gelben, machte sich immer mehr ein Genossenschaftsgefühl geltend, je mehr der Abend voranschritt. Sie hatten Gefahren und aufregende Szenen miteinander durchgemacht. Sie versammelten sich alle auf der Galerie im Heck, plauderten und beobachteten die Lichtsignale der Kreuzer und der Eisenbahnen am Ufer, und jedes träumte dabei seinen besonderen Traum. Sogar Dixie Carmichael, die selbst nicht von Gefühlen angekränkelt war, schloß sich aus Vernunft und Überlegung der kleinen Gesellschaft an. Hui Fei saß zwischen Doane und dem in Geistesabwesenheit schweigenden Rocky Kane. Die lächelnde chinesische Dienerschaft bildete hinter den andern eine Gruppe für sich. Und endlich – obgleich es Brauch ist im Osten, die dunklen Stunden zu verschlafen und mit der Sonne aufzustehen – erschien auch Seine Exzellenz mit dem freundlichsten Lächeln und grüßte mit vor der Brust zusammengelegten Händen.

Doane fühlte in diesem Augenblick, wie sich eine kleine Hand in die seine stahl und sie erregt drückte. Er selbst fühlte sich sehr erleichtert, denn dieser freundlich lächelnde Mann sah nicht aus, als ob er im Begriff wäre zu sterben. Sie boten ihm einen Deckstuhl mit einer Binsenmatte aus Kanton an, und ihr letzter gemeinschaftlicher Abend verfloß angenehm in ruhigem Gespräch.

Nach einiger Zeit forderte Seine Exzellenz Hui Fei und den jungen Kane auf, einige von den Liedern zu singen, deren Töne gelegentlich durchs Fenster zu ihm gedrungen waren. Sie kamen der Aufforderung nach, und Dixie Carmichael stimmte mit einer angenehmen hellen Stimme mit ein. Und endlich war auch Doanes Baß zu vernehmen.

Die Gesellschaft war im Begriff aufzubrechen – Seine Exzellenz war schon hinuntergegangen – als Rocky, durch seinen großen Schmerz zum Handeln aufgestachelt, Hui Feis Hand ergriff.

»Bitte!« flüsterte er. »Nur ein Wort!«

»Jetzt nicht. Ich muß gehen.«

»Aber – es ist unser letzter Abend – ich habe mir Mühe gegeben, geduldig zu sein – in Schanghai ist alles anders – ich kann Sie nicht lassen –«

Aber sie schlüpfte hinweg und ließ den jungen Mann mit seinem Gestammel allein zurück. Nun lehnte er noch lange über der Reling und schaute zu den Lichtern der Kreuzer hinüber. Es war ihm eine Erleichterung, als er Herrn Doane auf Deck erscheinen sah. Während des letzten Tages war es ihm vorgekommen, als ob er in seinem Kampf mit sich selbst Boden verliere. Das aufregende Erlebnis in Fräulein Carmichaels Kabine war, wie ihm jetzt in einiger Verwirrung scheinen wollte, eine Niederlage für ihn gewesen, und darob fühlte er sich sehr unglücklich. Während dieses Abends hier draußen auf der blütenduftenden Galerie hatte er dieses seltsame Mädchen dicht neben sich, das kühl wie ein Kind mit augenscheinlichem Vergnügen die alten, bekannten Lieder sang, als etwas Unheimliches empfunden, als eine finstere Macht. Selbst wenn er mit Hui Fei sprach, hatte ihr Einfluß ihn umhüllt … Das war noch ein Kampf mehr, und er mußte siegreich durchgefochten werden.

Darum erzählte er nun Herrn Doane die Geschichte von den Perlen. Der ältere Mann dachte darüber nach und nickte dabei langsam mit dem Kopf.

»Es ist höchstwahrscheinlich, daß sie diese Perlen in Huang Tschau gestohlen hat«, sagte er endlich. »Sie war mit Tex Connor und Watson zusammen. Aber sie kann immerhin auch eigene Perlen gehabt haben, und wenn sie allein durch eine Gegend reiste, wo Revolution herrscht, war es nur in der Ordnung, wenn sie sie so versteckt hat, wie sie es tat. Es ist auch ganz richtig, daß ungefaßte Perlen nicht leicht wiedererkannt werden können, wenn überhaupt. Und sie ist klug – sie würde sich durch Anklagen nicht einschüchtern lassen … Nein, ich wüßte nicht, was wir tun könnten, außer sie möglichst genau beobachten. Was ihre Drohungen Ihnen gegenüber betrifft, so ist das Unsinn.«

Aber Rocky war es höchst gleichgültig, was diese Drohungen sein könnten. Noch einmal hatte er die beschmierte Tafel seiner Jugend gesäubert und trug den Kopf wieder hoch. Nun vermochte er am kommenden Morgen mit Hui Fei überzeugend zu sprechen.

* * *

Als Seine Exzellenz wieder allein in seiner Kabine war, nahm er aus seiner Handtasche das Buch mit den Vorschriften des Tschuang Tzü, und auf seiner Matratze sitzend, neben dem kleinen Tisch, auf dem ein schwimmender Docht in seinem Schüsselchen Öl brannte, las er sinnend wie folgt:

»Tschuang Tzü sah eines Tages einen leeren, gebleichten, aber unverletzten Schädel auf der Erde liegen. Indem er mit seiner Reitpeitsche darauf schlug, rief er: ›Bist du einst ein Ehrgeiziger gewesen, den seine ungezähmten Gelüste so weit gebracht haben? – oder ein Staatsmann, der sein Land ins Verderben gestürzt hat und selbst in dem Kampf umgekommen ist? – oder ein Elender, der Schande hinter sich zurückgelassen hat? – oder ein Bettler, den Hunger und Kälte getötet haben? – oder hast du diesen Zustand auf dem natürlichen Weg über ein hohes Alter erreicht?‹

Nachdem er so gesprochen hatte, nahm er den Schädel, legte ihn sich als Kissen unter den Kopf und schlief ein. In der Nacht träumte ihm, der Schädel erscheine vor ihm und rede ihn an: ›Du hast wohlgesprochen, Herr. Allein alles, was du gesagt hast, bezieht sich auf das Leben der Sterblichen und auf die Sorgen der Sterblichen. Im Tode ist davon nichts mehr … Im Tode ist weder mehr Herrscher noch Untertan. Der Wechsel der vier Jahreszeiten ist unbekannt. Unser Sein ist nur durch die Ewigkeit begrenzt. Das Glück eines Königs unter den Menschen ist nicht größer als das, so wir genießen.‹

Tschuang Tzü war jedoch nicht überzeugt und sagte: ›Wenn ich Gott überreden könnte, deinem Körper zu gestatten, daß er wiedergeboren werde, und deine Gebeine und dein Fleisch erneuert, so daß du zu deinen Eltern, deinem Weibe und den Freunden deiner Jugend zurückkehren könntest, wärest du dazu nicht willig und bereit?‹

Da riß der Schädel seine Augen weit auf und runzelte die Stirne und sprach: ›Sollte ich ein Glück, größer als das eines Königs, wegwerfen und die Mühen und Sorgen der Sterblichkeit wieder auf mich laden?‹«

Er schloß das Buch und legte seine europäische Uhr auf den Tisch. Dann saß er lange in Betrachtung versunken da. Als die Zeiger der Uhr sich der dritten Morgenstunde näherten, nahm er aus seiner Tasche ein Schreibzeug, ein rotes Buch und ein Fläschchen mit weißen Pillen.

Die Blätter dieses Buches bestanden aus dem allerdünnsten Gold. Auf eines davon schrieb er mit feinem Pinsel ›Immerwährendes Glück‹. Dann riß er das Blatt heraus, wickelte es lose um eine der Pillen – sie bestanden aus Morphium von der bekannten Art, wie es in Japan hergestellt und in großen Mengen nach China verkauft wird, seit der Opiumhandel unterbunden ist – und verschluckte beides. Dann beschrieb er ein zweites Blatt und schluckte es mit einer Pille und noch einmal und noch einmal.

Allmählich überkam ihn ein Gefühl von schläfrigem Behagen, von höchstem körperlichen Wohlbefinden. Seine Pupillen wurden klein wie Nadelspitzen, und der Kopf sank ihm herunter. Sein gebrechlicher alter Körper fiel auf das Bett und lag friedlich da, während sein Geist seiner Bestimmung entgegenging in dem unveränderlichen, immerwährenden Tao.


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