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Nun fuhr die gelbe Dschunke am Landungsplatz der internationalen Schiffsgesellschaften gerade unterhalb der Stadt dahin. Rocky verließ seinen Platz im Bug und ging den Kabinen im Heck des Schiffes zu, ohne auch nur einmal den Blick zu erheben. Mit flackernden Augen und wild irrenden Gedanken, das Herz voll Bitterkeit, schritt er langsam den halbdunklen Gang dahin.
Ein Windzug strich durch ein offenes Fenster, ein blauer Vorhang wehte und enthüllte durch die nun offene Türöffnung Fräulein Carmichael, die in einem Sessel unter dem Fenster saß. In ihrer Kabine war es heller als im Gang. Sie hatte die allbekannte Matrosenbluse und ihren Rock ausgezogen und schien etwas auf ihren Unterrock festzunähen. Einen Augenblick sah sie auf, und ihre Blicke trafen in die des blassen jungen Mannes, der regungslos unter der Türöffnung stand. Der Vorhang wehte zurück, aber im selben Augenblick trat der junge Mann einen Schritt vor und stand nun innerhalb der Kabine.
»Soviel ich weiß, habe ich Sie nicht aufgefordert, hereinzukommen«, bemerkte sie kühl.
Seine Augen schauten starr vor Erstaunen auf die glänzenden Perlenketten, die überall an ihren Kleidern festgenäht waren.
Sie beobachtete ihn scharf mit zusammengekniffenen Augen und saß ganz still, die Nadel genau so in der Hand, wie sie sie aus dem Stoff gezogen hatte. Auf seinem jungen Gesicht lag ein Ausdruck fester Entschlossenheit, den sie noch niemals darauf wahrgenommen hatte. Jetzt sah er ganz seltsam genau wie sein Vater aus; augenscheinlich war auch in ihm eine Spur von dem eisernen Willen der Kanes … Das war ein junger Mann, der ihr Schwierigkeiten zu machen drohte.
»Nehmen Sie diese Perlen ab«, befahl er fest und ruhig.
»Sie befinden sich in meiner Kabine«, erwiderte sie ebenso gelassen.
»Ich nehme diese Perlen mit, wenn ich gehe.«
»Dann werden Sie für mein Leben verantwortlich sein.«
»Ihr Leben ist mir gleichgültig.«
»Aber Ihr eigenes Leben nicht.«
»Darum brauchen Sie sich nicht zu kümmern.«
»Ich habe Sie gewarnt!«
»Stehen Sie auf!«
»Haben Sie die Absicht, sie sie mir mit Gewalt zu nehmen?«
»Ja, wenn Sie sie nicht freiwillig hergeben.« Es entstand eine Pause.
»Selbstverständlich sind Sie stärker als ich«, bemerkte sie überlegend.
Darauf gab er gar keine Antwort.
Ihre dünnen Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln, das so kalt war wie ihr rechnender Verstand. »So« – sagte sie – »wir sind also Feinde.«
Dies schien ihn nicht anzufechten.
»Ich glaube, ich versuche es jetzt mit Weinen und Schreien«, fuhr sie ziemlich außer sich fort. »Ich bin keine schlechte Schauspielerin.«
»Nur immer sich die Seele aus dem Leib geschrien!« erwiderte er.
»Es gibt keinen – lebendigen – Menschen, der beweisen könnte, daß diese Perlen nicht mein Eigentum sind.« Ihre Stimme verweilte auf dem Wort ›lebendig‹ mit einem beinahe zärtlichen Ton der Befriedigung.
Er schüttelte etwas ungeduldig den Kopf. Und sie beobachtete ihn scharf, und ihre raschen Gedanken eilten dahin und dorthin in jeder möglichen Richtung, ob sich nicht irgendein Ausweg zeige. Allein sie wußte, da der blasse junge Mann fest seinen Platz behauptete, daß ihr nur eines übrigblieb. Sie hatte ihn für schwach gehalten, und sie konnte kaum glauben, daß sich ihr Urteil so geirrt haben könne.
»Sie sind grausam gegen mich«, sagte sie leise.
»Stehen Sie auf!«
Jetzt gehorchte sie, und er trat zu ihr.
»Ich hätte nicht gedacht, daß Sie so sein könnten, Rocky. Sie mochten mich doch zuerst gut leiden.« Sie machte mit ihrer Hand eine Bewegung der seinen zu, allein er mißachtete dies vollständig. »Wollen wir uns in Schanghai denn gar nie mehr treffen? Wollen Sie wirklich so – so roh gegen mich sein? … Ich möchte Sie doch wiedersehen!«
»Wollen Sie sie abnehmen?« fragte er. »Oder muß ich es tun?«
Sie wandte sich ihm voll zu, und eine sonderbare Mischung von Leidenschaften spielte in ihren Zügen.
»O mein Gott, Rocky, haben Sie denn gar kein menschliches Herz!« sagte sie sehr leise. »Können Sie einfach hier hereinkommen – in meine eigene Kabine – und mich berauben, ohne auch nur ein anständiges Wort? … Bin ich nicht immer redlich mit Ihnen verfahren? Habe ich mich jetzt nicht gehütet, Ihnen in die Quere zu kommen? Hab' ich das nicht? …«
Sie trat noch näher auf ihn zu, legte ihm ihre dünnen Hände gefühlvoll auf die Schultern und schaute ihm gerade, beinahe ehrlich in die Augen. »Rocky, so können Sie doch nicht sein! …« Jetzt umfaßte sie ihn.
Er griff nach ihren Händen und machte sich ohne Derbheit, jedoch mit seiner jungen Kraft entschieden von ihr los. Sie ließ ihre Arme herunterfallen.
»Ich warte jetzt nicht mehr lange«, sagte er.
»Sie sind hart wie Stein, Rocky.« Ihre Unterlippe bebte, und ihre blassen Augen waren dunkler als sonst und blickten voll Gefühl. Plötzlich drehte sie sich zu der rohen Lagerstatt um und griff unter die Decke nach ihrer Ledertasche. Sie verbarg sie ihm durch ihren Körper, machte sie auf und nahm den dreieckigen Flakon heraus; dann zögerte sie einen Augenblick, um sich die Schließen des Perlenkragens anzuschauen, die mit großen, gutgeschliffenen Diamanten besetzt waren. Es waren fünf solcher Schließen und vielleicht fünfzig von den funkelnden, glitzernden Steinen; sie waren wohl nicht alle ganz gleich an Wert, aber selbst ohne die Perlen stellten sie ein Vermögen dar. Ruhig schloß sie die Tasche und schob sie wieder unter die Decke.
Mit dem eckigen Fläschchen in der Hand kehrte sie sich zu ihm um.
»Ich habe ein Mädchen gekannt«, sagte sie mit einem weit in die Ferne schweifenden Blick; »die hat fünf von diesen Tabletten genommen und lebte dann noch zwei Tage. Sie mußte entsetzlich leiden, weil …«
Er riß ihr das Fläschchen aus der Hand und warf es gegen die Wand, daß es zerschellte. Die grünen Tabletten rollten über den Fußboden.
»Ach, ich kann sie ja nehmen, nachdem Sie gegangen sind«, bemerkte sie.
»Wenn ich gegangen bin, können Sie tun, was Sie wollen.«
»Aber es muß dann doch etwas mit mir geschehen, Rocky. Sie müssen mich an Land schaffen. Und Sie müssen mich beerdigen … Und Sie müssen eine Erklärung meines Todes geben.«
Dies rührte ihn durchaus nicht. Augenscheinlich war er ein Kane, – stark, mitleidlos, ein Mann der Macht und des Erfolges.
Droben knarrte das große, plumpe Segel. Nackte Füße liefen über das Deck. Die näselnden Stimmen der Mannschaft stimmten wieder einen ihrer Gesänge an. Eine Kette rasselte.
»Wir müssen angekommen sein«, sagte sie. »Ich glaube, wir gehen eben vor Anker.« Damit schaute sie zum Fenster hinaus nach einem der abgetakelten Opiumschiffe, die in jenen Tagen dem Kai gerade gegenüber lagen. Endlich kehrte sie sich wieder zu ihm um.
»Gut,« sagte sie jetzt und hob ihre Arme über den Kopf empor. Sofort fing er an, die Perlenschnüre loszutrennen. Das einzige, was dabei gesprochen wurde, war ihre beiläufige Bemerkung: »Es steht also fest, daß Sie Gewalt anwenden. Natürlich wird das noch zur Sprache kommen.«
Sobald er gegangen war, schlüpfte sie rasch in Rock und Bluse. Noch einmal schaute sie nachdenklich die strahlenden Edelsteine an, die ihr geblieben waren, und begab sich dann, kaltblütig ihre Ledertasche schlenkernd, an Deck hinauf, wo bereits die Vorbereitungen zum Ausbooten in Gang waren.
Rocky war sofort auf den Zehenspitzen in Doanes Kabine gegangen; der große Mann mit dem traurigen Gesicht begrüßte ihn mit einem freundlichen Lächeln.
Rocky sagte: »Ich bitte um Entschuldigung, Herr Doane!« – sehr steif, nicht unähnlich einem stolzen jungen Briten – und nahm aus einem zusammengebundenen Taschentuch und aus strotzenden Taschen, selbst aus seinem Hemd über einem enggeschnallten Gürtel – eine ungeheuere Menge ausgesucht schöner, großer Perlen; er legte sie alle in einem Haufen auf das Bett und half dann Herrn Doane, sie in ein viereckiges blaues Baumwolltuch zu packen.
»Sie gehören Ihnen, Herr Doane«, sagte er.
Dann zog er sich zurück mit einem gehaltenen Benehmen, davon sich der ältere Mann sehr bewegt fühlte, und begab sich auf Deck, um zu warten, bis er an Land gerudert wurde.
* * *
Doane fand ein vorübergehendes Unterkommen für Hui Fei und ihre Schwester im Missionshaus bei seinem Freunde Doktor Henry Withery in der Chinesenstadt, er selbst schlüpfte bei andern guten Freunden unter. Rocky ging ins Astoria-Hotel, das damals, im Jahre 1911, ein berühmter Aufenthalt für Touristen, Diplomaten, Militärs, Kaufleute und die begüterten von den übrigen weißen Reisenden war, die von überallher nach Schanghai strömen. Und noch niemals war Schanghai so überfüllt gewesen wie jetzt: von den Tausenden von Reisenden, die nicht weiterkommen konnten und auf Nachrichten von dem einen oder anderen Mittelpunkt der Unruhen warteten; von den amerikanischen, englischen und deutschen Matrosen; von Mandschu-Flüchtlingen, die in die Fremdenniederlassungen strömten, von den Revolutionären, die zopflos, in der ungewohnten europäischen Tracht überall herumstolzierten.
Doane nahm sich die Zeit, in dem Hotel vorzusprechen und eine Botschaft, die Beerdigung Seiner Exzellenz betreffend, zu hinterlassen; er erfuhr aber nicht, daß Rocky, in sein Zimmer eingeschlossen, selbst sagen ließ, er sei ausgegangen, und die freundlichen Zeilen persönlich entgegennahm, die Doane durch den blaugekleideten Diener hinaufschickte. Er erfuhr auch nicht, daß sich der junge Mann sorgfältig für die Trauerfeier angekleidet hatte, um dann zu merken, daß er viel zu erregt war, um daran teilnehmen zu können. Erst verspätet, ein paar Tage nachher fiel es Doane ein, ihm mitzuteilen, wo sich Hui Fei aufhalte.
Einige Tage nach der Trauerfeier war es, daß Doane, seinem Versprechen dem verstorbenen Sun Schi-pi gemäß, den Doktor Wu Ting Fang aufsuchte und der revolutionären Partei seine Dienste anbot. Schon am nächsten Tag war er eifrig an der Arbeit und strengte seinen starken, gut geschulten und erfahrungsreichen Geist an, die Träume und Taten des Jungen China ehrlich und Teilnahme weckend der Presse und den Regierungen der Welt des Westens darzustellen … Und so fand sich Doane, der zuzeiten beinahe seinem eigenen inneren Auge das Weh in seinem Herzen zu verbergen wußte, wieder einmal eingefügt in ein organisiertes Getriebe des menschlichen Lebens. Das Leben hatte ihn eingeholt. Was auch sein persönlicher Kummer sein mochte, die Welt brauchte ihn. In vergangenen Jahren war über Griggsby Doane gemunkelt worden, und dann wurde er vergessen. Er war sogar als uneingekleideter Missionar verlacht worden von liederlichen, nicht selten betrunkenen Weißen. Jetzt fiel es niemand mehr ein, über ihn zu lachen.
Es kamen Tage, wo in vielen der Provinzhauptstädte Chinas die Mandschu, die während beinahe dreier Jahrhunderte geherrscht hatten, zu Tode gehetzt wurden, Männer wie Frauen, gleich wilden Tieren. Blutige Köpfe zierten die Laternenpfähle, die nach westlichem Gebrauch an den geschotterten Straßen errichtet worden waren. Menschenschlächterei war, wie zu andern dramatischen Zeiten in der Geschichte des Orients, zum Zeitvertreib geworden. Die Paläste und die Häuser der Reichen wurden in Hunderten von Städten geplündert und niedergebrannt, und ein riesiger Geschäftsbetrieb kam auf in Seiden und Gemälden und Porzellanen und Kunstgegenständen, die plötzlich auf den Markt geworfen wurden … Hankau war von den kaiserlichen Truppen erobert worden und wurde von den Revolutionären wieder rückerobert als eine geplünderte und niedergebrannte Ruine. Durch die Macht des Militärs und mit allgemeiner Zustimmung war jetzt General Li Yuan-hung ›Präsident der Republik China‹ droben in Wu Tschang. Admiral Sah von der kaiserlichen Marine mußte die allgemeine Meuterei seiner ganzen Flotte erleben. Der große Yuan Schi-Kai, selbst ein geborener Chinese und kein Mandschu, war der Befehlshaber der kaiserlichen Truppen und verhandelte nach beiden Seiten, mit dem Thron, der sich nicht mehr zu helfen wußte, und mit den immer stärker werdenden Revolutionären. In Peking wurde geköpft, und kaiserliche Prinzen waren geflüchtet oder versteckten sich ängstlich hinter den Mauern der Gesandtschaften … In wenigen Wochen sollte Sun Yat Sen London verlassen und sich auf seine lange Reise gen Osten über Suez und Singapore begeben, jedoch ohne den unendlichen Goldschatz, auf den sich die Revolutionäre so zuversichtlich verlassen hatten. Schon vor seiner Ankunft sollte er in dem kürzlich eroberten Nanking zum Präsidenten des neuen China gewählt werden – von einer Nationalversammlung im Gehrock und mit abgeschnittenen Zöpfen … Was jetzt eine tragische Verwirrung war, wurde in den darauffolgenden Jahren zu einem tragischen Chaos, während sich das zahlreichste und schwerfälligste der Völker aus der Trägheit von Jahrhunderten herausarbeitete, dem zweifelhaften Lichte der modernen Zeit entgegen.
Aber durch dieses ganze Chaos hindurch verlor Griggsby Doane keinen Augenblick das Traumbild, dem er nachstrebte, aus den Augen. Unter den Trümmern des zerfallenden Kaiserreiches und unter der zerrissenen und blutenden Oberfläche des chinesischen Lebens lag eine Überlieferung, feiner und edler als irgendeine, die sich in dem rohen Westen entwickelt hatte – eine Mischung von Kunst im Leben und Leben in der Kunst; eine Feinheit der Seele, die diese über die häßliche Welt der Tatsachen hinaushob. Selbst die leichtverletzliche Vollkommenheit der chinesischen Etikette, die jedes Zusammentreffen von Mensch mit Mensch regelte und den nackten Gedanken in ein seidenes Gewand hüllte, war gleichsam ein feiner Lack über das knorrige Holz des Lebens … Amerika, das empfand er deutlich, lag trotz all seiner jungen Tugenden der Welt der Tatsachen anbetend zu Füßen. Ihm mußte das Evangelium von der Feinheit des Denkens, von der besinnlichen Freude am Schönen gepredigt werden … Jawohl, das chinesische Volk mußte von seinen Bedrückern, den Mandschu mit ihren Eunuchen und von Krankheit und Hungersnot befreit werden; allein dies war nicht die Hauptarbeit, die zu leisten war. Der angriffslustige habgierige Westen mit seinen Kaufleuten und Kriegsschiffen und Heeren war im Begriff, Chinas Seele zu morden, gerade indem es ihm einen Hieb von dem neuen materialistischen Glauben beibrachte. Es mußte eine gegenseitige Beeinflussung zustande kommen; genau so wie der Osten jetzt so stark den Westen zu fühlen bekam, so mußte dem Westen eine Empfindung für den Osten beigebracht werden. Es mußte ein gleichmäßiges Geben und Nehmen werden. Vielleicht half das, die Welt ins Gleichgewicht zu bringen … Das war es, was in das schwierige Leben Griggsby Doanes einen Sinn brachte. Der Osten hatte sich ihm ins Herz geschlichen; nun mußte er sich wieder zurückwenden zum Westen.
* * *
Drei Tage lang brannte Herr Doanes kurzer Brief mit Hui Feis Adresse in der Eingeborenenstadt Rocky Kane in der Tasche; aber früh am dritten Nachmittag ging er hin und kaufte sich die Kabine des zweiten Offiziers auf einem stark besetzten Dampfer, der am Ende der Woche nach San Franzisko abging … Am vierten Nachmittag ließ er eine Rickscha kommen und fuhr zu der Adresse, die ihm Herr Doane als die seine angegeben hatte.
Dieser war jedoch nicht zu Hause, denn er befand sich bereits in Doktor Wus revolutionärem Hauptquartier eingereiht. Rocky überlegte, ob er dorthin fahren sollte, ließ sich sogar die Adresse geben und fuhr einen Teil des Weges; dann besann er sich aber anders, kehrte ins Hotel zurück und schickte einen Boten zu Hui Fei mit der Anfrage:
»Ich reise am Samstag nach Hause. Können und wollen Sie mir noch eine kurze Unterredung gewähren?«
Die in der nächsten Stunde eintreffende Antwort forderte ihn auf, zu kommen. Er fand Hui Fei in einfacher westlicher Kleidung; ihr glänzendes schwarzes Haar war glatt gescheitelt – so wie sie ihm stets deutlich in der Erinnerung bleiben sollte. Ihr Benehmen sprach von stiller Trauer, doch vermochte sie zu lächeln. Wenn er sich's recht überlegte, so mußte sie gerade so und nicht anders sein; nicht gänzlich vernichtet durch das traurige Ereignis, nicht in einen Kummer versunken, der bei den Menschen des Westens so oft nicht mehr ist, als eine Art von theatralischer Selbstsucht … Sie saßen in einem mit Ziegeln gepflasterten Hof unter Dahliensträuchern. Mehr als je glich Rocky einem stolzen jungen Briten.
»Es ist sehr freundlich von Ihnen, mir diese Unterredung zu gewähren«, fing er an. »Ich hätte nicht abreisen können, ohne noch ein letztes Wort.«
Da sagte sie leise: »Natürlich nicht.«
»Sie sollen doch auch wissen, daß ich eingesehen habe« – er stockte; seine ernsthafte junge Mannheit hatte es noch nicht zu einer vollen Selbstbeherrschung gebracht.
Hui Fei unterbrach das Schweigen mit einer Frage nach dem Stand der Revolution. Es spricht zu seinen Gunsten, daß er, nur zu Anfang etwas stockend, eine klare Auskunft zu geben vermochte. Und als der Zwang in dieser Begegnung allmählich zu weichen begann, wurde er sich ihrer wohl gedämpften, aber dennoch tiefinnerlichen Anteilnahme an diesem Kampfe bewußt; wurde er sich auch bewußt, in welch hohem Maße ihr das gegeben war, was man Persönlichkeit nennt. Er mußte langsam sprechen und seine Worte sorgfältig wählen, ja sich seinen Weg tasten zwischen den auf ihn einstürmenden Gefühlen, die mehr als je aufgerührt wurden durch die Anmut ihrer Erscheinung. Er war hergekommen mit vielleicht mehr als nur einer Spur von jener westlichen Schauspielerei, jener starken Übertreibung der eigenen persönlichen Gefühle, als ein Mann, der freiwillig vom Schauplatz abtrat, damit die, die er liebte, mit einem andern glücklich sein könne! Vermischt mit diesem völlig unbewußten Anspruch auf teilnahmvolle Anerkennung war ein unausgesprochenes Verwundern darüber, daß sie, eine so ausgeprägte Persönlichkeit, tüchtig und mutvoll und ausdauernd, wie er sie kannte, sich damit abfand, fast nur so beiläufig als ein Teil eines Vermächtnisses jenem andern Mann übergeben zu werden. Es war unglaublich – es sei denn, daß sie jenen andern Mann liebte …
»Ich weiß noch nicht, was ich tun kann«, sagte sie sehr einfach und aufrichtig (Herr Doane war noch nicht zwischen ihnen erwähnt worden). »Natürlich bin ich eben doch eine Mandschu, und mein Blut spricht mit. Viele reden ja heute anders, das weiß ich wohl. Die Idealisten von heute – die Russen und sogar einige von unsern chinesischen Studenten – die jungen Leute, sie sagen, die Rasse bedeute nichts. Aber natürlich bedeutet sie etwas. Aber sehen Sie, ich bin eine Mandschu, und doch wünsche ich, daß die Mandschu aus China vertrieben werden, denn sie wollen China nicht wachsen lassen, und China muß wachsen oder sterben.«
Etwas träumerisch betrachtete er sie mit gesenktem Kopf und unter zusammengezogenen Brauen vorblinzelnd. »Denken Sie nur!« sagte er; »es ist natürlich sonderbar, wenn ich es sage, aber wenn ich mit Ihnen rede, komme ich mir zuweilen schrecklich jung vor.«
Sie lächelte schwach. »Sie sind auch noch – recht jung, Rocky.«
Er schloß die Augen und preßte die Lippen zusammen; sein Vorname, von ihren Lippen gesprochen, war für ihn eine gefährlich aufregende Musik. Gleich darauf fuhr er aber entschlossen zu reden fort:
»Zu Hause sind solche Dinge überhaupt niemals unter uns jungen Leuten besprochen worden. Das hätte nicht einmal für passend gegolten.«
»Ja, das weiß ich.«
»Ich fange an mich zu fragen, ob wir überhaupt – nun wirklich intelligent sind. Sie wissen ja – nichts als Autos und Pferde und Mädels und Bridge und ›Bombengeschäfte‹ in Wall Street.«
»Bombengeschäfte?« fragte sie mit großen Augen.
»Oh – mit einem Schlag viel Geld verdienen.«
»Das ist etwas, was mir oft Bedenken macht«, sagte sie sinnend. »Sie wissen, ich liebe Amerika. Ich bin so glücklich dort gewesen. Aber es ist wahr, ich glaube, das Geld ist Gott in Amerika. Das gefällt mir nicht so gut.«
Endlich – er konnte nicht anders – kam er doch wieder aufs Persönliche; aber es schimmerte ein mutiger Schein in seinen Augen. Er sagte: »Das eine muß ich Ihnen sagen – Hui. Sie erlauben doch, daß ich meine Liebe für Sie erwähne –«
Sie machte eine ganz kleine abwehrende Handbewegung.
»Bitte!« fuhr er fort. »Es geht nicht anders. Ich bin erfüllt von Ihnen. Und es hat mich verändert. Ich – ich gehe jetzt zurück … Jetzt will ich alles anders angreifen, das sollen Sie wissen, denn wenn ich Sie nicht hätte kennenlernen, wäre das niemals so gekommen, und wenn ich nicht – erfahren hätte, was es heißt, ein wunderbares Mädchen wie Sie zu lieben. Sie sollen wissen, wie groß die Veränderung ist, die Sie in mir bewirkt haben.«
»Rocky«, sagte sie leise; »wollen Sie mir einen Gefallen tun?« Er wartete … »Ich möchte, daß Sie ins College zurückkehren.«
»Dazu bin ich bereits entschlossen«, erwiderte er gefaßter. »Das ist das nächste, was ich zu tun habe.«
»Das freut mich«, sagte sie. »Und ich möchte gerne, daß Sie mir zuweilen schreiben.«
Er verneigte sich zustimmend. Dann erhob, selbst ihm unerwartet, seine innere Unruhe plötzlich das Haupt.
»Ich habe Herrn Doane zu sprechen versucht – das heißt, ich dachte, ich müßte ihm vielleicht erst Mitteilung machen, daß ich Sie besuchen wolle …«
Sie schien darüber etwas verwundert zu sein. »Ihm zuerst Mitteilung machen?« hauchte sie fragend.
»Ich – ich kann nicht viel sagen – aber ich bin überzeugt, Sie und er werden glücklich sein. Ich – oh, er ist ein großer Mann! Er hat jetzt natürlich entsetzlich viel zu tun – Sie wissen doch, was er leistet – im Hauptquartier von Wu Ting Fang?«
Sie nickte wie etwas müde und sagte: »Er hat mir sehr freundlich geschrieben – aber von sich nur gesagt, er sei sehr beschäftigt.«
»Im Hotel ist viel von ihm die Rede. Er scheint plötzlich hier eine Macht geworden zu sein.«
Ohne weiter ein Wort zu sagen, ging sie ins Haus und kam mit einem Papier in der Hand zurück.
»Ich verstehe nicht recht«, sagte sie. »Ein Mann von der Bank von Hongkong hat mir dies gebracht.«
Rocky las das Papier. Es war eine Empfangsbescheinigung für ein versiegeltes Paket mit Perlen, einige andere einzelne Juwelen und eine Summe Geldes.
»Oh – Herr Doane hat alles auf Ihren Namen der Bank übergeben«, sagte er, mit plötzlich aufsteigender neuer Hoffnung.
»Ja. Das wundert mich – ein wenig.«
Er drehte das Papier in der Hand um und um und mühte sich, klar zu denken … Sie saß regungslos da und starrte die Dahlien an.
Blind tastete er nach ihren Händen und preßte sie heiß, als er sie gefunden hatte.
»Hui« – flüsterte er tonlos – »sagen Sie mir – wenn es so ist – wenn Sie – wenn er … All diese Zeit über habe ich angenommen, Sie und er seien … Kommen Sie mit mir nach Amerika! Sie waren doch auch gern dort! Mein ganzes Leben will ich dem weihen, Sie glücklich zu machen. Ich will schuften für Sie. Ich will mein Leben zu dem machen, was Sie wünschen. Lassen Sie es uns doch einmal zusammen versuchen …«
Schweigend hörte sie ihm zu, während er dies und noch viel mehr sagte, und ließ ihre Hände in den seinen. Endlich, als seine Erregung sich ein wenig zu legen schien, sagte sie sanft:
»Rocky, hören Sie, was ich Ihnen sagen will. Sie haben gesagt, ich mache, daß Sie sich jung vorkommen. Wissen Sie, warum? Sehen Sie denn nicht, daß ich ein altes Mädchen bin?«
»Aber das ist doch Unsinn! Sie –« Seine Blicke hingen an ihrer weichen Haut und an der vollkommenen Rundung ihrer Wangen.
»Nein, hören Sie! Zuerst sagen Sie mir, wie alt Sie sind.«
Rocky mußte erst seine ganze Würde zusammennehmen, ehe er antworten konnte. »Ich war einundzwanzig im Sommer.«
»Sehr schön. Und ich war fünfundzwanzig im Frühling.«
»Aber –«
»Bitte! Ich weiß nicht, was Sie gedacht haben – wie jung Sie dachten, daß ich gewesen sei, als ich ins College ging. Aber, so ist es – ich bin ein altes Mädchen. Ich habe Sie jetzt sehr lieb, und ich möchte, daß wir Freunde bleiben. Aber wir könnten zusammen nicht glücklich sein. Sehen Sie das nicht ein, Rocky? Wenn etwas an mir ist, das Sie erregt, so ist das sehr wunderbar. Aber das ist nicht dasselbe wie eine Heirat. Heirat ist ganz anders, da muß man so viel gemeinsam haben; wenn ein Mann und eine Frau miteinander leben und arbeiten sollen, dann müssen sie gemeinsam denken und hoffen und …«
Ihre Stimme erstarb, und wieder schaute sie trauervoll die Dahlien an. Als er ihre Hände losließ, blieben sie schlaff in ihrem Schoße liegen.
Mit der größten Anstrengung seiner Willenskraft wünschte er ihr alles Glück, versprach zu schreiben und ging.
* * *
Das war am Donnerstag. Rocky ging in fieberhafter Eile von der Eingeborenenstadt nach der europäischen Niederlassung, die so seltsam nicht-chinesisch war. Hier irrte er herum, mehrere Stunden, die ihm in seinem späteren Leben als die dunkelsten seiner Jugendjahre erschienen. Von irgendeiner Ausschweifung konnte jetzt keine Rede mehr sein; er wußte mit der Entschiedenheit der Kanes, daß er sich für immer sowohl von dem krankhaften Vergessen in Alkohol und Opium, wie von dem ungesunden, wenn auch aufregenden Weiberverkehr abgewandt hatte. Allein seine bitteren Gefühle konnte er nicht sofort überwinden; sie waren noch mächtig genug in ihm, seine Vernunft zu umwölken. Der einzige Beweis seines Sieges über sich selbst, dessen er sich bewußt war, lag in der Tatsache, daß er sich beinahe objektiv betrachten konnte und daß er zu kämpfen vermochte.
Zwischen sieben und acht Uhr war er wieder im Hotel, aber er konnte nichts essen. Er schloß sich in sein Zimmer ein und lief dort eine Stunde lang auf und ab, fühlte sich dann aber so einsam und verlassen und war beinahe ein wenig bange vor sich selbst, so daß er hinunterging in den geräumigen Vorsaal und sich in eine Ecke hinter eine Palme setzte. Er starrte in eine Zeitung und horchte mit überreizten Nerven auf das Geschwätz und Gelächter der nur mit sich selbst beschäftigten Touristen und das eigentümliche, laute und dreiste Wesen der Kaufleute von jenseits des Stillen Ozeans. Jetzt klang ihm das in den Ohren, wie es Doane und auch Hui Fei in den Ohren geklungen hätte … ärgerlich und abstoßend.
Ein schlankes, reichgekleidetes Mädchen mit einem Pelz um die Schultern und einem reizenden Hütchen auf dem Kopf wand sich zwischen den enggestellten Stühlen und Tischen und den schwatzenden Gruppen durch. Er blickte auf und schaute dann gespannt. Es war Dixie Carmichael. Sie stand vor ihm mit ihrem eisigen, leicht spöttischen Lächeln. Er stand auf.
»Guten Abend!« sagte sie.
Er vermochte nur mit einer Kopfneigung und einem gezwungenen Lächeln zu grüßen. Er schien sich in Träume verloren zu haben, und hier auf einmal berührte er sich mit dem wirklichen Leben.
»Ich gehe nach Singapore«, sagte sie, »zu Bekannten. Sieht man Sie dort?«
»Oh«, murmelte er. »Wirklich?« Sie machte den Eindruck einer sehr reichen Dame und sah überraschend hübsch aus, ohne irgendein Zeichen, daß sie jemals Gefahren oder auch nur Sorgen gekannt hatte.
»Bleiben Sie hier?« fragte sie.
»Nein. Ich fahre Samstag nach Hause.«
»Nun – recht glückliche Reise!« Mit einem letzten, beinahe triumphierenden Blick segelte sie davon, und er wußte nun, daß er ihr mit den Perlen durchaus nicht alles abgenommen hatte. Und augenscheinlich war es ihr Wunsch, daß er dies wisse. Er sah noch, wie ihre nagelneuen Lederkoffer hinausgeschafft wurden.
Rocky nahm seinen Platz wieder ein, vermochte aber vor wachsender Nervosität nicht ruhig sitzenzubleiben; stand wieder auf und trieb sich ziellos herum.
Ein lächelnder kleiner Japaner tauchte auf, der mit einer großen Menge Gepäck, das hereingeschafft werden sollte, sehr geschäftig tat. Er kam Rocky bekannt vor, ja der Japaner zog sogar den Hut und kam mit ausgestreckter Hand auf den jungen Mann zu. Es war Kato. Und dann kam Dawley Kane herein, groß, gelassen, gut gekleidet, sein beinahe weißer Schnurrbart frisch geschnitten.
Zu seinem blassen Sohn sagte Dawley Kane nichts weiter als: »Well?« – als er ihm die Hand gab und schrieb sich dann ins Fremdenbuch ein. Nachdem dies geschehen war, fragte er: »Schon zu Abend gespeist?«
Rocky schüttelte den Kopf. »Ich will nichts«, sagte er.
Dawley Kane betrachtete seinen Sohn mit seinen kühl blickenden scharfen Augen. »Was ist los? Nicht wohl?«
»Mir geht's ganz gut.«
»Setze dich zu mir, ja?« Und, sich zu dem Japaner wendend, sagte er: »Sie entschuldigen mich, Kato. Ich speise mit meinem Sohn. Und bitte, sagen Sie Herrn Braker … Nur einen Augenblick, Rocky, bis ich mir die Hände gewaschen habe.«
Und Rocky saß düster diesem gewaltigen, selbstsicheren Manne gegenüber – der sich natürlich sofort vollständig mit ihm auskannte; das empfand Rocky als sehr entmutigend und fühlte sich schwerer bedrückt als jemals zuvor. Sein Vater war so gewaltig und brachte die alles umhüllende Atmosphäre der mächtigen, so unendlich erfolgreichen weißen Welt, zu der sie beide gehörten, mit sich – eine Welt, die schwächeren Völkern das Herz im Leibe zerdrückte, während sie den Mund vollnahm mit moralischen Reden. Das war – in der Vollendung – britisch, und weniger vollendet, roher und unklarer: amerikanisch.
»Wird allmählich ziemlich interessant droben am Fluß«, bemerkte Dawley Kane über seiner Suppe. »Wie bist du 'runtergekommen?«
»Auf einer Dschunke.«
»Was vorgefallen?«
»Oh – einiges.«
»Schon lange hier?«
»Paar Tage. Ich fahre am Samstag.«
»Fahren?« Herr Kane zog die Augenbrauen in die Höhe. »Wohin?«
»Heim.«
»Ohne mich zu fragen?«
»Oh – laß doch, Vater! Ich gehe zurück ins College.«
»So!« Herr Kane las den Speisezettel durch, bestellte sich seinen Braten und suchte einen roten Wein aus, den er befahl, fünf Minuten lang neben den Herd zu stellen. »Es ist ganz abscheulich, Burgunder warm zu stellen«, sagte er, als der Kellner gegangen war. »Aber es ist die einzige Möglichkeit, ihn in der richtigen Temperatur zu bekommen. Das habe ich entdeckt, als wir das letztemal hier waren … Ich merke, mein Junge, daß du in der Sache mit dem kleinen gelben Mädchen wieder zu Verstand gekommen bist.«
Rocky zuckte äußerlich nicht; er saß nur ganz still; aber sein Inneres war in lebhafter Bewegung. Und er wußte – in blitzartiger Erkenntnis – daß keine Erklärung, die er hätte geben können, überhaupt begriffen worden wäre. Man kann sich nicht – jetzt noch nicht – über den Abgrund, der zwischen den beiden Welten gähnt, verständlich machen. Es war dies sein erster verständnisvoller Blick auf die ungeheuerliche Tatsache, die Doane so lange schon und so deutlich erkannt und empfunden hatte. Darum neigte er, als sein Vater ihn scharf ansah, nur den Kopf und sagte mit belegter Stimme:
»Ich habe im Sinn, das College jetzt fertigzumachen. Das ist offenbar das erste, was ich zu tun habe.«
Diese neue Haltung trug ihm später am Abend das Vertrauen seines Vaters ein.
»Es ist dies eine interessante Reise für mich gewesen, Rocky«, sagte Dawley Kane, nachdenklich seine Manila-Zigarre rauchend. »Sie hat mich befähigt, wenigstens einigermaßen die schwierige internationale Sachlage hier draußen zu begreifen. Ich konnte nie verstehen, warum unsere Agenten nicht mehr erreichten. Der Fehler ist natürlich der, daß schon jeder Quadratfuß von China von den europäischen Nationen verteilt ist. Wenn du das nicht glaubst, so lasse dir nur von der chinesischen Regierung eine Konzession für irgendein großes Unternehmen geben – Wasserkräfte, Bergbau, Eisenbahnen oder ein industrielles Monopol – dies letztere ist nicht ganz so schlimm – und dann versuche, es durchzuführen. Dann wirst du rasch genug herausfinden, wem China eigentlich gehört, und diese seine Besitzer werden dich nicht einmal anfangen lassen. Großbritannien beherrscht dieses große Reich des Yangtsekiang so vollständig, wie es Indien beherrscht. Frankreich gehört der Süden – Rußland der Nordwesten und der Norden – auch Japan dringt von Korea und der unteren Mandschurei her in den Nordwesten vor; dort werden die Japaner schon eines Tages die Russen hinausdrängen, und sie sind auch sehr geschickt und geduldig dabei, in die britischen Regionen einzudringen. In Kiautschau bekommen sie es auch mit den Deutschen zu tun. Aber eines Tages – entweder wenn China gänzlich zerfällt oder, falls sich die europäischen Nationen vollständig in die Haare fallen (was sie unzweifelhaft einmal tun), wird sich herausstellen, daß sich Japan die besten und größten Brocken gesichert hat. Eines schönen Tages werden wir allerdings wohl mit Japan um die Herrschaft im Stillen Ozean zu kämpfen haben, aber einstweilen ist auf diese kleinen Leutchen am sichersten zu wetten. Sie kennen den Osten, wie wir alle nicht, sie sind klug, und ihre Diplomaten sind nicht eingeengt durch die halbwissende öffentliche Meinung, die uns im Westen überall ein Bein stellt – Gefühlsduselei und dergleichen – und sie haben ihre Presse viel besser in der Hand als wir die unsrige. Sie haben alles, diese Japaner, nur kein Geld. Und wir haben das Geld. Es ist nur eine Frage der Sicherheiten, und man muß ihnen genau auf die Finger sehen. Ich habe mich entschlossen, es so zu machen … Wenn man die tatsächlichen Verhältnisse hier draußen überschaut, macht unsere amerikanische Diplomatie einen recht naiven Eindruck. Wir gebrauchen große Worte – von der offenen Tür und dergleichen – während alle andern sich hier hereinsetzen, Geschäfte machen und Geld verdienen.«
Später, in Dawley Kanes prächtigen Gemächern, die auf die parkähnliche Straße gingen, wo die bunten Laternen der Rickschas unter den Bäumen freundlich leuchteten, legte der Vater liebevoll eine Hand auf des jungen Mannes Schulter und sagte:
»Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich du mich gemacht hast, Rocky. Es sieht wirklich aus, als ob du dich gefaßt hättest. Hüte dich nur davor, allzuviel über das nachzudenken, was du durchgemacht hast. Reue führt zu nichts, und ein wenig schlimme Erfahrung tut einem jungen Mann nur wohl. Wenn du dein Gleichgewicht wiedererlangt hast, wirst du das Leben nur um so fester anpacken … Kehre nur ins College zurück, mache deine Examina, und wenn du darauf ein paar Jahre im New Yorker Geschäft gearbeitet hast, nehme ich dich mit hier heraus. Dann machen wir die Sache im großen. Und wir brauchen tüchtige Menschen … Die Menschen – das ist tatsächlich der Kern der Frage. Ich hatte meine Augen auf diesen Doane geworfen, aber er hat sich schließlich auch nur als einer von den Gefühlsseligen ausgewiesen.«
Es war die vollständige Hoffnungslosigkeit, die Rocky nach einem respektvollen ›Gute Nacht!‹ aus dem Zimmer trieb und in das Hauptquartier der Revolutionäre. Er wußte, daß Herr Doane dort fast die ganze Nacht hindurch arbeitete und sich nur gelegentlich kurze Zeit zum Schlafen niederlegte.